Viertes Capitel
Gelübde

[69] Im Hofe am Steig bei den zwölf Brüdern ging der Riesen-Jacob vor der Werkstatt Meister Adam Kraft's müssig auf und nieder. Wie das Frühjahr gekommen war, sehnte er sich von der städtischen Maurerarbeit wieder hinaus auf die freien Felder des Benediktinerklosters, wo er, wenn auch nicht lohnendere, ja nicht einmal leichtere, aber ihm doch besser zusagende Arbeit fand, als in der Werkstatt des wunderlichen Künstlers, der ihn eigentlich zum Gespött seiner Gesellen machte.

Von dem Meister war er schon in aller Form entlassen worden und hatte seinen Lohn erhalten, aber er begehrte noch die Meisterin zu sprechen und wartete, bis sie zur gewohnten Stunde über den Hof kommen würde, wo sie ihrem Manne das Vesperbrod zu bringen pflegte.[69]

Jetzt erschien sie auch, aber nicht allein, die Frau Vischerin war bei ihr, die eilig herbeigelaufen war, um zu verkünden, daß ihr Ehemann, Peter Vischer, gestern wieder aus Italien heimgekehrt sei, und daß sie ihm eine Ueberraschung bereiten und seine besten Freunde die Meister Adam Kraft und Sebastian Lindenast ihm zum Nachtmahl laden wolle, denn er selbst sei dermaßen ermüdet von der weiten, meist zu Fuß zurückgelegten Reise, daß er nicht aus dem Hause könne und daheim nur seine Freude an den Buben habe, die indeß gar groß und verständig geworden, und dazu noch einer gekommen, den er zuvor noch gar nicht gesehen.

Der Riesen-Jacob mußte warten, bis dies Gespräch beendet war; die Zeit war ihm dabei etwas lang und er selbst immer ärgerlicher darin in seinem Vorsatz bestärkt, die Meisterin noch bei seinem Weggange zu ärgern, und sich selbst nicht nur über sie, sondern auch durch sie einen Triumph zu bereiten.

Als sich die Vischerin von Frau Eva Kraft verabschiedet hatte, trat Jacob auf diese zu und sagte: »Nun, Meisterin, ich wollte nicht weggehen, ohne Euch auch zum Abschied gesehen zu haben.«

»Nun Gott geleite Euch!« sagte sie kurz und gab ihm die Hand.[70]

»Seht,« begann er, »ich habe immer, wenn ich den steinernen Drachen da draußen vor der Thür sah, an Euch denken müssen.«

»Unverschämter Mensch!« fiel ihm die Meisterin in's Wort, »mach' Er, daß Er fort kommt!«

»Nun, nun, laßt mich nur erst ausreden,« sagte Jacob und hielt sie zurück; »ich habe das nicht zuerst gesagt, der hochwürdige Herr Propst Anton Kreß hat das aufgebracht! Ich mein' es mit Euch besser, als der, und will Euch nur noch einen Rath geben, wie Ihr Euer Müthchen an ihm kühlen könnt!«

»Ach, laßt mich in Ruhe!« sagte die Meisterin, und blieb doch stehen, um neugierig zu hören, was eigentlich kommen sollte.

»Ihr wißt,« begann dieser, »damals kam ein Benediktinermönch hierher, den Propst abzurufen; ich kannte ihn wohl und meinte, daß es nicht recht richtig mit ihm sein möge – nun, gestern hab' ich denselben Mönch, den Bruder Amadeus in Laienkleidung bei Nachtzeit sich in das Haus des Propstes schleichen sehen – das ist doch ganz wider die Ordnung. Nun will ich im Kloster nachfragen, was das eigentlich ist mit diesem Amadeus; ich kann mir doch gar nicht anders denken, als daß er aus dem Kloster entwischt ist, der[71] Propst und die Baubrüder mit ihm unter einer Decke stecken.«

»Auch die Baubrüder?« sagte Frau Kraft besonders gespannt, denn zwischen den profanen Bauleuten und den freien Steinmetzen bestand immer eine stille Feindschaft; die Letztern sahen hochmüthig in ihrer Abgeschlossenheit auf jene herab, und die Erstern waren eifersüchtig auf den Nimbus, der die Letztern umgab – sie ergriffen gern jede Gelegenheit, denselben vor dem Volke zu zerstören und sich ihnen mindestens gleich zu stellen. Ein echter Künstler, wie Meister Kraft, war wohl frei von diesem kleinlichen Neid und ließ auch den freien Steinmetzen Gerechtigkeit widerfahren, und sein größter Triumph war, nur durch die eigenen Leistungen seiner Kunst ihnen beweisen zu können, daß auch ohne Mystik und Abgeschiedenheit von allen weltlichen Freuden Kunstwerke hervorgebracht werden könnten von profanen Händen – aber seine Gesellen und Umgebung, auch seine Frau vermochte er nicht auf diesen höheren und friedfertigen Standpunkt zu erheben; sie kannte keine größere Freude, als wenn Jemand einem Baubruder Uebels nachsagen oder die ganze Genossenschaft lächerlich oder verdächtig machen konnte, mochte es von dieser oder jener Seite geschehen, mochte[72] man ihnen nachsagen, daß sie Kopfhänger wären, überspannte Phantasten und Schwärmer, die allein meinten den rechten Weg in's Himmelreich zu kennen, alle irdischen Freuden verachteten und mitten in der Welt lebend die Erde doch nur als ein Jammerthal betrachteten, das ihnen vergeblich seine Genüsse bot – oder mochte man sie Spötter nennen, die bei ihren geheimen Gebräuchen und Lehren dem Christenthum und der Kirche Hohn sprächen, oder heimliche Jünger, die nur öffentlich sich der größten Sittenstrenge unterwürfen, bei ihren Zechen aber oder auch allein im Verborgenen mehr sündigten als Andere. Darum spitzte Frau Eva jetzt die Ohren, als sie hoffen konnte, etwas Verdächtiges von einem Baubruder zu hören, und der Riesen-Jacob fuhr fort:

»Am Tage, nachdem jener Mönch hier gewesen war, hat der Propst ein paar Baubrüder hinaus in's Kloster geschickt, daselbst ein Sacramentshäuslein auszubessern – nun, das hätten wir auch gekonnt, und wer weiß, haben sich der Propst und der Mönch nicht erst die Modelle dazu bei uns abgeguckt.«

»O ganz gewiß haben sie das gethan!« rief die Meisterin entrüstet; »wenn ihnen nur mein Mann nicht[73] die herrliche Zeichnung hat sehen lassen, die er selbst zu einem solchen Gehäuse gemacht!«

»Der blonde Hieronymus und der Ulrich von Straßburg sind damals wochenlang draußen im Kloster gewesen,« berichtete Jacob weiter, »und Einer von ihnen – ich weiß nicht welcher, denn ich habe sie Beide stets nur miteinander gesehen – kam diese Nacht mit dem Propst heim, und sie nahmen den Amadeus mit in die Propstei, der schon so lange um sie herum geschlichen, daß ich ihn scharf in's Auge gefaßt hatte, weil ich dachte, er könne dort unmöglich auf guten Wegen wandeln.«

»Was Ihr nicht sag't!« rief Frau Eva; »Ihr werdet wohl thun, das im Kloster zu beichten – und ich werd' es hier auch nicht daran fehlen lassen.«

Viel freundlicher als vorhin ward nun der rohe Handlanger von der Meisterin entlassen, die sich innig freute, es endlich dem Propst entgelten lassen zu können, daß er das Späßchen mit dem Drachen auf ihre Kosten gemacht hatte.

Indeß lief am selben Tage ein anderes wunderliches Gerücht durch die Reichsstadt und beschäftigte in immer absonderlicheren Varianten die guten Nürnberger. Da hieß es zuletzt gar: Zur Frau von Scheurl sei ein[74] goldener Vogel geflogen gekommen, der zwar nicht singen, aber reden könne, und der habe ihr erzählt, wer das indische Reisegut Herrn Martin Behaim's geraubt, und sei dann zu der Stelle geflogen, an der es vergraben liege. Wer etwa dazu ungläubig lächeln wollte, wie zu einem einfältigen Mährlein, der mußte doch verstummen, als er einen stattlichen Zug, voran Herrn Christoph von Scheurl und die Gebrüder Behaim, im Gefolge ihre Leute und Diener, und eine große Abtheilung Stadtmilizen vor das Thor ausrücken sah und dem Reichsforst sich zu bewegen. Oder wer diesen nicht begegnete, der gewahrte vielleicht Frau Elisabeth am Fenster ihres Chörleins, wie ein herrlicher Vogel auf ihrer Achsel saß. War er auch nicht golden, so glänzten die Farben seines Gefieders doch so wunderbar schön und prächtig, daß er dadurch nicht minder fabelhaft erschien, als wär' er aus eitel Gold gewesen. Wer den Vogel sah, der glaubte dann auch gern die andern abenteuerlichen Erzählungen. Und für diese gewann die Nürnberger Phantasie bald einen unendlich weiten Spielraum, als es am Abend hieß: man habe wirklich an der Stelle im Walde, welche der Vogel angegeben, einen großen Theil der Schätze gefunden, die Martin Behaim mitgebracht und deren Beschreibung nun wieder[75] nur die staunenswerthesten Dinge zu verkünden hatte. Im Triumph wurden die wieder gewonnenen Kisten Behaim's in die Stadt geführt – und war nun einmal nur ein Theil wieder da von den entschwundenen Herrlichkeiten, so hoffte man, der andere werde sich nun auch schon finden – ja, man war entschlossen, ihn, wenn es sein mußte, mit Sturm und Waffengewalt zu erobern.

Die Ritter von Weyspriach und Streitberg erhielten von dem Rath von Nürnberg eine Vorladung, vor Gericht zu erscheinen und sich gegen die wider sie erhobene Anklage auf Friedensbruch und Straßenraub zu rechtfertigen oder darauf gefaßt zu sein, daß gegen sie erkannt und verfahren würde wie Rechtens. Diese Anklage stützte sich natürlich nicht nur auf die Angabe des indianischen Raben – mochte sie dieser nun schriftlich mitgebracht, oder wie im Volke die Sage ging, selbst redend gemacht habe – sondern auf die übereinstimmende Schilderung des Boten, der die erste Nachricht von dem Ueberfall an Scheurl gebracht hatte, mit den Aussagen der Verwundeten und Geflohenen, die von Augsburg her dem Transport zum Geleite gedient hatten. Keiner von ihnen kannte zwar die beiden Ritter persönlich, aber ihr Signalement der Räuber[76] paßte doch auf diese, und da sie schon mehr als einmal im Verdacht solcher Heldenthaten gewesen waren, so war es mehr als wahrscheinlich, daß sie auch dieses Verbrechen verübt.

Nun hatten aber freilich die Ritter guten Grund der Vorladung zu spotten und den Spruch des Rathes von Nürnberg zu mißachten; denn sie meinten, daß nicht dieser, sondern allein der Markgraf Friedrich von Zollern das Recht habe, Gericht auf Nürnbergischem Gebiet zu hegen, und sie nur dem Spruche dieses im Namen des Kaisers burggräflich gehegten Landgerichtes sich zu fügen hätten, da ihre Burg sowohl als der Ort der That nicht die Stadt Nürnberg selbst sei, und diese selbst auf dem ihr gehörenden Grund und Boden, der außer der Stadt gelegen, keine Macht habe zu richten. Aber eben über diesen Punkt war der Nürnberger Rath mit dem burggräflichen Gerichtsamte niemals einig, es fanden stets Reibungen und Streitigkeiten statt, und wie es bei unsichern Rechtsverhältnissen immer geht, wo jede Behörde die andere der Uebergriffe verklagt und das Recht der Entscheidung meint allein auf ihrer Seite zu haben, so ging es auch hier: die Angeklagten selbst hatten davon den größten Nutzen, sie brauchten nur zu erklären, daß sie die Competenz der Behörde, die sie[77] zur Verantwortung ziehen wollte, nicht anerkannten – so verging immer Zeit und die Sache verschleppte sich.

Diesmal aber trat doch das burggräfliche Landgericht auf die Seite des Nürnberger Stadtgerichtes und beschloß die Handlungen desselben zu unterstützen.

Markgraf Friedrich von Zollern war zwar gerade abwesend und bei dem Kaiser Friedrich in Linz, aber der stellvertretende Richter hatte es in guter Erinnerung, daß Frau von Scheurl die Pathe seines Herrn und von ihm in Ehren gehalten war; ebenso wenig vergaß er, daß sie Gnade vor dem römischen König und künftigen deutschen Kaiser gefunden, wie ihr Gemahl die Adelswürde: daß es darum wohl nicht klug gehandelt sei, ihre Wünsche nicht zu berücksichtigen; daß es also gerathen sei, einmal einer Klage des Nürnberger Rathes über Gewaltthat und Friedensbruch von Seiten adeliger Straßenräuber Gehör zu geben.

Darum sandte wenig Tage nach der höhnenden Antwort der Ritter auch das burggräfliche Landgericht eine gleiche Vorladung zur Verantwortung über die wider sie erhobenen Anklagen an die beiden Ritter, die allerdings einer solchen sich wenig versehen hatten. Indeß verweigerten sie auch jetzt zu erscheinen mit der Ausrede: daß doch nur die Nürnberger Krämer den[78] burggräflichen Landrichter bestochen hätten, und daß jene sich nicht rühmen sollten, daß Edelleute, die nur den Kaiser als ihren Herrn anerkannten, über ihr Thun und Schalten ihnen spießbürgerlich Rechenschaft abgelegt.

So kam es denn wirklich zu einer Belagerung von Weyspriach's Burg. Unter denen, die dazu mit ausgezogen waren, befanden sich auch Georg Behaim und Stephan von Tucher. Der Letztere wollte sich dadurch den Ersteren versöhnen, der ihn immer seit dem Schlittenstechen beim Schönbartlaufen scheel angesehen hatte, und noch mehr Frau Elisabeth dadurch seinen Dank beweisen, die ihm ganz allein zu dem Besitz Ursula's verholfen, an deren Seite er jetzt ein heiter glückliches Leben führte.

Ursula selbst, vielleicht noch mehr von Glück und Dankbarkeit durchdrungen als er, hatte ihn am wenigsten zurückhalten mögen, und doch war ihr bange, da er von ihr ging, an einer Fehde Theil zu nehmen, die ihn gerade in die drohendsten Gefahren bringen konnte, wie eine solche Belagerung; denn auf die Helmbüsche der Ritter pflegten die Belagerten immer am ehesten und schärfsten zu zielen.

In der Angst während seiner Abwesenheit suchte sie am öftersten Trost und Ruhe bei Elisabeth.[79]

Schon seit der Reichstag beendet und in Nürnberg wieder Alles in's gewohnte Geleis gekommen war, hatten die Gobelinsstickerinnen für die Lorenzkirche ihr Geschäft wieder begonnen und pflegten wenigstens wöchentlich einige Mal dazu bei Frau Elisabeth zusammen zu kommen. Jetzt waren sie so weit gediehen, daß sie, um die einzelnen Theile des Teppichs zusammen zu passen, sich an Ort und Stelle selbst begeben mußten.

Elisabeth hatte dieses Vorhaben dem Propste Kreß melden lassen, den sie seit ihrer Geburtstagfeier nicht gesehen, was sie um so mehr befremdete, als er sonst ein öfterer Gast in ihrem Hause war und sie seine guten Eigenschaften sehr wohl zu schätzen wußte, wenn sie auch seine Späße manchmal zum Erröthen zwangen.

Da erfuhr sie, daß er seit jenem Tage krank gewesen und nicht ausgegangen, aber er ließ ihr sagen, daß er um ihretwillen hinüber in die Kirche kommen werde.

Elisabeth und die Schwestern Pirkheimer waren die Ersten, die sich darin einfanden. Das hochgewölbte Schiff der Kirche war ganz leer und still, nur von drüben aus der Bauhütte und von oben vom Thurm herab schallte das Hämmern und Meißeln der fleißigen Steinmetzen.[80]

»Wie schön wäre es,« sagte Charitas, »wenn es auch eine Schwesterschaft gäbe, dieser Baubrüderschaft nachgebildet! Wenn auch wir Frauen uns vereinen dürften, in heiligen Gelübden unser ganzes Leben einer frommen und erhabenen Arbeit zu weihen und so einen großen und schönen Lebenszweck gemeinschaftlich zu verfolgen. So bleibt uns, um diesen Wunsch zu erfüllen, nur das Kloster.«

»Freilich müssen wir Frauen uns beinahe mit Gewalt, oder wenigstens doch im steten Kampfe mit der rohen Gewalt – jede Möglichkeit eines edlen Wirkens für unser eigenes Heil wie für das Allgemeine erobern,« sagte Elisabeth; »aber besser so, als im engen Kloster einschlafen oder mit versteinern.«

»Nein! so ist es nicht!« rief Charitas Pirkheimer; auch unter den Klöstern gleicht nicht eines dem andern. So herrscht im hiesigen Clara-Kloster unter den Nonnen ein reger Eifer für Wissenschaft und Kunst, gleichsam ein treugepflegter, kräftig wachsender Baum, der seine Zweige auch über die Klostermauern hinausbreitet, aufwärts strebt in den Himmel und hinaus zu den Menschen, sie mit seinen Schatten zur Ruhe zu leiten und mit seinen Früchten zu erquicken. Dort weilt eine alte Verwandte von uns, die wir erst kürzlich besuchten, an[81] deren tiefer Gelehrsamkeit sich Alle laben und die den regsten Eifer für die Wissenschaften unter den Nonnen weckt und wach erhält. Und was sie für die Wissenschaft, das ist Schwester Ulrike für die Kunst. Eine edle Frau, die gewiß sehr tiefes Weh im Leben erfahren hat, die aber hindurch gedrungen ist zum Frieden der Seele, den die Welt nicht giebt. Ihr Orgelspiel und Gesang sind vollkommen Alles, was zur Kunst gehört, hat sie das vollste Verständniß. Ihr solltet hören, wie begeistert sie von der Baukunst spricht und wie sie die geheime Symbolik derselben zu ihrem Studium gemacht hat; vielleicht knüpft sie auch oft für sich selbst eine eigene Symbolik daran und schmückt sie mit ihrer poetischen Phantasie. Ich glaube, wenn man sie früher das Mechanische der Steinmetzarbeit gelehrt, sie hätte eine zweite Jungfrau Sabina sein können, die den Straßburger Münster mit verherrlicht hat. Ich wollte, Ihr kenntet diese Frau.«

Clara fügte die Rede der Schwester ergänzend hinzu: »Mir fiel diese Nonne durch eine wunderbare Aehnlichkeit auf; es war mir, als habe ich dies Gesicht schon gesehen, gleichwohl konnte ich mich lange nicht besinnen, wann und wo, aber da ich den Steinmetzgesellen Ulrich[82] wiedersah, brauchte ich mein Nachdenken nicht mehr anzustrengen: ihm glich sie auf ein Haar.«

»Und darum,« sagte Elisabeth mit feinem Lächeln, und doch selbst dabei erröthend, »darum zog Euch die Nonne an?«

Charitas erröthete auch und blickte die Augen niederschlagend zur Seite, indeß Clara sagte: »In Beiden zieht uns derselbe Ausdruck der Begeisterung für das Heilige an, und Euch, Elisabeth, nicht minder als uns; ich wenigstens werde keiner Verläumdung glauben, die es anders von Euch zu behaupten wagt.«

»Clara!« rief Elisabeth und blickte sie drohend und zornig an. Aber konnte sie nach der Verläumdung fragen? sollte sie von einer Beschuldigung sich rechtfertigen, die ja noch gar nicht ausgesprochen war? Sie konnte nicht zweifeln, daß Charitas, trotz des gelobten Schweigens, da sie Ulrich in Elisabeth's Gemach fand, dies doch gegen die Schwester nicht gehalten hatte. Kam die Verläumdung gar von dieser Seite, oder hatte Streitberg sie ausgesprengt, wie sie nach seinen Worten auf dem Maskenfest wohl glauben konnte? – Im Gefühl ihrer strengbewahrten Tugend und ihrer weiblichen Würde hatte Elisabeth verächtlich lächeln können, wenn man da und dort sie die Buhlerin des römischen Königs[83] genannt – warum ward sie denn jetzt so aufgeregt von diesem einzigen Worte?

Aber plötzlich war es, als bebe der ganze gothische Bau und wolle über den Frauen zusammenstürzen. Hoch aus den Lüften erscholl ein donnerähnliches Getöse, die erhabenen Säulen und Strebepfeiler schienen zu schwanken, und ein hallendes Echo tönte donnernd von ihren Wölbungen wieder, die hohen Bogenfenster klirrten und das Farbenspiel der buntgemalten Fenster zitterte auf dem Fußboden und an den Wänden. Die Seitenflügel am Altargemälde klapperten aneinander, die Pfeifen der Orgel gaben wundersame Töne von sich, und der kaum vollendete hohe Chor bebte, als sei er schon wieder dem Untergange geweiht; von draußen erschollen rufende und schreiende Stimmen, und Elisabeth war es, als habe sie Ulrich rufen hören: »Halte Dich nur, bis ich komme!«

Andere Stimmen aber schrieen durcheinander: »Thut's nicht! Ihr verderbt Euch mit ihm! Ihr wagt zu viel!«

Die Frauen standen auf den Stufen des Portals und öffneten die Kirchenpforte, um hinaus zu flüchten oder zu sehen, was es gäbe, denn innen zeigte sich keine Veränderung.[84]

»Zurück!« tönten ihnen befehlende Stimmen entgegen! »drinnen seid Ihr sicher, hier können Euch die Trümmer erschlagen!«

Elisabeth wollte jedoch der Warnung nicht achten; aber der Propst selbst, der eben schon unter dem Portale gestanden, drängte sie zurück, zog sie mit sich in die Kirche und sagte: »Bleibt hier und betet für die Baubrüder, für Ulrich von Straßburg und Hieronymus!«

Die Schwester Pirkheimer sanken am nächsten Altar auf ihre Knie.

