Christbescherung

[239] Der Christnacht heilig' Offenbaren,

Das einst an alles Volk erging,

Die Kunde, die durch Engelscharen

Zuerst das arme Volk empfing:


»Die Liebe ist zur Welt gekommen,

Um einen neuen Bund zu weihn,

Ein reines Licht ist hell entglommen

Ein Stern mit wunderreichem Schein!« –


Die Kunde klingt aufs neue wieder

Zu uns in jeder Weihnachtszeit

Sie tönt durch alle Festeslieder

In jedem Gruß von nah und weit.


»Die Liebe soll die Welt regieren!«

Das ist die Losung allerwärts,

Die Lichter, die den Christbaum zieren

Wie strahlen sie in jedes Herz;


Und all die Gaben, lichtumschwommen,

Für jung und alt, für groß und klein:

Vom Himmel scheinen sie gekommen

In einer Wundernacht zu sein! –
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Doch all das Wunder zu vollenden,

Viel Sorgen gab es Tag und Nacht.

Viel Mühen von geschäft'gen Händen,

Viel Opfer freudig dargebracht.


Die Liebe soll die Welt regieren,

Und Weihnacht zeigt, daß sie's vermag,

Doch höhres Ziel muß sie sich küren,

Als schaffen nur für einen Tag,


Der eine Tag soll allen lehren;

Solch Mühn und Opfern wohl uns ziert,

Die wir das Wort der Weihnacht ehren:

Daß Liebe nur die Welt regiert –


Auch Völkerwünsche sich erfüllen

Nicht durch das Wunder einer Nacht,

Drum mühe jeder sich im stillen

Bis einst das Liebeswerk vollbracht;


Bis daß im ganzen Vaterlande

Der Freiheit Christbaum leuchtend glüht –

Solch Wunder kommt gewiß zu Stande

Wenn alles Volk darum sich müht.

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 239-240.
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