Der Nachtwandler

[63] Sanfter Mondsegen über den Landen.

Schlafstumm Berge, Wälder, Tale.

In den Hütten erstorben die Herde;

an den Herden eingenickte Großmütter,

zu deren Knieen offne Enkel-Mäulerchen

unter verhängten Äuglein atmen.

Auf Daunen und Strohsack

schnarchendes Laster, schnarchende Tugend.

Wachend allein: Diebe, Dichter,

Wächter der Nacht, und auf Gassen, in Gärten

und in verschwiegenen Kammern

lispelnde Liebe.


Sanfter Mond! du segnest,

weil du nichts andres kannst.

Aber am Herzen

zehren dir Neid und Groll,

weil die Menschen dich also mißachten,

daß sie zu Bett gehn, wenn du kommst.

Ärgerlich ziehn sie die Vorhänge zu:

und du stehst draußen

und – segnest milde deine Verächter.


Sanfter Mond! manchmal auch

lugen Herrschergelüste gefährlich vor

unter deiner Demut.
[64]

Dann rufst du in verträumte Gehirne;

»Auf! auf!

Ich bin die Sonne!

Kommt: es ist Tag!«

Und der blöden Schläfer

glaubt es dir mancher

und steigt ernsthaft

aus seinen Kissen

und geht gravitätisch

über die Dächer.

Scheel sehen die Kater ihn an.

Er aber wandelt und klettert,

als hätt ihm sein Arzt

die Alpen verschrieben.


Wie? Freundchen!

Hätt ich dich heut gar ertappt?

Mir dünkt, da unten

käm solch ein Wandler!

Armer Fremdling,

– besser: Hemdling –,

wer bist du?

Welchem Bette entflohst du?

Opferlamm

mondlicher Lüsternheit,

meilenweit mußt du gewandert sein!
[65]

Redet er nicht im Schlaf? horch!

»Wer ich bin? ...

Eine lebendige Litfaß-Säule

Etikettiert von oben bis unten: –

Staatsbürger,

Gemeindemitglied,

Protestant,

Hausbesitzer,

Ehemann,

Familienvater,

Vereinsvorstand,

Reserveleutnant,

Agrarier,

Christlicher Germane,

Antisemit,

Deutschbündler,

Sozialmonarchist,

Bimetallist,

Wagnerianer,

Antinaturalist,

Spiritist,

Kneippianer,

Temperenzler –«


»Wie!« ruf ich,

»und nie Mensch?«
[66]

Aber da reißt

der Schläfer die Augen auf,

und – »Mensch?«

von verzerrten Lippen heulend,

stürzt er,

fehltretend,

die Felswand hinab,

von Zacke zu Zacke

im Bogen geschleudert.


Ich aber,

ich »Mörder«,

muß unbändig lachen.

Ich kann nicht anders –

Gott helfe dem Armen!

Amen!

Quelle:
Christian Morgenstern: Sämtliche Dichtungen. Abteilung 1, Band 1, Basel 1971–1973, S. 63-67.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantische Geschichten II. Zehn Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Michael Holzinger hat für den zweiten Band eine weitere Sammlung von zehn romantischen Meistererzählungen zusammengestellt.

428 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon