Rückblick

[77] Als heute ich ein schlichtes Lied gelesen,

Das du einst schriebst, an Lieb' und Jugend reich,

Da zuckt' es schmerzlich durch mein tiefstes Wesen

Und regungslos verharrt' ich stumm und bleich.


Die Hand gepreßt in meine dunkeln Haare

Und Todtenklage im gebrochnen Blick,

Rief ich mir jene längstversunknen Jahre,

Wo jugendlich dein Herz geglüht, zurück.


O Gott! so tief hast damals du empfunden!

So heiß geliebt, so kühn und wild gehaßt!

So leicht der Wahrheit Sonnenweg gefunden,

Ein stolzer Königsadler ohne Rast!
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Und jetzt! und jetzt! o sprich, wie soll ich's fassen? –

Was in dein innerst Leben schien getaucht,

Dein strömend Lieben, dein allmächtig Hassen

Versiegt ist's und entschlummert und verhaucht!


Der schwerste Fluch hat furchtbar dich getroffen:

Ein greises Herz in einer jungen Brust,

Das, schon zu alt zum Glauben und zum Hoffen,

Noch Hohn spricht der Erinn'rung heil'ger Lust.


Entthronter Fürst, dem tückisch schlau das Leben

Der Krone Zier, der Schätze Glanz entwand,

Und zur Entschädigung ihm nichts gegeben,

Als nur den kargen Jahrsgehalt: Verstand!


Ja, du bist klug! Allein soll ich es loben,

Daß, wo ein träum'risch Paradies einst stand,

Wo sich ein Athos königlich erhoben,

Jetzt nur ein wohlbestelltes Ackerland?


Soll – doch genug der Worte nun, der herben!

Gelös't ist ja auf ewig unser Bund!

O könnt ich unvermißt und einsam sterben,

Ein wundes Reh im tiefen Waldesgrund!

Quelle:
Betty Paoli: Gedichte. Pest; Leipzig 21845, S. 77-79.
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