Mondscheinlied

[153] Der Vollmond schwebt in Osten;

Am alten Geisterthurm[153]

Flimmt bläulich im bemoosten

Gestein der Feuerwurm.

Der Linde schöner Sylphe

Streift scheu in Lunens Glanz,

Im dunklen Uferschilfe

Webt leichter Irrwischtanz.


Die Kirchenfenster schimmern;

In Silber wallt das Korn;

Bewegte Sternchen flimmern

Auf Teich und Wiesenborn;

Im Lichte wehn die Ranken

Der öden Felsenkluft;

Den Berg, wo Tannen wanken,

Umschleiert weisser Duft.


Wie schön der Mond die Wellen

Des Erlenbachs besäumt,

Der hier durch Binsenstellen,

Dort unter Blumen schäumt,

Als lodernde Kaskade

Des Dorfes Mühle treibt,

Und wild vom lauten Rade

In Silberfunken stäubt.


Die Pappelweide zittert,

Nun dämmernd, nun umblinkt,

Wo von Jesmin umgittert

Die Sommerlaube winkt,

Und mit geflochtnem Pförtchen,

Das auf den Weiher sieht,

Ein ländlich stilles Gärtchen

Die Fischerhütt’ umblüht.
[154]

Durch Fichten senkt der Schimmer,

So bleich und schauerlich,

Auf die bebüschten Trümmer

Der Wasserleitung sich,

Bestralt die düstern Eiben

Der kleinen Meierei,

Und hellt die bunten Scheiben

Der gothischen Abtei.


Wie sanft verschmilzt der blassen

Beleuchtung Zauberschein

Die ungeheuren Massen

Gezackter Felsenreih'n,

Dort wo, in milder Helle,

Von Immergrün umwebt,

Die Eremitenzelle

An grauer Klippe schwebt.


Der Elfen Heere schweifen

Durch Feld und Wiesenplan,

Es deuten Silberstreifen

Dem Schäfer ihre Bahn;

Er weiß am Purpurkreise,

Vom Wollenvieh verschmäht,

In welchem Blumengleise

Ihr Abendreih'n sich dreht.


Bald bergen, bald entfalten,

In lieblicher Magie,

Sich wechselnd die Gestalten

Der regen Phantasie.

Die zarten Blüten keimen,

O Mond! an deinem Licht,

Die sie, in Feenträumen,

Um unsre Schläfe flicht.

Quelle:
Friedrich Matthisson: Gedichte, Band 1, Tübingen 1912, S. 153-155.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Haller, Albrecht von

Versuch Schweizerischer Gedichte

Versuch Schweizerischer Gedichte

»Zwar der Weise wählt nicht sein Geschicke; Doch er wendet Elend selbst zum Glücke. Fällt der Himmel, er kann Weise decken, Aber nicht schrecken.« Aus »Die Tugend« von Albrecht von Haller

130 Seiten, 7.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon