Das Gebet

[200] Ein Eremit am Libanon,

Den man als einen Heilgen ehrte,

Und welchen Gott zum öftern schon

Durch himmlische Gesichte lehrte,

Lag flehend einst vor seinem Thron.

Da nahte sich in stiller Feyer

Eloah, Fürst der Seraphim,

Berührt sein Aug und spricht zu ihm:

Sieh jenes Weib im Nonnenschleyer

Und schwarzen, härnen Bußtalar;

Sie kniet am ernsten Sühnaltar

Und ein Gebet des Isaiden

Strömt über ihre Lippen hin;

Und hier, wie sehr von ihr verschieden

Ist diese junge Städterin!

Die Freude lacht aus ihren Mienen

Und mit erhitzter Emsigkeit

Wirkt sie ein buntes Feyerkleid:

Sprich, welche betet unter ihnen?

Die am Altar, erwiedert er,

Und fällt aufs Antlitz und erröthet.

Du irrst, sie sagt Gebete her,[201]

Versetzt der Geist, und diese betet.

Sie? rief der Klausner: ihre Hand

Wirkt ja mit ärgerlichem Fleiße

Ein Kleid ... für eine arme Waise,

Sprach Gottes Herold und verschwand.

Quelle:
Gottlieb Konrad Pfeffel: Poetische Versuche, Erster bis Dritter Theil, Band 2, Tübingen 1802, S. 200-202.
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