Sonnenaufgang

[9] Ein Morgen kam – ich starrte himmelan

Und sah die Sonne auf der Rosenbahn.

Ein Regenbogen schien sich aufzubauen

Gleich einer Brücke in das Himmelreich,

Gleich einem Dom ob niedren Erdenauen,

Doch Dom und Brücke ward dem Herzen gleich.

In Jenen trat's mit Beten und mit Singen

Im Gottesdienst zur Sonne sich zu schwingen,

Auf diesen schritt es siebenfach umwoben

Zur Sonne selbst, sich frei ihr zu geloben.

So war der ganze Himmel vor mir offen!

Und in mich selbst schaut ich erstaunt, betroffen.

Da war mein Herz zu einem Garten worden,

Zwei Friedenspalmen standen an den Pforten –

Und drinnen, welch ein Drängen, welch ein Treiben!

Viel tausend Blüten lieblicher Gefühle

Erwachen aus des Morgentaues Kühle,

Kein Knöspchen will in seiner Hülle bleiben.

Es ist ein Sprossen, Streben auf zum Licht:

Und jede Hoffnung ist ein Lobgedicht

Und jeder Wunsch ein glühend Minnelied! –[10]

Inmitten diesem seligen Gebiet

Ist mir der Liebe Sonne aufgegangen.

So bringt das Herz sich ihr voll Weihe dar.

Nach keinem Himmel mag es mehr verlangen

Als den, der jetzt ihm plötzlich offenbar,

Denn schön und rein wie heller Sonnenglanz

Erfüllt der Liebe Seligkeit es ganz.

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 9-11.
Lizenz:
Kategorien: