Das Schaf

[17] Ein Fleischer riß ein Lamm im Schlaf

Vom Euter seiner frommen Amme:

»Grausamer, ächzt das bange Schaf,

Stoß, ungetrennt von meinem Lamme

Auch mir dein Meßer in das Herz!«

Nein, rief der Mann mit bitterm Scherz,

Ich muß dich erst noch fetter machen.

»Du mich?« erwiedert, mit dem Schmerz

Der Niobe, die arme Mutter:

»Das wirst du nicht.« Von nun an aß

Sie keinen Halm von ihrem Futter

Und trank nicht mehr. Der Fleischer sahs

Und trieb sie schon am vierten Tage

Zur Würgbank: lieber schlacht ich dich,

Als daß ich dich zum Schinder trage,

Sprach er. »Da siehst du's, Wüterich;

Versetzt das Schaf mit heitrer Seele,

Es ist auf Erden kein Tyrann

So mächtig, daß er dem befehle,

Der sterben will und sterben kann.«

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 3, Tübingen 1802, S. 17-18.
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