Erscheinung

[11] So hab' ich wieder dich gesehen

So ernst, so wahrhaft und so mild,

Daß aus dem Grabe zu erstehen

Mir schien vergangner Zeiten Bild.


O theurer Schatten todter Liebe!

O geisterhafte Traumgestalt,

Die durch der jetz'gen Stunden Trübe

Versöhnungsmild, vermittelnd strahlt!


Weil nächt'ges Dunkel, nächt'ges Schweigen

Der Schmerz in meine Brust gebracht,

Seh' ich dich still zu mir dich neigen;

Denn Geister wandeln nur bei Nacht.
[12]

So mag die Nacht denn ewig währen,

Die sehnsuchtsvoll mein Wunsch erkürt,

Weil sie dem Blick voll Glut und Zähren

Doch Deinen Geist vorüberführt.


So mag die Nacht denn ewig dauern.

Da doch hinfür kein Erdentag

Aus Deinen tiefen Todesschauern

Zum Leben dich erwecken mag!


Wie sollt' ich vor dem Tag nicht beben?

Er weckte nicht mein todtes Glück

Und scheuchte selbst sein Traumesleben

In's kalte, dunkle Grab zurück.

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 11-13.
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