Jung-Elschen

[275] Der Abendwind streicht durch den Wald

Und Blatt und Blatt sich säuselnd grüßen,

Das Lied der Nachtigall erschallt

In Liebestönen, schmeichelnd süßen.


Noch spielt der letzte Rosenschein

Der Sonne um die höchsten Bäume,

Doch schläft schon manche Blüte ein,

Wiegt leis ihr Haupt als ob sie träume.


Still wird die Luft, es sinkt der Thau

Und überzieht mit feuchtem Glänzen

Die blütenreiche, duftge An,

Als schmück' er sie zu Elfentänzen.


Schon fliegt der erste Glühwurm aus,

Nachtfalter schwirrend sich erheben –

Da tritt Jung-Elschen aus dem Haus

Zur Gartenthür, mit leisem Beben.


Den Riegel innen schiebt sie fort,

Um hinter sich ihn leis zu schließen;

Den Abendstern, der Unschuld Hort,

Hat ihr der erste Blick gewiesen.
[276]

Seit Wochen hat sie hier geweilt

Und treu gepflegt die alte Muhme,

Bis sie genas – nun einmal eilt

Sie zu des Waldes Heiligtume.


Längst hat sie sich dahin gesehnt,

Doch machte ihr die Muhme bange,

Die Raub und Mord im Walde wähnt

Und hinter Blumen selbst die Schlange.


Sie sollt' am Abend nie allein

Die einsam stillen Pfade gehen – –

Doch würde Gott nur bei ihr sein,

Was könnte ihr denn wohl geschehen?


Er hatte ja den Wald gebaut

Mit seinen hehren Buchenhallen –

Wie sollte denn, wer Gott vertraut,

Nicht froh und sicher darin wallen??


Die Muhme schlief, die Magd war da,

Jung-Elschen konnte fort sich schleichen,

Und bald war sie dem Walde nah,

Er grüßte sie mit heilgem Schweigen.


Ganz einsam war's – ein Wandersmann

Kam ihr entgegen nur geschritten,

Er hielt den Fuß dicht vor ihr an,

Um eine Gabe sie zu bitten.
[277]

Sie grüßt ihn still und gab ihm mehr

Als er gewohnt war zu erhalten –

Er sah sie an – und dankte sehr –

Und sie sprach tröstlich: »Gott mags walten!«


Wie schön war's drinnen nun im Wald!

Der Mond begann heraufzusteigen –

Doch plötzlich lauter Sang erschallt,

Wo vorher noch das tiefste Schweigen.


»Ei, guten Abend schönes Kind!

So einsam hier im Mondenscheine? –«

»Der Abend ist so hold und lind –

Ich bin im Walde gern alleine.«


»Hei, abgeblitzt!« ein Andrer rief:

»Die weist uns selbst im Wald die Thüre!«

Ein Scherzwort durch die Burschen lief –

»Wohl – jeder wird, was ihr gebühre.«


Sie zogen fort, und lächelnd stand

Jung-Elschen da im Mondenlichte –

Strich sinnend mit der weißen Hand

Ihr Goldhaar aus dem Angesichte. –


Und wieder herrschte tiefe Ruh

Vom Teppichmoos bis zu den Sternen –

»O. Nacht, wie doppelt schön bist du,

Wenn wir im Wald dich kennen lernen!«
[278]

Andacht durch ihre Seele zieht,

Die Hände faltet sie zusammen,

Und betend fromm sie niederkniet,

Im blauen Aug' Begeistrungsflammen.


Und plötzlich schreckt ein Fluch sie auf –

Sie sieht in rauhen Mannes Händen

Des blitzenden Gewehres Lauf

Und ruft erschreckt: »Das müßt Ihr wenden!«


»Ich bin kein Dieb, bin auch kein Reh,

Dafür Ihr mich vielleicht gehalten –

Ein Mädchen nur ich vor Euch steh,

Dess' Hände betend sich gefalten!« –


Da schüttelt es den bösen Mann,

Den böse That zur Flucht getrieben,

Er ruft: »Für mich auch bete dann!«

Und kehrt sich um – »Zu Gott, dem lieben!«


Ruft sie mit unschuldsvollem Laut

Dem Flücht'gen nach. Dann kehrt sie wieder

Zum stillen Haus, zum Garten traut,

Wo süß noch duften Ros' und Flieder.


Am Morgen sie zur Muhme spricht:

»Ich will es ehrlich dir gestehen,

Ich hab' im stillen Mondenlicht

Im Wald mich gestern umgesehen.«
[279]

Die Muhme fährt erschreckt sie an:

»Weh', wenn dich jemand dort getroffen!«

»Niemand hat mir ein Leid's gethan!«

Und Elschen schildert Alles offen.


Die Muhme hört's, der Fassung bar –

Dann seufzt die Brust, die angstbefreite –

»Du ahntest nicht einmal Gefahr – –

Die Unschuld gab dir das Geleite!«

Quelle:
Louise Otto: Mein Lebensgang. Leipzig 1893, S. 275-280.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Holz, Arno

Phantasus / Dafnis

Phantasus / Dafnis

Der lyrische Zyklus um den Sohn des Schlafes und seine Verwandlungskünste, die dem Menschen die Träume geben, ist eine Allegorie auf das Schaffen des Dichters.

178 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon