Abendgang

[191] Des Frostes grimme Riesenschlange

Hielt auf den öden Fluren Wacht;

Wir gingen einsam durch die bange,

Die trostberaubte Winternacht.


Ich sah an jedem Baum und Strauche

Die Siege, die der Tod erficht;

Der Nordwind schlug mit scharfem Hauche

Die Locken mir um's Angesicht.


Bedeckt von dunkeln Wolkenflören,

Blieb unsichtbar des Mondes Bild,

Als wollt' er das Geheimniß ehren,

Das unsern trüben Bund umspielt.
[192]

Ich wagt' es nicht, den Bann zu brechen,

Der mich zu ernstem Schweigen zwang,

Und jene Sehnsucht auszusprechen,

Mit der die Seele in mir rang.


Denn wie vom leisesten Berühren

Die reife Frucht vom Baume fällt,

So kann ein Wort den Geist entführen,

Der schon gereift für jene Welt. –


Als ob du um die Schauer wüßtest

Mir zugeweht aus fernem Raum,

Verstummtest du und schweigend küßtest

Du meines schwarzen Schleiers Saum.


O laß uns so, mit frommem Munde,

Den Schleier küssen, glauberfüllt,

In welchen sich die höchste Kunde,

Das dunkelste Geheimniß hüllt.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 191-193.
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