Die erste Schwalbe

[225] Die Lerche hat schon längst ihr Lied gesungen,

Gegrüßt den ersten warmen Sonnenstrahl,

Die Primeln sind beherzt hervorgedrungen

Und Blätterknospen folgen ohne Zahl.

Die neue Saat sprießt fröhlich schon hervor

Strebt aus der Erde Schoß zum Licht empor.


Ein Sänger nach dem andern kehret wieder,

Ein Blümchen nach dem andern kommt hervor,

Wir schauen auf die Dornen spähend nieder –

Da blaut und blüht ein ganzer Veilchenflor,

Und junges Grün ringsum das Aug' erquickt,

Das überall nach Lenzeszeichen blickt.


Nur eines fehlt und kluge Leute sprechen:

So lange wir noch keine Schwalbe sehn

Kann sich der Winter noch am Lenze rächen,

Kann alle seine Herrlichkeit verwehn

Durch Schnee und Sturm aus kaltem Ost und Nord –:

Die Schwalbe nur ist unsers Frühlings Hort.
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Wir dürfen keinen Frühling je vertrauen

So lang' sich nicht die erste Schwalbe zeigt,

Noch nicht beginnt ihr trautes Nest zu bauen,

Noch nicht mit Zwitschern auf und niedersteigt,

Und fröhlich einzieht in den alten Kreis –

Sie erst bringt uns des Frühlings dauernd Reis.


Und also ist es auch im Völkerleben!

Schon manchmal ward ein hartes Joch gesprengt,

Schon manchmal hat es freie Flut gegeben

Und frisches Grün, das sich hervorgedrängt.

Schon manchmal schiens, als sei es Frühlingszeit –

Dann kam ein Sturm – und alles war verschneit!


Ein Warnungsruf! doch soll er uns nicht rauben

Das frohe Hoffen, daß es Frühling wird,

Den ewigen, den hohen Zukunftsglauben!

Er bleib in jedem Herzen unbeirrt.

Doch niemand sei in Sicherheit gewiegt,

So lange nicht zum Nest die Schwalbe fliegt.


So lange nicht zu uns aus schönem Süden

In jedes Haus ein Friedensbote kam –

So lange nicht am Herde, den wir hüten

Der Freiheit Lied ein jedes Ohr vernahm –

So lange nicht von allen Dächern reden

Nach kecker Schwalbenart die Volkspropheten!

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 225-227.
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