6. Am Sontage nach dem Christtage

[206] Galat. 4.


Auß den 74. Psalm

Warumb verstößt du uns, o Herr, so gar.


So lange Zeit ein Erbe bleibt ein Kind,

So lange Zeit er geht auch Knechten gleiche,

Muß unterthan, biß er die Zeit erreiche,

Den Pflegern seyn, die ihm verordnet sind.


Das rechte Ziel, in dem er Herr seyn kan

Und seiner selbst, das kömpt nicht vor den Jahren;

So bleiben wir, in dem wir Kinder waren,

Den Satzungen ingleichen unterthan.


Als aber ward die Zeit herumb gebracht,

Hat Gott gesandt selbst seinen Sohn auff Erden,

Ihn gleich wie uns geboren lassen werden

Und dem Gesetz auch unterthan gemacht.


Jetzt sind wir gantz von dem Gesetze frey

Dieweil sein Sohn es hat auff sich genommen

Nach dem er ist in unser Mittel kommen

Und will, daß nun die Erbschafft unser sey.


So höret denn, wißt, daß ihr Kinder seyd,

Gott lässet euch die Erbschafft nun gewinnen

Und schickt den Geist deß Sohnes euren Sinnen,

Der jetzt daselbst o Abba, Vatter, schreyt.


Nun bleibet ihr nicht Knechte nach der Zeit,

Seyd Kinder nur, so daß ihr Gottes Erben,

Durch Gottes Sohn, der einig kunt' erwerben

Die Kinderschafft, den rechten Heyland, seyd.

Quelle:
Martin Opitz: Weltliche und geistliche Dichtung, Berlin und Stuttgart [1889], S. 206.
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