II. Die Isolierten oder Zurückgezogenen

[204] Das offenbare Gegenteil von den Forcierten sind diese Isolierten – sie wirken nur da, wo sie sicher sind, nicht bemerkt zu werden – daß sie aus ihrer Zurückgezogenheit nicht herausgehen, davon tragen eben die Forcierten und Frivolen die Schuld, durch welche sie sich zurückgeschreckt und verletzt fühlen, deren Gemeinschaft sie um jeden Preis vermeiden wollen.

Unsere Zeit ist reich an edlen Frauen, deren Blicke wohl über den engen Kreis des Familien-Lebens hinausgehen, die aber nimmermehr auch ihre Schritte diesen folgen lassen möchten. Sie haben das Vorurteil wohl in der Idee, aber nicht in der Wirklichkeit überwunden – oder, wenn sie es selbst überwunden haben, so ist es doch in ihrer Umgebung, in ihrer Familie noch herrschend, und so akkomodieren sie sich, ihre Pflichten gegen das Allgemeine den Pflichten gegen das Besondere aufopfernd.

Wer kennte nicht diese mannigfaltigen hemmenden Familien-Verhältnisse der Gegenwart, welche auch die Frauen von entschiednen demokratischen Grundsätzen zur Isolierung zwingen! selbst demokratische Väter und Gatten wollen oft nicht, daß ihre Frauen an einem mehr öffentlich tätigen demokratischen Leben sich beteiligen, und zwar teils aus unvertilgbarer Philisterhaftigkeit, welche nicht von dem Grundsatz abgeht, jeden öffentlichen Schritt einer Frau unweiblich zu finden, und nicht will, daß man von einer Frau selbständig, d.h. anders spreche als von der Frau ihres Mannes, dessen Namen sie trägt – teils auch um ihren Frauen und Töchtern die Möglichkeit zu ersparen, mit jenen Forcierten und Frivolen in Berührung zu kommen, und dadurch, wie man zu sagen pflegt, in eine Klasse geworfen zu werden, – teils aber auch aus Ängstlichkeit und Unbehagen, schon bei den eignen schweren Verantwortlichkeiten eines öffentlichen Wirkens noch mit für die gleichen Schritte der Frauen und Töchter verantwortlich gemacht zu werden. Freilich sind auch die letzten Gründe noch ein gut Teil männlicher Philisterhaftigkeit – aber wir dürfen für dieselbe weniger die Männer an und für sich verantwortlich machen als vielmehr das Herkommen und die noch zu Recht bestehenden Institutionen, welche in der Tat Frauen und Töchter zu »Hörigen« der Gatten und Väter gemacht haben, daß diese die Schritte jener mit vertreten müssen. Haben nun schon Demokraten solche Bedenklichkeiten, denen die Frauen aus freiem Willen nachgeben, aus Klugheit, um den häuslichen Frieden zu erhalten, oder aus Liebe, die sich gern den männlichen Wünschen fügt und sich schweigend resigniert, so arten diese Bedenklichkeiten bei Reaktionären und Konservativen zur Tyrannei aus. Wer dem Absolutismus huldigt, wird auf immer in seinem Haus den Alleinherrscher spielen, und wem das Konservative Ideal ist, der wird auch gern in der eigenen Familie entweder die alten patriarchalischen Zustände aufrechterhalten oder es bis zum konstitutionellen Schein-Leben bringen, in dem die Frau zwar nein sagen, aber nicht danach handeln darf – das absolute Veto hat der Mann sich[204] vorbehalten. Es ist immer dieselbe Tyrannei, wenn auch unter verschiedenen Formen.

So wird ein großer Teil der Demokratinnen zur Isolierung von den Verhältnissen gezwungen. Wie oft wird uns nicht die Antwort, wenn wir Frauen oder Töchter zu einem Frauen-Verein, einer demokratischen Zusammenkunft oder zur Unterschrift eines öffentlichen Schreibens auffordern: »Mein Mann will es nicht – es tut mir leid«, – oder von den Töchtern, auch wenn dieselben längst mündig und über die Zeit der raschen Jugend hinaus sind: »Mein Vater gestattet dies nicht – ich darf nicht, so gern ich möchte.«

Aber es gibt auch freiwillig Isolierte außer diesen gezwungenen – denn Gott sei Dank! nicht das ganze Geschlecht lebt in diesem Joch. Es gibt Gatten und Väter, welche die Menschenwürde, d.i. das Recht der freien Selbst-Bestimmung, auch in ihren Gattinnen und Töchtern ehren – und noch viel mehr gibt es Unabhängige, Witwen und verwaiste Mädchen, die selbständig handelnd im Leben stehen – aber auch unter diesen wie viele Isolierungen! Wie viele Frauen, die bei einem scharfen Verstand und einem von wahrer Menschenliebe erfüllten Herzen doch so scheu in ihre Zelle sich zurückziehen, sich selbst so abhängig machen, nicht allein von den Urteilen, sondern auch von den Vorurteilen der Welt. – Einige beugen sich diesen Vorurteilen aus Interesse – Frauen, die von einem Geschäft leben müssen, vielleicht durch einen Handel das Brot ihrer Kinder verdienen, oder Mädchen, die als Lehrerinnen, Schneiderinnen usw. ihren Erwerb suchen müssen – sehen sich oft in die traurige Notwendigkeit versetzt, entweder ihre ganze Existenz, und oft ist es ja nicht die eigene allein, oder ihre Gesinnung – und wenn nicht diese selbst, so doch die öffentliche Betätigung denselben aufzuopfern, denn diese Frauen und Mädchen sind allein von den höhern Ständen abhängig – und es ist bekannt, wie besonders bei den Damen der Aristokratie und reichen Bourgeoisie der Fanatismus so weit geht – daß sie allen Verkehr mit Demokratinnen abbrechen und namentlich grundsätzlich denselben nichts zu verdienen geben. So zwingt die Sorge um den Lebensunterhalt viele zur Isolierung, zum Verhüllen ihrer wirklichen Ansichten. Doch auch die ganz Unabhängigen beugen sich aus freiem Willen dem Vorurteil und verharren scheu in einer selbstgewählten Zurückgezogenheit. Wir tadeln dies, aber wir finden dies sehr erklärlich, durch die Erziehung, welche bis jetzt das weibliche Geschlecht genossen, durch die Stellung, welche die Frauen in der jetzigen bürgerlichen Gesellschaft einnehmen, und durch die abschreckenden Beispiele, welche einige Frauen durch die Art ihres öffentlichen Auftretens gegeben haben.

Die Erziehung, welche bis jetzt – mit wenigen Ausnahmen – das weibliche Geschlecht genossen, lief darauf hinaus, die Frauen unselbständig zu erhalten und ihr eigenes Urteil von den Urteilen anderer abhängig zu machen. Die Redensart von der »weiblichen Bestimmung«, welcher man die allerengsten Grenzen zog und dabei von der Ansicht auszugehen schien, daß das Weib nur einen Körper, allenfalls ein Herz, aber doch ganz gewiß keinen Geist habe – ist unter dem weiblichen Geschlecht selbst jetzt noch viel mehr gang und gäbe. [...]

Nur die verschwiegenen vier Wände ihres traulichen Stübchens wagen sie zu den Zeugen ihrer erweiterten Interessen zu machen, und nur bei verschlossenen Türen flüstern sie irgendeiner kühneren Freundin zu: »Nimm diese Arbeit, dies Geschmeide oder diesen ersparten Thaler und sieh, ob Du damit einen unserer unglücklichen Freiheitskämpfer oder seine Frau, seine Kinder[205] unterstützen kannst – aber daß es nur niemand erfahre – Du wagst meine Freundschaft, wenn Dir mein Name entschlüpft« usw. Oder eine solche stille Demokratin seufzt gegen die Vertraute, die ihr von der Lebendigkeit einer Vereinssitzung, einer Assisen-Verhandlung usw. erzählt: »Ich möchte es für mein Leben gern mit gehört haben – aber –«, denn obwohl keines der früher angedeuteten Verhältnisse mit seinen tausend Rücksichten sie abhielte, so kann sie sich doch nicht entschließen hinzugehen – sie kann einmal ihre Scheu und Ängstlichkeit vor jedem Schritt aus dem Hause hinaus nicht überwinden, obwohl sie's der Freundin gar nicht verargt, die ihn tut, aber »ich kann es nicht« – ist ihre gewöhnliche Ausrede, und damit hat jeder Streit ein Ende. Das ist die Frucht verkehrter philisterhafter Erziehung – und von allen Vorurteilen sind in einem Frauen-Herzen diejenigen, die sie von ihren Eltern empfangen haben, am schwersten zu vernichten. Sie vergessen, daß die Pietät da aufhört, eine Tugend zu sein, wo sie sich an eine zufällige Form bindet, anstatt den geistigen Inhalt zu erfassen. Es heißt sich den Gesetzen des Weltgeistes widersetzen, der von Generation zu Generation auf größeren Fortschritt drängt, wenn es die Kinder in allen Stücken halten wollten, wie es zur Väter Zeit gewesen.

