Jahreswechsel

[240] Wenn hoch vom Turm die Glocken klingen,

In mitternächtlich ernster Stund'

Des Jahres Scheidegruß zu bringen:

Dann lauschen wir, als werd' uns kund,

Was nun der neue Lauf der Horen

Uns Erdenpilgern bieten mag –

Das Jahr ward neuverjüngt geboren

Und festlich grüßt sein erster Tag.


Doch ist vergeblich alles Fragen,

Die Antwort lautet immer gleich:

Propheten sind aus unsern Tagen

Verbannt ins dunkle Sagenreich.

Kein Blick darf in die Werkstatt schweifen,

In der des Menschen Los sich webt,

Kein Arm in das Getriebe greifen,

Das Schicksals-Fäden senkt und hebt!


Das mußten alle wir erfahren

In unsrer Lieben engem Kreis –

Gebrochen müssen wir gewahren

Manch hoffnungsgrüne frisches Reis,[241]

Und wo wir's ahnend kaum vermutet,

Da kam uns Rettung aus der Not,

Indessen dort ein Herz verblutet

Weil ihm sein Liebstes nahm der Tod!


Nur eitel ist das ird'sche Hoffen,

Das sich an äußre Zeichen hält,

Ist nicht in uns ein Himmel offen,

Von dem kein Stern herunterfällt.

Wie sehr auch Sturm und Donner wettert

Und frische Hoffnungssaat zerschlägt

Und alle Rosen uns entblättert,

Wie Staub in alle Winde trägt. –


Ein Himmel, den wir sicher schauen,

Wenn sich der Blick nur aufwärts hebt,

Ein Himmel, den wir selber bauen,

Wenn wir zum höchsten Ziel gestrebt,

Ein Himmel, draus seit Ewigkeiten

Zu uns die Schöpfungsformel spricht,

Die heiligste für alle Zeiten:

Kein Chaos mehr! – es werde Licht!


Kein Chaos mehr – in unserm Leben,

Kein Chaos mehr im Vaterland!

Es werde Licht, – dies unser Streben,

Die Waffe dies in unsrer Hand.[242]

Des Gottesfunkens treue Wächter

An heil'ger Freiheit Hochaltar,

Und Feinde aller Lichtverächter:

So grüßen wir das neue Jahr.

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 240-243.
Lizenz:
Kategorien: