Eine Ostererinnerung

[243] Erinn'rung ruft in meiner Seele

Ein Bild herauf aus früher Zeit:

Das Herz war rein und ohne Fehle,

Ein Schneeglöcklein im Frühlingskleid.

Wie das sich wiegt auf zartem Stengel,

Von jedem leisen Hauch berührt,

So bebt' ich, da der Kindheit Engel

Zu dem der Jugend mich geführt.


Am Osterfest im Feierkleide

Kniet ich am heiligen Altar,

Die Engel schwebten mir zur Seite,

Der Priester bot den Kelch mir dar:

»Ich will« – er sprach mit leisem Beben

Den Spruch, den er als Segen bot –

»Dir einst des Lebens Krone geben,

Doch sei getreu bis in den Tod


»Bis in den Tod!« das Wort schlug zündend

In meine Brust wie Blitzesstrahl,

Den Kampf des Lebens mir verkündend

Mit Feindesmächten ohne Zahl.[244]

Der goldne Kelch mit seinem Blinken,

Ward zum prophetischen Symbol –,

Vom Kelch des Leidens sollt' ich trinken

Noch oft und viel – ich ahnt' es wohl.


Ich ahnt' es wohl mit stillem Schauer –

Mir war, ich sei zum Kampf gefeit;

In meine Brust kam keine Trauer,

Still ward mein Herz und groß und weit;

Es sehnte sich nach großen Stunden

Von Kampfbegeisterung entbrannt,

Es bebte nicht vor tiefen Wunden

Geschlagen von des Schicksals Hand.


Ich eilte vom Altar der Weihe

Hinaus in die erwachte Flur,

Die Lerche schmetterte, die freie,

Rings lachte hold des Lenzes Spur;

Die ersten Veilchen sah ich blühen –

Ein Dornenstrauch darüber stand,

Ich pflückte sie mit stillem Mühen –

Und Blut entquoll der Kindeshand.


Ein neu' Symbol! ich kniete nieder

Und betete zu Gott empor:

»O gieb mir Veilchen, gieb mir Lieder,

Wie frei sie singt der Lerchenchor[245]

Vom Kelch der Leiden will ich trinken. –

Er ist der Kelch des Lebens auch!

Im Kampfe soll der Mut nicht sinken,

Im Sturm weht der Begeistrung Hauch!«


»Ich möchte Dich um Leiden flehen

Statt sanfter Ruhe, die erschlafft,

Ich kann dem Schmerz ins Auge sehen,

Denn nur im Kampfe wächst die Kraft« –

Der Himmel stand in Sonnenflammen,

Im Westen glühte Abendroth,

Ich schauerte in mir zusammen:

»Laß mich getreu sein bis zum Tod


Ein träumend Kind von fünfzehn Jahren,

Das solch Gebet mit Andacht sprach –

War wohl ein Frevel solch Gebahren?

Ich sinne still der Frage nach.

Erhört ward des Gebetes Schauer,

Es kam das Leid und Kampf und Schmerz,

Es kamen Tage tiefster Trauer,

Und keine Ruhe fand das Herz!


Wohl fliegen Engel auf und nieder

Und standen ihm im Leide bei,

Wohl fand es freie Lerchenlieder,

Ward ihm zum Lied der Schmerzensschrei;[246]

Wohl blühten Veilchen ihm im Lenze,

Im Sommer Rosen wonnevoll –

Doch auf der Liebe schönste Kränze

Des Auges Schmerzensthräne quoll.


Du hast's erfleht, Du darfst nicht klagen,

Sei stark mein Herz im neuen Streit!

Kein Ruhen gilt und kein Verzagen,

Du bist gestählt im Kampf und Leid.

Und kannst Du nicht mehr überwinden

Das Schwerste, was das Schicksal bot,

Dann wird der letzte Kampf Dich finden:

Du konntest »treu sein bis zum Tod!«

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 243-247.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Tschechow, Anton Pawlowitsch

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Drei Schwestern. (Tri Sestry)

Das 1900 entstandene Schauspiel zeichnet das Leben der drei Schwestern Olga, Mascha und Irina nach, die nach dem Tode des Vaters gemeinsam mit ihrem Bruder Andrej in der russischen Provinz leben. Natascha, die Frau Andrejs, drängt die Schwestern nach und nach aus dem eigenen Hause.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon