Der Rheinborn

[62] Ich bin den Rhein hinauf gezogen

Durch manches schatt'ge Felsentor,

Entlang die blauen, frischen Wogen

Zu seinem hohen Quell empor.


Ich glaubte, daß der Rhein entspringe,

So liedervoll, so weinumlaubt,

Aus eines Sees lichtem Ringe,

Doch fand ich nicht, was ich geglaubt.


Indem ich durch die Matten irrte

Nach solchen Bornes Freudeschein,

Wies schweigend der befragte Hirte

Empor mich zum Granitgestein.


Ich klomm und klomm auf schroffen Stiegen,

Verwognen Pfaden, öd und wild,

Und sah den Born im Dunkel liegen

Wie einen erzgegoßnen Schild.


Fernab von Herdgeläut und Matten

Lag er in eine Schlucht versenkt,

Bedeckt von schweren Riesenschatten,

Aus Eis und ew'gem Schnee getränkt –


Ein Sturz! Ein Schlag! Und aus den Tiefen

Und aus den Wänden brach es los:

Heerwagen rollten! Stimmen riefen

Befehle durch ein Schlachtgetos!


Quelle:
Conrad Ferdinand Meyer: Sämtliche Werke in zwei Bänden. Band 2, München 1968, S. 62-63.
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