Die Reichsgeschichte der Thiere

[123] Die Thiere lebten viele Jahre

In friedlicher Demokratie;

Doch endlich kamen sie einander in die Haare,

Und ihre Republik versank in Anarchie.

Der Löwe machte sich den innern Streit zu Nutze

Und bot sich ohne Sold dem kleinern Vieh,

Als dem gedrückten Theil, zum Schutze,

Zum Retter seiner Freyheit an.

Er wollte blos des Volkes Diener heißen,

Und brauchte weislich seinen Zahn

Im Anfang nur die Räuber zu zerreißen.

Als dies die frohen Bürger sahn,

Ernannten sie zum wohlverdienten Lohne

Den Diener feyerlich zum Chan,

Versicherten die Würde seinem Sohne,

Und gaben ihm die Macht die Aemter zu verleihn,

Um kräftiger beschützt zu seyn.

Nun sprach der neue Fürst aus einem andern Tone:

Er gürtete sein Haupt mit einer Eichenkrone,

Enthob Tribut, und wer ihm widerstand,

Fiel als Rebell in seine Pranke.

Der Tiger und der Fuchs, der Wolf, der Elephant[124]

Ergaben sich aus List, und jeder ward zum Danke

Zum königlichen Rath ernannt.

Itzt halfen sie dem Chan die schwächern Thiere hetzen,

Bekamen ihren Theil an den erpreßten Schätzen,

Und raubten endlich trotz dem Chan.

Ha, rief das arme Volk mit tiefgesenkten Ohren

Und mit geschundner Haut, was haben wir gethan! –

Allein der Freyheit Kranz war nun einmal verloren,

Der Löwe war und blieb Tyrann;

Er ließ von jedem Thier sich stolz die Pfote lecken,

Und wer nicht kroch, der mußte sich verstecken.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 123-125.
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