Vierter Tag.

[241] Frau Oisille war ihrer Gewohnheit gemäß viel früher aufgestanden als alle anderen, und während sie über ein Buch der heiligen Schrift nachdachte, erwartete sie die Gesellschaft, welche nach und nach zusammenkam. Die Langschläfer entschuldigten sich mit dem Worte Gottes: »Ich habe eine Frau, und da dauert es natürlich immer länger.« Aus diesem Grunde kamen Hircan und Parlamente erst, als die Predigt schon begonnen hatte; Oisille verstand es aber sehr gut, diejenigen Stellen aus der heiligen Schrift herauszusuchen, wo Leute getadelt werden, die im Anhören von Gottes Wort nachlässig sind. Sie las nicht nur den Text, sondern knüpfte noch so viel gute und fromme Ermahnungen daran, daß man sich unmöglich beim Zuhören langweilen konnte. Als die Lektion beendet war, sagte Parlamente zu ihr: »Als ich hierher kam, war ich traurig über mein Zuspätkommen, da aber mein Fehler Euch Gelegenheit gegeben hat, mir so gerechtfertigte Vorwürfe zu machen, hat meine Faulheit nur doppelten Nutzen gebracht; denn erstens einmal hatte mein Körper längere Ruhe, und dann war es für meinen Geist eine Erholung, Euch so gut sprechen zu hören.«[242] Oisille erwiderte: »Zur Sühne gehen wir nun die Messe hören und Gott bitten, uns den Willen und die Mittel zu geben, seine Befehle zu befolgen; im Uebrigen geschehe sein Wille.« Nach diesen Worten fanden sie sich in der Kirche ein, wo sie andächtig die Messe hörten und sich dann zu Tisch setzten, wo Hircan nicht unterließ, sich über die Faulheit seiner Frau noch lustig zu machen. Nach dem Essen gingen sie sich ausruhen und dachten an ihre Erzählungen; als dann die Stunde gekommen war, fanden sie sich an dem gewohnten Orte ein, wo Oisille Hircan fragte, wem er das Wort gebe, um an diesem Tage zu beginnen. Dieser erwiderte: »Wenn meine Frau nicht gestern die Erste gewesen wäre, würde ich ihr das Wort geben; denn obwohl ich immer genau gewußt habe, daß sie mich mehr als irgend einen Mann sonst geliebt hat, so hat sie mir doch heute Morgen gezeigt, daß sie mich sogar mehr liebt als Gott und sein Wort, indem sie Eure Predigt versäumte, um mir Gesellschaft zu leisten; ich hätte ihr also diese Ehre erwiesen. Da ich also nun das Wort nicht der verständigsten Frau dieser Gesellschaft geben kann, will ich es dem verständigsten unter uns Männern geben, und das ist Guebron; ich bitte ihn aber, nicht etwa die Mönche zu verschonen.« Guebron antwortete: »Das brauchst du mich nicht zu bitten, ich hatte es mir schon allein vorgenommen. Ich hatte nämlich vor nicht langer Zeit Herrn von Saint-Vincent eine Geschichte erzählen hören; er war damals Gesandter des Kaisers, und die Geschichte ist werth, daß sie nicht vergessen wird.«

Quelle:
Der Heptameron. Erzählungen der Königin von Navarra. Leipzig [o.J.], S. 241-243.
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