»Beten? Herr Propst – und nichts als beten?« sagte Elisabeth; »giebt es für die Frauen niemals eine helfende That? Sag't, was geschehen, ich bleibe sonst keinen Augenblick länger hier!«

»Ihr müßt!« sagte er und hielt sie gewaltsam zurück; »stürzende Balken oder Steine könnten Euch tödten, und bei einer gefährlichen Unternehmung zuzusehen, ist auch nicht für Euch! Ein paar Gesellen arbeiteten an der höchsten Thurmspitze, da das Gerüst durch einen herabfallenden Stein auf einen morschen Balken in's Wanken kam; sie retteten sich noch herunter, nur einer ist beschädigt, aber nicht gefährlich; Hieronymus aber stand gerade auf dem Thurmgemäuer selbst, als das Gerüst zu stürzen begann, und ist da stehen geblieben[85] – kein Mensch weiß, wie er von da herabkommen soll, weder innen noch außen.«

»Hieronymus ist also in Gefahr?« sagte Elisabeth ruhiger; »aber Ulrich?« fügte sie angstvoll hinzu.

»Der war glücklich hinabgesprungen,« antwortete der Propst; »er entdeckte zuerst den morschgewordenen Balken und warnte die Andern, aber Hieronymus hatte nicht auf ihn gehört, und jetzt ist Ulrich eine Leiter tragend wieder das Gerüst hinaufgeklettert. Er that es Allen zuvor, und Jeder widerrieth das Wagniß, dessen Gelingen Keiner für möglich hält, gleichwohl war er nicht zurückzuhalten; und es ist wahr, daß bei jedem andern Rettungsversuch für Hieronymus Stunden, viele Stunden vergehen müßten, und er steht nur auf den höchsten noch nicht festgekitteten Steinen des Thurmes, der selbst mit zu beben schien. Ehe jene Hülfe kommt, kann er verloren sein, kann aber auch nun zugleich mit Ulrich hinabstürzen, anstatt von ihm gerettet zu werden.«

Elisabeth mochte nicht weiter hören, sie wollte selbst sehen, und riß die Kirchenthür auf, ehe es der Propst verhindern konnte. In wenig Augenblicken stand sie selbst dem Gerüste gegenüber, von dem die Baubrüder das Volk zurückdrängten, das indeß sich daselbst zusammengefunden,[86] von dem Getöse herbeigelockt, das weithin geschallt war.

Die Steinmetzen waren alle herbeigeeilt, um Hülfe zu leisten, unzählige Hände waren beschäftigt, das Gerüst zu stützen, und unzählige Augen blickten ängstlich zu dem Thurme hinauf, auf dessen oberstem Gemäuer Hieronymus gleich einer Bildsäule stand und keine Möglichkeit sah, herabzukommen. Der Aufblick zu ihm schon machte Viele schwindeln – wie mochte dem zu Muthe sein, der da oben stand? – Und weiter unten ging Ulrich ebenso einsam über die schwankenden Balken, die mit der vorhin brechenden Stütze ihren sichersten Halt verloren hatten. Eine große Leiter vor sich her balancirend ging er die gefährliche Bahn. Am obersten Ende der Leiter hatte er einen Strick befestigt. Jetzt hatte er sich dem Thurm genähert, hielt die Leiter hoch empor und rief Hieronymus zu, den Strick zu fassen und ihn an das Gemäuer irgendwie zu befestigen. Hieronymus neigte sich herab – er schien in der Luft zu schweben, man meinte schon ihn stürzen zu sehen – ein jammervoller Schrei klang jetzt unten aus der schauenden Menge, eine alte Frau drängte sich hindurch und rief verzweifelnd:[87]

»Mein Sohn, mein einziger Sohn!« Es war Mutter Martha, die auch das Gekrach und die ahnende Sorge des Mutterherzens herbeigelockt.

»Welcher ist Euer Sohn?« fragte Elisabeth; »ach, ich kann mir denken, was Ihr empfindet – ich empfinde es mit Euch!«

»Ihr?!« sagte Mutter Martha mit dem Tone des höchstens Erstaunens, da es ihr überhaupt sehr unerwartet war, so plötzlich mitten unter dem Volkshaufen neben der stolzen Frau von Scheurl zu stehen, die sonst immer so streng jede Berührung mit dem Volke vermied und es jetzt nicht achtete, wie ein Tagelöhner mit schmutzigem Stiefel auf ihrer seidenen Schleppe stand und ein zerlumpter Betteljunge mit den Quasten ihres Aermels spielte – »Ihr?« wiederholte Mutter Martha, »Ihr fühlet das, die Ihr für keinen von diesen Beiden, nachdem sie ihr Leben für Euch gewagt, ein Dankeswort hattet? Pfui, schämt Euch; viel eher glaub' ich, Ihr freut Euch, wenn die wackern Burschen hier verunglücken, dann könnt Ihr vollends vergessen, was sie für Euch gethan – das wollt Ihr wohl mit abwarten.«

Maler Beyerlein, der auch des Weges gekommen war, um bei der Teppichberathung der Frauen in der Kirche mit gegenwärtig zu sein und sich jetzt bis zu[88] Elisabeth durchgedrängt hatte, klopfte die alte Frau auf die Schulter und sagte:

»Gute Frau, Ihr wißt gewißlich nicht, mit wem Ihr sprecht, daß Ihr Euch solcher frechen Rede unterfangt – das ist die edle Frau von Scheurl.«

Martha schien nicht zu hören, all' ihre Sinne waren wieder in ihren Augen, mit denen sie an dem Thurme und an ihrem Sohne hing. Er hatte jetzt die Leiter oben befestigt, unten hielt sie Ulrich; aber es war nur ein schmales Brett, auf dem er stand – nur einen Schritt fehl, und er stürzte hinab, oder die Leiter entglitt ihm und riß ihn mit, wenn der kräftige Hieronymus auf ihr stand. Jetzt hatte er sie betreten – die Volksmenge hielt den Odem an – da klang ein Betglöckchen aus dem Clara-Kloster herüber. Einzelne knieeten nieder, unwillkürlich folgte die Menge diesem Beispiel, und mit einem Male lagen Alle auf den Knieen, wortlos für die Baubrüder zu beten, die in solcher Todesgefahr schwebten; Elisabeth knieete dicht neben Martha und der Maler hinter Beiden, um seine edle Gönnerin vor der alten Frau zu beschützen, die ihm nicht recht bei Sinnen zu sein schien.

Jetzt hatte Hieronymus die letzte Sprosse betreten – entweder mußte er nun über Ulrich, der knieend die[89] Leiter hielt, hinwegsteigen, oder dieser sie loslassen und vor ihm her gehen. Wie es schien, unterhandelten die Beiden darüber. Das war der entscheidende Moment: ließ Ulrich los, so konnte Hieronymus mit der Leiter herabstürzen; ließ jener nicht los, bis dieser über ihn hinweg das schwanke Brett betreten, so konnte Ulrich um so sicherer hinabfallen – und außerdem war noch für beide Fälle eigentlich das Wahrscheinlichere, daß beide fielen.

Ulrich's Beharrlichkeit hatte gesiegt – Hieronymus war über ihn hinweggeschritten! Jetzt – ein Aufschrei der Menge – ein Wegwenden und Verhüllen der bleichen Gesichter, und dann doch wieder Hinaufwenden und Schauen – ein krachender Ton – ein jählinger Fall – ist's Ulrich? – ist's Hieronymus? – – »Gott sei Dank!« »Gelobt sei Jesus Christus!« murmelt und schreit es durch die Menge – es ist nur die Leiter, die Ulrich sich selbst aufrichtend losgelassen, die nun erst an den Thurm zurückschlägt und von da den Strick zerreißend, mit dem sie befestigt, herunterfällt und unten zersplittert – so kann auch der Mensch zerschellen, der hier abgleitet! –

Einige Minuten noch schwebten die Baubrüder in Todesgefahr – dann haben sie das noch feste Gebälk[90] erreicht. Ein donnernder Jubelschrei begrüßt die Geretteten – bald darauf stehen sie wohlbehalten unten vor der Kirche und Hieronymus umarmt Ulrich als seinen Retter! Die andern Baubrüder, der Werkmeister und Pallirer mitten inne, begrüßen die beiden Helden des Augenblickes; Mutter Martha will zu dem Sohne eilen, aber ihre Kraft hat nur gerade so weit gereicht, als sie in ängstlicher Spannung des Ausgangs harrte, der den Sohn ihr rauben, zerschmettern konnte – jetzt dachte sie erst: »wenn es nun doch geschehen wäre?« und vor so gräßlicher Vorstellung versagten ihr die alten Füße den Dienst – sie stürzte auf das Straßenpflaster nieder.

Niemand kümmerte sich um die alte Frau; aber jetzt eilte Elisabeth ihr nach, hob sie auf, stützte sie an sich und sagte zu dem Maler: »Sag't es dort dem Baubruder, daß seine Mutter hier ist.«

Der Maler stand unschlüssig. Daß die edle Elisabeth diesem Weibe beistand, das sie erst frech geschmäht, erschien ihm zugleich unbegreiflich und gefährlich, und als Elisabeth ihn drängte, ihr Geheiß zu befolgen, sagte er: »Wahrlich, ich male Euch noch einmal als Heilige der Barmherzigkeit gerade so, wie Ihr jetzt dasteht[91] – eine echte Christin, die, wenn man sie auf den einen Backen schlägt, den andern noch darreicht.«

Frau Martha war nicht etwa ohnmächtig oder bewußtlos geworden, sondern sie hatte nur ebenso an allen Gliedern gezittert, daß sie gefallen war, und auf dem Steinpflaster hatte sie sich nun die Füße verstaucht und das eine Bein aufgeschlagen, daß sie nicht zu gehen vermochte – sie mußte sich also den Beistand der Frau Scheurl gefallen lassen, und traute in der That kaum ihren eigenen Augen, daß diese ihn ihr leistete. Sie war zu beschämt, um ein Wort des Dankes zu sagen, und Elisabeth zu stolz ein Wort zu sprechen, wo sie jetzt mit einer That sprach – so stand das sonderbar zusammen passende Paar bei einander.

Jetzt eilte Hieronymus auf seine Mutter zu – Elisabeth legte sie in seine Arme. Ulrich stand etwas von fern, seine Blicke begegneten denen Elisabeth's – dann kam der Propst und begrüßte auch die Geretteten.

Gleichzeitig erscholl feierliches Geläute – es rief die Baubrüder in die Lorenzkirche, darinnen ihr Kaplan ein Te Deum angeordnet hatte, zum Danke für die Rettung aller Gefährdeten und der Verhütung weiteren Unglückes.[92]

Schnell waren die Baubrüder alle, von den Meistern bis herab zu den Lehrlingen zum Zuge geordnet und gingen in die Kirche; aber obwohl sie sonst ihren Gottesdienst allein abzuhalten pflegten, so konnten weder, noch wollten sie es diesmal hindern, daß auch die profane Menge ihnen nachdrängte und andächtig froh bewegt, wie sie erst angstvoll gebetet hatte, mit einstimmte in den ambrosianischen Lobgesang.

Inzwischen hatten sich auch die andern Stickerinnen zu den Gobelins mit eingefunden, und sie alle knieeten vereint an einem Seitenaltar und dankten – am innigsten Elisabeth Scheurl und Charitas Pirkheimer.

Als sie sich vom Gebet erhoben, sagte diese leise zu Elisabeth: »Nun ist mein Geschick entschieden; ich konnte noch schwanken – aber vorhin, als die Sense des Todes über – über den Baubrüdern schwebte« (sie wiederholte sich, weil sie keinen Namen nennen wollte) – »gelobte ich, wenn sie die Heiligen beschützten, mich dem Kloster zu weihen. Von diesem Augenblicke an betrachte ich mich als eine Braut des Himmels!«

Elisabeth umarmte die Freundin. Sie billigte im Innern ihren Entschluß nicht – aber sie ahnte ihn: Charitas wußte seit diesem Augenblick, daß sie liebte,[93] wo sie nicht lieben durfte – und ging in das Kloster! Hier konnte sie im Geiste einen Tempel bauen zu Ehre Gottes, wie der, zu dem ihre Gefühle schweiften in der Wirklichkeit – sie wählte eine Gemeinschaft der Heiligen, weil die irdische ihr versagt war.[94]

Quelle:
Louise Otto: Nürnberg. Band 1–3, Band 3, Bremen 21875, S. 69-95.
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