Gruß zum Sängerfest

[54] Meißen 1844


Gruß Euch, Ihr Sänger! einen Festesgruß

Aus meiner Heimat schall es Euch entgegen,

Aus meiner Heimat, wo im Vorgenuß

Sich frisch und fröhlich alle Herzen regen.

Gesegnet all ihr liederreichen Scharen,

Die gleich wie Vöglein wir im Lenz gewahren,

Zu unsren Büschen unsren Bergen kehren,

Mit ihren Liedern unser Elbthal ehren.


Hier, wo der Dom, Denkmal der Gotenzeit,

Zum Himmel strebt mit seinen Zackenspitzen,

Ein Zeugnis heil'ger Gottestrunkenheit,

Die ihren Bau geweiht mit Geistesblitzen –

Hier singt auch Ihr im Tempel der Germanen

Dem heiligen Vermächtnis unsrer Ahnen,

Und Gunst und Beifall ist dem Fest gewonnen:

»Christlich-germanisch« ward es ja begonnen.


Doch nicht im Tempel nur von Menschenhand!

Es lockt Natur zu sich heraus in's Freie

Auf Bergen und in Wäldern haltet Stand

Und gebt dem Tag die frohe Sangesweihe[55]

In Chören die von tausend deutschen Zungen

Aus tausend Herzen sich zugleich gerungen

Zum freien Lied gleichwie viel kleine Flammen

Zu einer großen Flamme glühn zusammen.


Es wohnt Begeisterung in jedem Sang,

O wie viel mehr in Euren Bundesliedern.

Wo in der Töne Harmonienklang

Sich Grüße wechselnd finden und erwidern –

Bis dann in einem Ton die Unbekannten

Vertraut verbunden sich im Liede fanden,

Und in der Chöre Ineinanderklingen

Ein Bruderband sie alle um sich schlingen.


Ein Bruderband! das ist ein heilig Wort,

Das ist die Losung der verjüngten Zeiten

Das knüpft nicht nur, das wahret fort und fort

Das nehmt mit Euch als Liebespfand beim Scheiden,

Und bei des Festes freundlichen Gedenken

Mögt Ihr es auch den Heimgebliebnen schenken,

Daß nicht nur Tausenden, nein allen, allen

Die Bruderworte aus den Herzen schallen.


Und ist der Sänger nun dem Sänger gleich

Warum denn fühlen sich nicht Alle Brüder?

Gewiß! es kommt die Zeit so groß, so reich,

Da sind wir einig wohl durch mehr als Lieder![56]

Da singen wir der deutschen Freiheit Psalmen!

Da steht die Saat in segensreichen Halmen

Zu der wir hoffend jetzt den Samen streuen

Gott gebe, daß wir uns der Ernte freuen!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 54-57.
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