Schneeglöckchen

[41] Schneeglöckchen läutet den Frühling ein,

Geweckt vom kosenden Sonnenstrahl,

Im Schneegewande, so schlicht und klein,

Auf zartem Kelche der Hoffnung Mal:

Das fröhliche Grün, das alte Zeichen,

Vom Frühlingskommen und Winterweichen.


Rings starres Schweigen – das Glöckchen klingt

Auf zartem Stengel beim leisesten Hauch,

Es scheint zu beten und flüstert und singt

Das Wort der Weihe nach altem Brauch:

»Der Lenz ist gekommen, er hat uns gesendet,

Des Winters Herrschaft sie ist beendet!«


Du kleines Blümchen – falscher Prophet!

So höhnt dich lächelnd die kluge Welt –

Ein eisiger Nord durch die Fluren weht,

Dichtflockig der Schnee vom Himmel fällt.

Schneeglöckchen beugt sich mit Todesgebärden,

Flüstert noch sterbend: »Lenz muß es werden!«
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Lenz muß es werden – werden gar bald:

Da naht er siegend mit lauter Grün,

Vernichtet ringsum des Winters Gewalt,

Läßt tausend prächtige Blumen blühn –

Schneeglöckchen brachte zuerst die Kunde

Jetzt aber fehlt es im blühenden Bunde.


Denn weil es so nah an der Brust der Natur,

Gefühlt die Schmerzen der ganzen Zeit,

Drang es hinaus auf die kalte Flur,

Zu künden jubelnd »Der Lenz befreit

So nahte es liebend um froh zu sterben – –

Schneeglöckchen – darf ich dein Schicksal erben?

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 41-43.
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