Blumengeister

[227] Nun ist im Sturm mit Schnee und Eis

Der Winter angekommen,

Hat auf tyrannisches Geheiß

Die Blüten all genommen.


Sie sind dahin mit einem mal

Und hängen welk hernieder,

Es weckt kein milder Sonnenstrahl

Die Frostgetroffnen wieder.


Ihr Glanz, ihr Duft, ihr Leben schwand

Und öd' sind Flur und Garten,

Zur weißen Wüste ward das Land,

Die Flüsse selbst erstarrten.


So sinken in die kalte Gruft

Die letzten Blumenleichen,

Und harren bis der Lenz sie ruft

Aus ihrem Grab zu steigen.


Doch kann der Blumeugeister Schar

Wohl nächtlich um noch gehen –

In kalter Mondnacht, hell und klar

Sind sie gar oft zu sehen.
[228]

Sie kommen aus dem Grab hervor

Wie neckende Gespenster,

Und blühen – ein krystall'ner Flor –

An dem gefrornen Fenster.


Und rufen die Erinnrung wach

An alle Sommerstunden,

Wo Menschenhand die Blümlein brach

Und sie zum Kranz gewunden –


Wo Menschenfuß sie gar zertrat,

Nicht achtend auf ihr Flehen –

Es läßt zu rächen solche That,

Die Geisterschar sich sehen.


Und mahnt mit glänzend heller Schrift:

»Dein eignes Thun bewache,

Damit dich nicht im Winter trifft

Der Blumengeister Rache!«

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 227-229.
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