Fünfter Tag.

[290] Als der Morgen gekommen war, bereitete sich Frau Oisille auf das geistige Frühstück vor und machte es so geschmackvoll, daß es Körper und Geist stärkte und die ganze Gesellschaft sehr aufmerksam war, so daß alle niemals eine Rede gehört zu haben glaubten, die ihnen so dienlich gewesen wäre. Als sie den letzten Glockenschlag hörten, gingen sie, mit Andacht die frommen Bemerkungen, die sie gehört hatten, zu überdenken. Als die Messe dann zu Ende und sie eine Weile spazieren gegangen waren, setzten sie sich zu Tisch und versprachen sich, den gegenwärtigen Tag eben so angenehm wie die vorhergehenden zu gestalten. Saffredant sagte, er wünschte, die Brücke bliebe noch einen Monat ungemacht wegen des Vergnügens, welches ihr Zusammensein gewähre. Der Abt aber ging sehr eifrig an die Wiederherstellung derselben; es war nämlich nicht gerade trostreich für ihn, so viele hochstehende Leute bei sich zu haben, weil wegen ihrer Gegenwart die sonst oft kommenden Pilger und Pilgerinnen nicht so eingehend und lange an den heiligen Orten verweilten. Als sie sich nun nach Tisch einige Zeit ausgeruht[291] hatten, gingen sie zu ihrem gewohnten Zeitvertreib über und fragten, nachdem sie alle Platz genommen hatten, Parlamente, wem sie das Wort gäbe. »Mir scheint«, sagte diese, »daß Saffredant recht gut diesen Tag beginnen könnte, denn er sieht nicht danach aus, als ob er uns würde Thränen vergießen lassen.« Saffredant erwiderte: »Ihr würdet nur sehr grausam sein, meine Damen, wenn Ihr nicht Mitleid mit dem Franziskaner, dessen Geschichte ich Euch erzählen werde, haben wolltet. Nach den Geschichten, die einige von uns bisher von diesen erzählt haben, könntet Ihr glauben, daß die darin besprochenen Fälle nur arme einfältige Frauen betrafen, an die sie sich, des Erfolges sicher, ohne Furcht heranmachten, deshalb gerade will ich Euch zeigen, daß ihre Verblendung ihnen alle Furcht und kluge Ueberlegung raubt, wie die in Flandern passirte Geschichte, die ich Euch erzählen will, beweist.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 290-292.
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