Allerdings sind viele für den letztern Grundsatz, und darum ist auch die bürgerliche Stellung der Frauen noch eine solche, daß in der Tat einiger Mut dazu gehört, selbständig aufzutreten. Eine jede Frau, die dies tut, ist mehr oder weniger den verschiedenartigsten Mißdeutungen ausgesetzt, und der Spott der Böswilligen heftet sich an ihre Fersen, es ist dies ein, namentlich in diesen Blättern schon oft behandeltes Thema, als daß ich nötig haben sollte, hier noch näher darauf einzugehen. [...]

Um deutlich zu sein, erinnere ich an ein Beispiel aus meinem Leben. Es mochte etwa der dritte sächsische Landtag sein, als einige Frauen mit auf die Galerien gingen. Über die Frage, ob dieselben auch den Frauen zugänglich seien, war in der Kammer debattiert worden, aber ohne dieselbe zu erledigen – als nun die Damen gerade kamen, wagte niemand, sie abzuweisen – ich hörte davon und machte auch mit von diesem Rechte Gebrauch. Die folgenden Landtage fanden eine besondere Damen-Galerie eingerichtet – aber sie war immer sehr leer, und es hieß auch, die Frauen, die sie besuchten, wollten Aufsehen machen, teils in der trivialsten Bedeutung, um gesehen zu werden, teils, um für besonders gelehrt, emanzipiert und was weiß ich alles zu gelten. Die wenigen, ihres guten Rechtes und ihrer reinen Absicht sich bewußt, ließen sich aber nicht abschrecken, und so folgte allmählich eine der andern nach. Jetzt sind die Damen-Galerien überfüllt, und man ist, Gott sei Dank! endlich so weit gekommen, die Pedanterie jener früheren Jahre (es sind aber kaum 4–6 seitdem vergangen) höchst lächerlich und kindisch zu finden, was aber von vielen zugleich geschieht, kann nicht in solcher Weise verdächtigt werden. Die in Masse isolierten Frauen brauchten daher nur in Masse ihre Isolierung aufzugeben, so hätten sie nicht einmal ein Wort der Verwunderung, geschweige denn jene lächerlichen Beschuldigungen zu befürchten. Wo die Ausnahmen sich verhundertfachen, werden sie gern schnell zur Regel, die sich jedermann gefallen läßt, auch wenn er früher über die Ausnahmen Zeter schrie.

Es ist unser lebhaftester Wunsch, diese Isolierten zum Aufgeben ihrer exklusiven Stellung zu vermögen, diejenigen aber, die von den Verhältnissen darin zurückgehalten werden, sollen uns immer werte Bundesgenossinnen sein. Mögen sie in der Stille fortwirken im Kreis der Familie, als Lehrerinnen oder[206] wo sie sonst für die heilige Sache der Demokratie tätig zu sein vermögen; – wir werden ihren guten Willen, auch wenn er in klöstliche Schleier sich hüllt, darum nicht weniger hochachten.

L.O.[207]

Quelle:
»Dem Reich der Freiheit werb’ ich Bürgerinnen«. Die Frauen-Zeitung von Louise Otto. Frankfurt a.M. 1980, S. 204-208,210.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Aufsätze aus der »Frauen-Zeitung«
Aufsätze aus der »Frauen-Zeitung«

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Lotti, die Uhrmacherin

Lotti, die Uhrmacherin

1880 erzielt Marie von Ebner-Eschenbach mit »Lotti, die Uhrmacherin« ihren literarischen Durchbruch. Die Erzählung entsteht während die Autorin sich in Wien selbst zur Uhrmacherin ausbilden lässt.

84 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon