Viertes Buch
1823–1843

Noch ehe das vorige Jahr, das sehr heiß und trocken war, und auch uns im Innern unsers Hauses viel heiße Leidenstage gebracht hatte, ganz zu Ende war, fragte mich mein älterer Schwager, Franz von Kurländer, der uns von jeher ein lieber und treuer Freund gewesen war, ob er uns nicht einen seiner Amtsgenossen, den Landrat von Pelzeln, aufführen dürfe? Der Name dieser Familie war mir lange ehrenvoll bekannt gewesen. Des Landrats Vater, ein treuer Freund des berühmten Vizepräsidenten von Sonnenfels und des großen Tonsetzers Chevalier Gluck, war als Beamter und Schriftsteller sehr geachtet; dessen (des Hofrats) Bruder aber hatte als Geschichtsschreiber Böhmens sich in der gelehrten Welt einen bedeutenden Ruf erworben und wurde überall mit großem Ruhm, sowie überhaupt die Familie mit Achtung genannt. Wir willigten daher sehr gern ein, die Bekanntschaft dieses Herrn Landrats zu machen, der so berühmte Verwandte hatte und selbst, wie Kurländer und jedermann sagte, ein sehr achtungswürdiger Mann war. Ich vermutete eine literarische Neugierde in dem Abkömmling zweier Schriftsteller und dachte an nichts weiters, als Kurländer uns eines Nachmittags den jungen Herrn Landrat vorstellte, der, ohne im geringsten schön zu sein, durch Gesichtszüge, welche Geist und feines Gefühl verrieten und durch einen gefälligen Anstand Wohlwollen einflößte. Nicht ohne, einiges Erstaunen ward ich aber gewahr, daß der neue Bekannte, statt, wie ich glaubte, sich um literarische Gegenstände zu bekümmern, ein Gespräch[167] über Grillparzers Sappho und Melitta mit meiner Tochter begonnen und sich recht darin vertieft hatte.

Er kam von nun an öfters, und war uns stets ein willkommener Besuch, indem wir nach und nach in ihm einen sehr rechtlichen und zugleich mit der ältern und neuern Literatur bekannten Mann und hochgebildeten Geist erkannten.

Gegen das neue Jahr zu trat nach lange milder Witterung scharfe Kälte ein, und es fiel eine ungeheure Menge Schnee, welche gegen sechs Wochen liegen blieb. Wir lebten etwas einsamer in dieser Zeit, weil Besuche in der Vorstadt nicht ohne Beschwerlichkeit waren; aber der neue Bekannte fand den Weg nicht zu mühsam und erschien gegen meine Erwartung öfters an stillen Abenden bei uns, wo wir uns ganz allein oder nur in Gesellschaft unsers verehrten Freundes Vierthaler befanden.

Ich konnte nicht umhin zu bemerken, daß Pelzeln meiner Tochter viele Aufmerksamkeit beweise; ich sprach mit Pichler darüber, wir zogen Erkundigungen ein. Sie fielen alle zum Vorteil des besprochenen Mannes aus, der jetzt schon eine bedeutende Stelle bekleidete, bei seinen Talenten und dem Rufe, dessen er genoß, wahrscheinlich eine glänzende und schnelle Laufbahn machen konnte, und dessen Charakter, soviel es uns zu beurteilen möglich war, wie jedermann, der ihn genauer kannte, bestätigte, unsers einzigen Kindes Lebensglück an seiner Seite zu sichern schien. Ruhig sahen wir daher zu, wie die Gemüter sich einander näherten, und der Gedanke, von einem so würdigen Manne geliebt zu werden, zuerst wieder einige Freudigkeit und Selbstzuversicht in meiner Tochter Herzen weckte. Denn die Art, wie Pr. sich in den letzten anderthalb[168] Jahren gegen sie betragen und sie zur Aussprechung ihrer Trennung gezwungen, hatte die düstere Überzeugung in ihr erregt, daß sie nicht imstande sei, einem bedeutenden Manne bleibende und beglückende Neigung einzuflößen. Wohl hatte sie von jeher, seit sie in der Welt aufgetreten, viele Verehrer und einige bedeutende Freier gehabt, jene aber hatten großenteils, vermöge ihrer Stellung in der Welt keinen Anspruch auf die Hand eines Mädchens, wie Lotte war, machen können, und für diese hatte ihr Herz zu wenig gesprochen. Um so mehr Eindruck machte also bei ihr die Bewerbung eines Mannes, der mit einem ausgezeichneten Charakter eine angenehme Gestalt und eine jetzt schon bedeutende Stellung in der Welt verband. Die Sache ging ihren Weg. Pelzeln warb förmlich bei uns um sie, und auf den Frühling war die Hochzeit festgesetzt.

So sehr diese glückliche Wendung der Dinge, die oft der Gegenstand meines innigsten Gebetes zu Gott und zur heiligen Jungfrau gewesen war, von deren Muttergefühl ich verstanden zu werden und wo möglich durch ihre Fürbitte Hilfe zu erhalten gewünscht und gehofft hatte, mein Herz beruhigte und uns betagten Eltern die tröstende Versicherung gab, unser einziges geliebtes Kind nach unserm, vielleicht nahen Hinscheiden unter dem Schutze eines edeln und liebenden Gemahls versorgt zu wissen, – so konnte ich damals – und kann noch jetzt nicht umhin, mich über die sonderbare Erscheinung in dem Herzen meiner Tochter zu wundern, wie es nämlich diesem Herzen möglich war, nachdem es unlängst einen Jüngling wie Pr. geliebt und allem Anscheine nach leidenschaftlich geliebt hatte, nun in nicht langer Zeit darnach mit warmem Gefühl einen[169] andern zu umfassen, der in allen Stücken und nach jeder Seite hin das Widerspiel des vorigen war. Nur die einzige Erklärung bot sich mir bei näherer Betrachtung dar, daß jene Neigung mehr durch die blendenden Eigenschaften, jugendliche Wohlgestalt und eine übergroß gezeigte Leidenschaft entstanden, folglich mehr auf Phantasie als auf den wirklich erkannten Charakter des glänzenden jungen Mannes gegründet, und eben durch dessen ungleiches, rätselhaftes Betragen in gleicher Wärme erhalten worden war. Sowie Zeit und bittere Erfahrungen das Mädchen über die wahre Sinnesart des Geliebten enttäuscht, und er aufgehört hatte, der Halbgott zu sein, den sie früher in ihm gesehen, wandte sich ihr ganzes Wesen heftig von ihm und von allem ab, was ihm glich, und kehrte sich gerade dem Entgegengesetzten zu. So allein kann ich mir diesen gänzlichen Absprung der Empfindung in einem, übrigens ganz reinen und wahren Mädchenherzen erklären.

Nun begann eine frohe, aber sehr geschäftige Zeit für mich. Die Ausstattung der Tochter, die Einkäufe, die Besprechungen mit Handwerkern und Arbeiterinnen, Besuche und Gegenbesuche erhielten mich in reger Spannung, und endlich kam die Zeit der Vermählung heran. Pelzeln lebte mit seiner Mutter, der Witwe des Hofrats, einer sehr verständigen, erfahrnen Frau, die ihren Sohn außerordentlich, wie er es verdiente, liebte, und ebenso warm von ihm geliebt wurde. Es war also von vornherein ausgemacht, daß meine Tochter nebst der Schwiegermutter bei ihrem Manne leben, und sogleich nach der Hochzeit zu ihnen ziehen sollte, weil vorderhand die Wohnung groß genug war und für den Herbst eine andere gesucht werden sollte. Demgemäß wurden die Anstalten getroffen, und Pelzeln entschloß[170] sich, wofür wir Eltern ihm herzlich dankbar waren, in unserm Hause das zweite Stockwerk für nächsten Winter zu beziehen. Das war mehr Freude, als ich erwartet hatte, denn ich hatte mich bereits ganz darauf eingerichtet, mein Kind nun oft einen oder mehrere Tage nicht zu sehen, wegen der Entfernung von der Stadt.

Unsere Freunde Zay hatten, vermöge ihrer wahren Anhänglichkeit an uns, beschlossen, bei der Hochzeit unsers lieben Kindes gegenwärtig zu sein, und so machten sie denn zu diesem Ende die Reise von Bucsan hierher, und die Vermählung wurde am 20. April, an dem Tage, an welchem mehr als fünfzig Jahre früher meine teuern Eltern getraut worden waren, gefeiert. Die Gesellschaft war nicht sehr zahlreich; außer des Bräutigams Mutter, der verwitweten Hofrätin, und den guten Zay, noch meines Mannes Bruder, der Buchhändler samt seiner Frau, meine beiden Schwäger Kurländer samt des jüngern Frau, der ehemaligen Fräulein Schechtern, die er drei Vierteljahre vorher geheiratet hatte, und die Beistände – auf Pelzelns Seite zwei seiner Jugendfreunde, Hofrat von Burgermeister und Appellationsrat von Schmerling; für Lotten ihr Oheim Pichler und unser hochverehrter Freund Regierungsrat Vierthaler. Franz Kurländer war Brautführer, als der einzige unverheiratete männliche Verwandte, und Fräulein Jeanette von Maillard übernahm das Amt der Kranzjungfer.

Es war ein schöner, ein unvergeßlicher Tag, an dem ein paar gute, rechtliche, sich warm liebende Menschen vor Gottes Thron durch Priesters Segen für ihr ganzes Leben vereinigt wurden. – Ach, leider dachte wohl Niemand der Anwesenden daran, daß diese Verbindung[171] nur wenige Jahre währen sollte! So begann diese Ehe unter glücklichen Auspizien. – Lotte war damals ihrem Bräutigam von ganzem Herzen zugetan und achtete ihn außerordentlich; – leidenschaftlich verliebt aber schien sie mir nicht, und gerade diese ruhigere Neigung war ihrer Gemütslage und den kaum verwischten früheren Eindrücken gemäß. Späterhin wuchs sie im Zusammenleben mit dem edlen, geistvollen und treuen Lebensgefährten bis zu einer Höhe der Leidenschaftlichkeit, über welche wir Eltern, wenn wir alle Verhältnisse und Umstände erwogen, uns nicht genug wundern konnten, aber freuen mußten.

Pelzelns Mutter, eine kränkliche und an ein äußerst stilles, einsames Leben gewohnte Frau, hatte sich bei der Trauung in der Kirche – es war den Tag vorher ein starkes Gewitter gewesen und die Luft sehr abgekühlt – erkältet. Sie zog gleich nach der Hochzeit in ihre Landwohnung nach Mödling, wo sie jeden Sommer allein zubrachte, und ihr Sohn sie nur jeden Samstag abends besuchte und bis Montag früh bei ihr verweilte. Dort wurde sie ziemlich ernstlich krank, was den Sohn und somit auch Lotten mit großer Besorgnis erfüllte. Sie erholte sich indes bald, und so dauerte die angenehme Stille in unserer Familie bis zum Juli, wo plötzlich der jüngste und letzte Bruder meines Mannes, eben der, welcher Zeuge bei meiner Tochter Trauung gewesen, gefährlich erkrankte und in wenig Tagen starb. Mein Mann hatte ihn sehr geliebt; er hatte, aus Liebe zu ihm, große Opfer gebracht, deren für uns nachteilige Folgen sich noch bis nach dreißig Jahren erstreckten. Er war also viel mehr durch diesen Verlust gebeugt, als früher durch den des älteren geistlichen Bruders.[172]

Zum ersten Male reiste ich nun allein nach Ungarn zu meinen Freunden, traf dort noch einmal mit der teuern Therese zusammen, die jetzt ihre Zeit zwischen ihrer Schwester Minna, welche in Agram lebte, und ihrer Freundin Zay teilen und sich wechselweis bald bei dieser, bald bei jener aufhalten wollte und erfreute mich das letztemal an ihrem so liebenswürdigen, so beglückenden Umgange. Auch hier dachte ich nicht, daß dies Band so bald reißen werde; aber gerade diese vielfachen Reisen, diese Fatiguen, denen die Kräfte der alternden Freundin nicht mehr gewachsen waren, mochten viel zu ihrem bald darauf erfolgten Tode beigetragen haben.

Damals also, i.J. 1823, waren wir noch recht froh beisammen, und ich genoß den durch die Umstände ziemlich verkürzten Aufenthalt recht vergnügt in diesen freundlichen Umgebungen.

Nach Wien zurückgekehrt, wurden Anstalten zum Séjour in Baden gemacht, der meinem Manne das vorige Jahr so sehr zugesagt hatte, und wo er seine Ferien heuer zuzubringen beschloß. Meine Tochter wohnte während dieser Zeit auch nicht fern von uns, in Mödling, mit ihrem Manne, der ebenfalls seinen Urlaub bei seiner Mutter zubrachte, und wir sahen und genossen uns während dieser Zeit viel öfter, als geschehen wäre, wenn Pelzeln in Wien geblieben wäre.

Schon vor längerer Zeit, schon während des Befreiungskrieges, hatte ich von der, in ganz Deutschland und wohl auch in Frankreich bekannten und berühmten Frau Helmina von Chézy einige Briefe erhalten und beantwortet. Sie war damals in den Rheingegenden bei den preußischen Spitälern beschäftigt gewesen und hatte sich durch gutgemeinten, aber wenig überlegten[173] Eifer viele Verdrießlichkeiten zugezogen. Jetzt war sie nach Wien und von da nach Baden gekommen, wo sie, begleitet von ihren zwei Söhnen, mich freundlich aufsuchte. Ich hatte sie mir anders vorgestellt und fand eine kleine, untersetzte Frau mit sprechenden Augen und freundlichen Zügen, die in frühern Jahren hübsch gewesen sein mochten, denen man aber jetzt nicht bloß die Spuren vorgerückten Alters (sie mochte zwischen 40–50 Jahre alt sein), sondern einer nicht sorgenfreien, nicht bequemen Existenz ansah. Auch antwortete sie mir, als ich fragte, wo ihr gewöhnlicher Aufenthalt sei (denn damals war sie von Dresden gekommen): ich habe keine Heimat!

Ich kann nicht sagen, wie wehmütig mich dies Wort ergriff! Keine Heimat! Eine Frau von Geburt (eine Baronesse Klencke), von ausgezeichnetem Talent und mit zwei herangewachsenen Söhnen, die erzogen und versorgt werden sollten! Das war es auch vermutlich, was sich mir sogleich in ihrer ersten Erscheinung zeigte, diese Entfremdung von aller geregelten Häuslichkeit und Stetigkeit des Lebens; dieser ihrer Herkunft und Stellung fast widersprechende Anzug, – ihr, wenn ich so sagen darf, weather-beaten shape, wie man von Soldaten oder Seeleuten sagt: weather-beaten features! Übrigens mußte die geistige Bildung, die sich in ihrem Gespräche zeigte, sowie eine außerordentliche Gutmütigkeit, welche sie so oft bewog, bei Notleidenden oder solchen, die sie unterdrückt glaubte, als Helferin und Retterin aufzutreten, für sie gewinnen. Von da an blieb Frau v. Chézy einige Jahre in Wien, nachdem sie vorher in Berlin, Paris, Dresden usw. gelebt hatte, und später wieder sich in Oberösterreich, Paris, München, Stuttgart usw. abwechselnd aufhielt. Sie schien[174] sich in Wien wohlzugefallen. Vorzüglich schloß sie sich an die Familie Schlegel an, die sie noch aus Paris kannte und dort einige Zeit mit ihnen gelebt hatte, und auch in dem Kreise der Frauen von Pereira und Ephraim ward sie bald heimisch, und so sahen wir uns denn öfters, teils in diesen Häusern, teils bei mir.

Da mein Geist von der drückenden Spannung, in welcher ihn das peinliche Verhältnis meiner Tochter zu Pr. durch ein paar Jahre gehalten hatte, nunmehr frei geworden war, indem ich dieses einzige, geliebte Kind an der Seite eines trefflichen Gemahls versorgt und glücklich sah, erwachte auch wieder die Lust, etwas zu schaffen, und da der historische Roman durch Walter Scott jetzt solchen Anklang gefunden hatte, wollte auch ich mich in diesem Fache versuchen und wählte einen vaterländischen Stoff: »Die Belagerung Wiens (1683)«. Dazu suchte ich mir nun die Daten aus Geschichts- und Chronikbüchern zusammen, las fleißig und bewarb mich auch um Auskunft über die Lokalitäten; denn ich bin überzeugt, daß ohne Autopsie, ohne genaue Kenntnis des Schauplatzes, auf welchem man eine Geschichte vorgehen läßt, nie eine naturgetreue, lebendige Schilderung zu erreichen ist. So begab ich mich denn mit Lust und Liebe an meine neue Arbeit, und so entstand dieser Roman, in welchem ich einzelne Züge von mir bekannten Charakteren und einzelne Ereignisse, die ich erlebt, aufgenommen habe. Madame de Montolieu, die schon meinen »Agathokles« ins Französische – mit Haut und Haar übersetzt, das heißt, verfranzösiert hatte, wofür ich ihr nicht viel Dank wußte, hat auch den Siège de Vienne ins Französische übertragen, aber doch bei weitem treuer und naturgemäßer. Beim Agathokles ließ sie alles, was von Reflexion über Religion,[175] über damalige Lebensverhältnisse, Begebenheiten usw. vorkommt, ohne weiters aus, und gab nur die Fabel des Buches, indem sie mich in einem, übrigens recht freundlichen, ja mütterlichen Briefe – denn wir standen damals im J. 1814–15 ungefähr in unserm Alter so zueinander – versicherte, daß sie diese Auslassungen und Veränderungen habe vornehmen müssen, um den Roman nach dem Geschmack ihrer Landsleute einzurichten, womit sie diesen, wie ich glaube, kein Kompliment gemacht hat.

Nach dieser verstümmelten Übertragung hat ihn dann auch Herr Rasori ins Italienische übersetzt, dies aber nicht bekannt, sondern vermuten lassen, daß es ein Originalwerk von ihm selbst sei.

Im kommenden Herbst zog meine geliebte Tochter mit ihrem Manne und ihrer Schwiegermutter in unser Haus. Sie durfte damals schon auf Mutterfreuden hoffen, und wir waren sehr froh über alle diese günstigen Wendungen unserer häuslichen Verhältnisse. Auch hatte ich auf ein oftmaliges Zusammensein nicht bloß mit meiner Tochter, sondern auch mit Pelzeln und seiner Mutter gehofft. Aber diese Erwartung schlug fehl. Die Mutter war kränklich, ging wenig aus, und kam also auch nur selten zu uns herab. Lotte war oft bei uns, ging damals auch noch zuweilen mit uns zu ihren frühern Bekannten; aber dies hörte bald auf, denn ihr Mann sah es nicht gern, und es schien eine Art von System bei ihm zu sein, sie ihrem vorigen Kreise ganz zu entfremden und sie dafür in dem seinigen einheimisch zu machen. Daß mir das nicht ganz lieb war, läßt sich begreifen. Da aber des Schwiegersohnes übrige Eigenschaften so schätzbar waren, und meine Tochter sich an seiner Seite je länger, je glücklicher[176] fühlte, gingen wir über jene Verschiedenheit der Meinungen hinaus.


*


Das neue Jahr begann unter trüben Auspizien, und es bewährte sich auch als ein fatales in seinem Verlaufe. Meine Tochter, bereits im fünften Monate ihrer Schwangerschaft, erkrankte schwer an einer Verkältung, die eine Unterleibsentzündung nach sich zog, in welcher ihr zweimal Egel gesetzt werden mußten. Diese Krankheit, verbunden mit dem Zustand, in welchem sie sich seit fünf Monaten befand, flößte uns allen unnennbare Angst ein. Die geschickte und teilnahmsvolle Behandlung unsers Arztes und alten Freundes, des Barons von Türkheim, rettete sie diesmal, wie er sie schon mehrmal in der Ruhr und im Scharlachfieber gerettet hatte. Sie genas, konnte am neunten Tage schon auf eine Stunde aufstehen und besserte sich nun schnell. Aber die Frucht, welche sie in sich trug, fühlte doch die Rückwirkung des Sturmes, der den Körper der Mutter erschüttert hatte. Sehr leicht und glücklich wurde diese – nach unser aller Rechnung vielleicht um vierzehn Tage zu früh – von einem zwar gesunden, aber sehr kleinen und schwächlichen Knaben entbunden, der in der Taufe den Namen Theodor erhielt.

Die Mutter war nicht imstande, ihn zu stillen, wohl der eigenen, zurückgebliebenen Schwäche willen. Er bekam eine Amme und versprach ein schöner Knabe zu werden, denn seine Züge waren angenehm. Noch war er aber nicht drei Monate auf der Welt, als sich ein Sturm anderer Art über uns erhob. Mein Schwiegersohn, durch amtliche Verhältnisse bestimmt, war[177] am Ratstische durch eine vielleicht unüberlegte, aber sehr verletzende Rede seines damaligen Chefs beleidigt worden. Er konnte sich nicht entschließen, länger in diesem Collegio zu dienen und suchte höhern Orts um eine Versetzung in ein anderes Kollegium an, die zugleich eine Beförderung wäre. – Sein Wunsch ward ihm gewährt, denn seine Verdienste waren bekannt, aber nicht so, wie wir und vielleicht auch er gewünscht hatten. Er wurde zum Appellationsrat ernannt – in Prag, und sollte im Herbste Wien verlassen und sich auf seinen neuen Posten verfügen.

Ich finde, im eigentlichen Sinn, keine Worte, um zu bezeichnen, wie diese Nachricht, welche mein Mann eines Mittags nach Hause brachte, auf mich wirkte. Ich war nicht – wie man öfters sagt – vom Donner gerührt, ich war im eigentlichen Sinn vernichtet. Mein einziges, mein mir so teures und mit Recht geliebtes Kind, die Mutter eines holden Enkels, samt diesem zu verlieren, sie aus meiner Nähe für lange, vielleicht für immer scheiden zu sehen, ohne andere verläßliche Aussicht, als hier und dort in einem oder andern Jahre einen kurzen Besuch – und das jetzt, wo ich mich erst wieder recht an sie gewöhnt, und in die süße Gewißheit, unter einem Dache mit ihr zu wohnen, hineingelebt hatte! Meinem ärgsten Feinde möchte ich die Gefühle nicht wünschen, welche die folgenden Tage und Nächte mein zerrüttetes Gemüt bestürmten. Schlaflos, unter peinlichen Träumen, verschlichen die Nächte; am Tage mahnte jeder Gegenstand, jeder Blick auf meine Tochter mich an den nahe drohenden Verlust. Daß ich meine Zuflucht im Gebete zu Gott nahm, daß ich ihn um Ergebung in seine Fügungen, um Erleuchtung auf meinem nächtlich gewordenen Pfad anflehte, war wohl[178] natürlich. Am dritten Tage endlich ward mir in diesem Sinne Erhörung, und ich erkannte abermals, wie schon oft, die Kraft und den Nutzen des Gebetes. Es war, als riefe eine leise, aber vernehmliche Stimme in meinem Innern mir zu: Du hast deine Tochter zu sehr geliebt, hast zu sehr dein Glück auf sie gebaut, und das solltest du nicht, denn des Menschen Herz soll nie am Irdischen so fest hangen, darum entzieht dir sie Gott auf eine Weile oder auf lange.

Jetzt ward es mit einem Male Licht in meiner Seele, und die schmerzlichen Dissonanzen: warum denn diese Trennung statthaben und ich mein Kind verlieren sollte, nachdem es ohne jenes Streben ihres Mannes nach einer andern Anstellung so wohl hätte in meiner Nähe bleiben können? – lösten sich in eine ruhige, klare Schlußkadenz auf, daß das zum Besten meiner Seele sei – und wenn gleich mein Schmerz derselbige blieb, so wurde er von diesem Augenblick an ruhig und ergeben. Wie wahr empfand ich die Worte Fenelons: Tant qu'on veut le mal qu'on souffre il n'est point mal. Pourquoi en faire un vrai mal, en cessant de le vouloir.

So ergab ich mich denn in den Willen Gottes, und sah mit tiefem, aber ruhigem Schmerz die Vorbereitungen zur Abreise meiner Kinder, welche im September statthaben sollte, und die Schwiegermutter ging, wie natürlich, mit ihrem Sohn ebenfalls nach Prag. Uns riefen die Badner Bäder, deren mein Mann jetzt im eigentlichen Sinn jedes Jahr bedurfte, von Wien ab, noch ehe Pelzelns Abreise erfolgen sollte. Das tat unserer armen Lotte zu weh, sich jetzt schon von den Eltern, deren alles und Liebstes sie war, trennen, und jene sobald allein zu lassen. Sie entschloß sich daher zu[179] einem großen Opfer; sie ließ ihren Mann samt seiner Mutter und ihrem Kinde abreisen, das unter dieser Aufsicht wohl geborgen war, und kam zu uns nach Baden, um noch ein paar Wochen mit uns zuzubringen. Wir hatten dies durchaus nicht von ihr verlangt, ja wir weigerten uns beide ernstlich, dies Opfer anzunehmen, weil sich nicht ohne Grund voraussehen ließ, daß es ihr von einigen Personen werde übel gedeutet werden; aber ihre kindliche Pietät überwand diese Rücksichten, und so blieb sie denn ein paar Wochen bei uns, die wir mit wehmütiger Freude genossen. Sie empfand schon damals, daß sie abermals werde Mutter werden, und die Unpäßlichkeiten, welche ihr der Anfang jeder Schwangerschaft verursachte, trübten ebenfalls unsere letzten Freuden.

Ein paar Bekanntschaften machten wir während dieses Aufenthaltes in Baden, die sich dann auch in Wien dauerhaft an uns anschlossen und uns manche angenehme Stunden verschafften. Es waren ein Herr v. Graffen, aus Hamburg gebürtig, der hier Resident seiner Vaterstadt war, und ein Herr Hülsemann aus Hannover. Beide sehr gebildete und artige junge Männer. Graffen, bei weitem der Bedeutendere unter ihnen, hatte während des Freiheitskrieges in der hanseatischen Legion gedient, weshalb wir ihn unter uns den Hanseaten nannten, sowie er von einer Eigenheit seines Geistes, jedem Dinge aufs genaueste nachzuforschen, besonders im wissenschaftlichen Sinne, den Beinamen: Herr von Gründlich erhielt.

Wir kehrten hierauf noch mit Lotten nach Wien zurück, und es war uns eine große Beruhigung, daß zwei Schwestern ihrer Tante Pichler, der Witwe des Buchhändlers, samt dem Sohn derselben, dem Kousin[180] Lottens, gerade damals nach Prag reisten und meine Tochter mitnahmen. So war sie doch unter Freunden und Bekannten nach ihrer ersten Trennung von uns.

Wie weh mir war, als ich mich endlich allein im Hause fand – brauch ich nicht zu schildern. Aber ein großer Trost wurde mir durch den glücklichen Zufall, daß meine teure Freundin Schlegel, als sie vernahm, daß die Wohnung in unserm Hause leer geworden, sich entschloß, dieselbe zu beziehen. Ihre Nähe, ihr Umgang, die mannigfachen Ressourcen, welche ein gebildeter Mensch in diesem Hause finden konnte, das von so vielen bedeutenden einheimischen Personen und von den meisten interessanten Fremden besucht wurde, und vor allem die Freundschaft, die herzliche Teilnahme und der fromme Sinn Dorotheens taten meinem wunden Herzen unendlich wohl, und ich konnte ihren Entschluß, zu uns zu ziehen, nur als eine, zu meinem Troste gelenkte Fügung Gottes betrachten.


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Unser Leben war von nun an stiller als zuvor. Schon im Jahre 1823 hatten wir, weil Karl Kurländer und meine Tochter geheiratet und das Haus verlassen hatten, uns enger zusammengezogen und einen Teil der Wohnung an einen alten Bekannten und Freund vermietet. Nun war ich oft in dieser engern Umgebung den ganzen Tag allein, denn Pichler ging zeitlich ins Bureau, kam nur zur Essensstunde nach Hause, und verließ dies wieder nach dem Essen, um spät, oft gegen 9 Uhr erst, wiederzukehren. Obgleich ich von Kindheit an stets gern allein war, und sogar ein Bedürfnis fühlte, täglich einige Stunden völlig einsam zuzubringen, so war es mir doch eine Erholung und Freude,[181] jetzt recht oft – beinahe täglich – meine liebe Hausgenossin, Frau von Schlegel, zu besuchen. Am öftesten geschah dies abends, wo ich denn meistens angenehme Gesellschaft fand, wie Herrn von Klinkowström (den Vorsteher einer musterhaften Erziehungsanstalt in unserer Nähe), dessen Schwägerinnen Fräulein von Mengershausen, sehr angenehme Frauenzimmer; Herrn v. Bucholtz, einen sehr gebildeten, ja gelehrten und überaus achtungswerten jungen Mann, der mit seinem Freunde Hülsemann oft kam; Frau von Doré, ehemals Fräulein Caspers; Herrn Fendi, den geistreichen Maler, und sonst noch mehrere, teils hiesige, teils durchreisende Gelehrte, und ausgezeichnete Menschen. Sehr oft erschien auch die Gräfin L..a, die aber, wenn sie kam, stets eher den Herrn vom Hause in seinem Schreibezimmer besuchte, was wir meist dadurch erfuhren, daß der Bediente ihre Arbeit brachte und indessen bei der guten Schlegel niederlegte, die denn, klug und taktvoll wie sie war, dies dem Anschein nach ganz gleichgültig geschehen ließ, und der Dame, wenn sie endlich zu uns herüber kam, freundlich begegnete. Diese Andeutungen mögen dazu dienen, die Stellen von Schlegels treuer und ausschließender Liebe zu seiner Frau zu beleuchten, welche sich in dem etwas exzentrischen Aufsatze »Friedrich und Dorothea von Schlegel« finden, der bald nach dem Tode dieser unvergeßlichen Freundin in der Allgemeinen Zeitung stand.

In diesem Kreise fand ich die befriedigendste Unterhaltung, sowie ich in der edlen Schlegel herzlichen Neigung zu mir, in ihrem frommen Sinn und ihrer Achtung für Häuslichkeit und stilles Walten, Nahrung für mein Herz fand. Dorothea wußte ebenso richtig[182] über ein neu erschienenes literarisches Produkt, wie über die Zurichtung einer Speise, über irgendeine häusliche Arbeit zu urteilen, und bei ihr tat weder die Hausfrau der Schriftstellerin (denn sie hatte früher, aber nicht unter ihrem Namen, den Roman Florentin und manches andere erscheinen lassen) noch diese jener in ihrer prosaischen, aber nützlichen, ja notwendigen Wirksamkeit Eintrag. Und alle diese schönen Eigenschaften waren durch eine warme Frömmigkeit und stille Heiterkeit eines klaren, selbstbewußten Geistes verklärt.

Wohl könnte es mir nicht einfallen, das Übermaß von Frömmigkeit, in das sich Frau von Schlegel hineinverloren hatte, und das sie den Ansichten der Ligorianer, überhaupt dem Ultramontanismus so geneigt machte, zu billigen oder wohl gar zu verteidigen; ebensowenig als manche falsche Eingebung ihres jugendlichen Herzens, die sie zu vielem Tadelnswerten verleitete. Für mich existierte Dorothea nur, seit ich sie kennen gelernt, seit 1808, und da waren jene Verirrungen vorüber, zum Teil vergessen, zum Teil vergütet durch ein musterhaftes Betragen. Doch kann ich nicht umhin, zu erwähnen, daß manchmal ihr ein Wort, eine Andeutung entschlüpfte, die man wohl dafür auslegen konnte, daß ihr Gewissen ihr über jene Begebenheiten noch zuweilen Vorwürfe mache und ihre zu weit getriebene Frömmigkeit, ihr Versinken im Hyperkatholizismus von diesem beunruhigten Gewissen herrühre, das darin Büßung, Trost, Ruhe gesucht.

Noch eine andere freundschaftlich gesellige Erheiterung ward mir damals dadurch, daß meine älteste Jugendfreundin, Fräulein von Ravenet, die im Hause der Gräfin Esterhazy in Preßburg als Erzieherin gelebt, gerade ein Jahr, nachdem meine Tochter geheiratet,[183] also im Mai 1824, nachdem sie die Erziehung ihrer Elève vollendet und diese an den Altar begleitet hatte, nun selbst ihre Hand einem Manne reichte, den sie lange gekannt und geschätzt hatte, und der ihr durch 25 Jahre eine unverbrüchliche Treue hielt. Es war Herr Schödelberger, der als Schulmann, als Künstler und als Mensch sehr achtungswert, einer unserer bedeutendsten Landschaftsmaler, und im Umgang, trotz einiger Trockenheit, geistvoll und unterrichtet war. Diese werte Freundin besuchte uns öfters des Abends, wo denn mein Mann uns die neuesten Erscheinungen der schönen Literatur vorlas, bis Schödelberger kam, seine Frau abzuholen und wir mit ihm noch ein Stündchen verplauderten.

So gestaltete sich mein Leben äußerlich recht freundlich, und ich konnte diese angenehmen geselligen Verhältnisse nur mit innigem Dank gegen die Vorsicht, welche mir diese Tröstung und Erheiterung zugesendet, anerkennen. Aber dennoch blieb die tiefe Wunde, welche mir die Trennung von meinem einzigen Kinde geschlagen, offen und blutete fort, und ein Mollakkord tönte aus der Tiefe meines Herzens durch alle diese Zerstreuungen und Annehmlichkeiten durch. Ich möchte dieses Durchtönen mit der Wirkung eines Chores in Händels Oratorium Acis und Galathea vergleichen, das ich in meiner Jugend aufführen hörte, als Baron van Swieten im Verein mit Fürst Dietrichstein und Schwarzenberg mehrere Kompositionen dieses großen Meisters unter Mozarts Direktion, der die Blasinstrumente zu diesen, so höchst einfachen Kompositionen hinzugefügt hatte, dem Publikum zu genießen gab. In jenem Chor nun, den die Hirten anstimmen, um Galathea über Acis Tod zu trösten, tönt[184] das Wort tot durch alle andern Melodien und Worte, die der Chor noch spricht und singt, wie ein erschütternder Grundton hindurch und macht einen unglaublichen Effekt.

Unsere Weihnachtsbescherung war, da meine Tochter nicht mehr dabei sein konnte, abgestellt worden, aber am heil. Dreikönigstag veranstaltete ich einen andern Scherz. – Es wurden zwei Torten gebacken, in jeder derselben eine Bohne verborgen, und nun die Stücke unter die Gesellschaft – von der einen den Frauen, von der andern den Herren – ausgeteilt, damit König und Königin zugleich gewählt würden. Sehr belustigend für alle war es, daß dies Los Herrn Friedrich von Schlegel und Frau von Arneth (ehemals Adamberger) traf, und nun beide ihre Rollen mit gutmütiger Laune zur Freude der Gesellschaft ausführten.

In der folgenden Fasten wurde Grillparzers Ottokar aufgeführt, als Benefize der Regisseurs. Wir nahmen mit Karl Kurländer gemeinschaftlich eine Loge, und wohnten der Aufführung mit lebhaftem Anteil bei. Sehr spannend und ergreifend waren die ersten zwei Akte, wo Siege und Glücksfälle sich zu überbieten scheinen, um Ottokars Macht und Ruhm zu vergrößern. Der dritte Akt, wo der Auftritt mit dem Zelte vorgeht, dessen Zeltschnüre der boshafte Zawisch abschneidet, ließ schon etwas kälter. Im vierten Akt berührte, mich wenigstens, der Anblick des von seiner stolzen Höhe herabgeschleuderten Königs, der da unmutig, fast verzweifelnd, vor dem Tore seines Schlosses in Prag liegt, höchst unangenehm, besonders da noch seine Frau und ihr Buhle (jener Zawisch) auftreten und ihn gleichsam für das, was er getan, ausschelten. Es scheint mir dies Ausschelten des Helden[185] eines Stückes – mag er es übrigens verdient haben oder nicht – immer etwas, was dem Interesse, das man bisher an ihm genommen und daher auch dem Stücke Eintrag tut. Die Strafpredigt, welche Medea in dem Trauerspiele Grillparzers dem, ebenfalls am Boden liegenden Jason hält – wirkt ebenso, und in einem freilich geringeren Maße auch die Ermahnung, welche Theramenes in der Sappho dem Phaon hält. Dahin gehört, meinem Gefühle nach, auch die Szene im Trauerspiele meines unvergeßlichen Freundes Collin: Mäon, wo Mäon vor seinem Oheim Odenat am Boden liegt, und dieser ihm in Zenobias Gegenwart, die der junge Held heimlich liebt, den Fuß auf den Nacken setzt. Bei mir, wenn ich an Zenobias Stelle gewesen wäre, hätte eine sehr robuste Liebe dazu gehört, um bei solch einem Anblick noch auszuhalten und den schimpflich Gedemütigten noch ferner zu lieben. Doch wir kehren zum Ottokar zurück, dessen Interesse im vierten und auch im fünften Akt merklich abnahm. Dazu dauerte auch das Stück ungewöhnlich lange, und da doch fast jedermann noch den Epilog und das Erscheinen der Regisseurs erwarten wollte, wurde es elf Uhr, bis alles zu Ende war. Das Stück wurde indes doch sehr beklatscht, der Verfasser gerufen, der, wie natürlich, nicht erschien, und alles sehr beifällig aufgenommen.

In Prag erklärte man sich sehr gegen das Stück. Die untergeordnete Rolle, welche der wilde, gewaltsame Ottokar, den sein Ehrgeiz und ein böses Weib rücksichtslos forttreiben, neben dem würdigen, ruhigen, weisen Rudolf spielt, das Licht, in welchem er seiner Frau und ihrem Buhlen gegenüber erscheint, endlich manche Roheiten und geringschätzige Reden, die er[186] sich selbst gegen seine Böhmen erlaubt, wenn er ihnen ihren Mangel an Kultur im Vergleich mit den Deutschen vorwirft – alles dies reizte und verletzte den Nationalstolz der Böhmen. Und wenn ich schon sagen muß, daß dies die Nationaleitelkeit gegenüber einem trefflichen Werke, das noch dazu ziemlich der geschichtlichen Wahrheit getreu ist, zu weit treiben heißt, wenn ich gleich selbst über diese Verletzbarkeit des böhmischen Nationalgefühls zu klagen habe – denn dies Gefühl, und nur dies war schuld, daß im Jahre 1816 mein Kaiser Ferdinand nicht aufgeführt wurde, weil die Böhmen darin als Rebellen erscheinen – so muß ich doch diesen Zug an einer Nation ehren, und von Herzen wünschen, daß meine guten Landsleute, die Österreicher, etwas von dieser Verletzbarkeit fühlten, und nicht allein geduldig, sondern sogar beifällig die Spöttereien und geringschätzigen Urteile Fremder über sich fürder nicht mehr anhören möchten.


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Meine arme Tochter war mittlerweile in eben diesem Prag in einer sehr betrübenden Lage. Ihr kleiner Knabe Theodor kränkelte, und auch ihrer Schwiegermutter schien das rauhere Klima nicht zu bekommen. Auch sie fühlte sich nicht wohl, und es reifte in ihr und ihrem Sohn der Entschluß, sich lieber zu trennen. So wurde beschlossen, daß die Hofrätin nach Wien zurückkehren sollte, so wehe ihr die Trennung von ihrem Sohn tat, und dieser sie hierher geleiten werde. Der Entschluß wurde ausgeführt, freilich zu einer Zeit, die für meine arme Tochter nicht günstig war; denn ihr Kind, ihr damals einziges, war bedenklich krank, sie selbst hoch schwanger, und ihr Mann reiste in eben diesen Tagen[187] mit seiner Mutter fort. Ein großes Glück war es, daß derjenige Freund Pelzelns, der, selbst in Prag etabliert, ihm den Herbst zuvor die Wohnung auf der Kleinseite gemietet, zufälligerweise das Haus einer meiner Jugendfreundinnen, der Baronin Hennet, gewählt hatte. Diese Frau war eine geborne Baronesse v. Born, Nichte des berühmten Mineralogen und Kousine eines andern, mir ebenfalls werten Fräuleins v. Born, des Gelehrten Tochter, die nun schon längst mir in das verhüllte Jenseits vorangegangen ist. Josefine nahm meine Tochter, wie sie mit ihrem Manne in ihr Haus zog, mit mütterlicher Zuneigung auf, und in ihrer Tochter Marie (jetzt Frau von Müller) fand Lotte eine Schwester. In dieser Fügung sah ich wieder die väterliche Waltung der Vorsicht zu unserm wahren Besten, denn in der traurigen Zeit der Trennung von ihrem Mann, am Bette des kranken Kindes, leisteten die beiden Freundinnen der Vereinsamten, was sie nur von einer Mutter und Schwester erwarten konnte.

Pelzeln war also nach Wien gekommen; er wohnte, wie sich das von selbst versteht, diese wenigen Tage bei uns, und seine Mutter, bis sich eine Wohnung für sie fand, bei einer Freundin. Kaum aber waren sie einige Tage hier, so erhielt ich einen Brief von meiner armen Tochter, die mir den bald darnach erfolgten Tod ihres Kindes meldete. In dieser düstern Zeit, so allein neben dem Bette des verstorbenen einzigen Kindes, konnte nur die Hoffnung auf den nahen Ersatz – der aber nie ein vollständiger ist – ihr einigen Trost geben. Es ist auch eben kein Ersatz, denn eine Mutter hat nie zu viel Kinder, und keines bietet jemals alle die Charaktereigenschaften dar, die das Verstorbene hatte. Doch kann dieser Unterschied[188] bei einem zehn Monat alten Kinde zum Glück nicht bemerkt werden.

Pelzeln wünschte, daß ich zur Entbindung seiner Frau nach Prag kommen möchte, weil sie nun auch des Beistandes seiner Mutter beraubt war. Wohl verließ ich Pichlern ungern auf so lange Zeit; denn da ich, um nichts zu versäumen, doch einige Zeit vor der Entbindung dort sein mußte, konnten leicht zwei Monate vergehen, ehe ich wieder nach Wien zurückzukehren vermochte. Indessen lag mir selbst sehr viel daran, meine Tochter in einer solchen Periode nicht zu verlassen, Pichler willigte ebenfalls ein, und so rüstete ich mich denn, um gegen den 20. April in Prag einzutreffen. Von jeher war das Reisen, die Unordnung, die es mit sich bringt, der Aufenthalt in den Gasthöfen, die Voranstalten, die es nötig macht – besonders wenn die Hausmutter sich entfernen, und in den Fällen, wo niemand da ist, der ihre Pflichten übernähme, alles den Dienstleuten überlassen, folglich für jeden möglichen Fall Vorsicht treffen soll – mir sehr widerwärtig. An dem Tage vor meiner Abreise besuchte mich noch meine werte Schlegel – da lagen die Pakete, da standen die Koffer usw., und ich klagte ihr, wie ungern ich reise, wie fatal mir diese Anstalten seien. Ach! sagte sie, wie gern würde ich Ihnen das Materielle der Reiseanstalten abnehmen, wenn ich statt Ihrer fortfahren könnte! So sind die Menschen verschieden! Was den einen quält, erfreut den andern, und solche Bemerkungen müssen uns Toleranz für die Eigenheiten anderer einflößen, die recht brav, recht klug, recht liebenswürdig und doch von uns sehr verschieden sein können! Frau von Schlegel war in ihrem Leben viel gereist, in Paris, in Rom, fast in ganz Deutschland gewesen;[189] sie reiste aus Lust und sie war bei allem dem eine emsige treffliche Hausfrau.

Ich machte mich also in einem Separateilwagen mit meinem Stubenmädchen und einem Bedienten auf den Weg nach Prag und kann diese Art zu reisen nur höchlich loben. In zwei und einem halben Tage war ich in Prag und hatte jede Nacht, einmal in Budwitz und einmal in Czaslau, bequem geschlafen. Die Pünktlichkeit, mit der man in den Posthäusern bedient wird, die Willkür, die dem Reisenden doch bleibt im Vergleich mit dem Drängen und Treiben auf dem allgemeinen Eilwagen, obwohl man die Stunden der Ankunft sehr berücksichtigen muß, machen diese Reiseart sehr angenehm.

Die Witterung war nicht günstig, und obwohl in der zweiten Hälfte des April, fand ich Schnee durch ganz Mähren und am andern Tage auch in Czaslau. Das Land in Böhmen gefiel mir nicht sonderlich. Es ist meist flach, doch sehr wohlgebaut, indessen sind die Gasthöfe größtenteils unter der Mittelmäßigkeit und das Trinkwasser sehr schlecht, was für Reisende, die weder Bier noch Wein trinken, höchst unangenehm ist.

Am dritten Tage, nachdem ich in Czaslau ziemlich gut übernachtet hatte, näherte ich mich dem Ziele meiner Reise, und bald, nachdem ich die letzte Post Biechowitz hinter mir hatte, erschienen mir von weitem die Zinnen von Prag. Diese Stadt nimmt sich wirklich, von dieser Seite erblickt, sehr vorteilhaft aus; ich möchte sie eine gekrönte Stadt nennen, denn über dem Berg, der sich aus der Häusermasse der Alt- und Neustadt sowie der Kleinseite erhebt, steigen noch die Paläste des Hradschin empor und über diesen die St.-Veitskirche. Das Ganze bildet einen imposanten Anblick,[190] man erkennt, daß man sich einer Hauptstadt, einer Königstadt nähert, und selbst das altertümliche Aussehen so vieler Gebäude vermehrt noch das Erhebende des Eindrucks. Wunderbar ragt in Prag die alte Zeit noch überall in die neue hinein. So manches wohlerhaltene Gebäude aus den vorigen Jahrhunderten, der Pulverturm, die beiden Brückentürme, die Teinkirche, das Altstädter Rathaus usw. erregen die Erwartung in uns, irgendeinen gewappneten Ritter oder einen ehrsamen Bürger mit gefaltetem Kragen und Barett daraus hervortreten zu sehen, und so manches Haus, manches Denkmal erzählt uns eine Episode der Geschichte Böhmens, so daß eine geistreiche Frau, die Gräfin von Engl, Prag eine versteinerte Geschichte genannt hat.

Meine Kinder empfingen mich mit herzlicher Liebe, und ich fand zu meiner großen Beruhigung Lotten viel gesünder und stärker als ich geglaubt. Auch meine Jugendfreundin Hennet wieder zu sehen, machte mir viele Freude, und so vergingen ein paar Tage in stillem Genuß auf dem einsamen Pfarrplatze, wo das Haus lag, in dem die Tochter wohnte. Einer Wienerin mußte es seltsam vorkommen, wenn sich manchmal wohl durch eine halbe Viertelstunde kein Vorübergehender zeigte, so daß die Schildwachen am Hause des Oberstburggrafen und gegenüber am Landschaftsgebäude die einzigen lebenden Wesen waren, die man erblickte, einige Haus- und Perlhühner ausgenommen, welche zwischen den Pflastersteinen verstreute Körnchen suchten. Ungewohnt waren mir die Stille und Einsamkeit, aber sie mißfielen mir nicht.

Ein paar Tage darauf dachte ich daran, meine Empfehlungsschreiben an die Frau Oberstburggräfin von[191] Kolowrat und die Fürstin von Kinsky abzugeben, die mir eben jene Gräfin Engl, eine nahe Verwandte und Freundin dieser beiden Damen, mitgegeben. Mit großer Güte und freundlicher Zuvorkommenheit wurde ich in diesen beiden Häusern aufgenommen und genoß in beiden sehr angenehme Tage. Ich hatte den Vorteil, nicht allein die Glieder dieser Familien als Menschen, welche, abgesehen von Geburt und Rang, durch die schätzbarsten persönlichen Eigenschaften ausgezeichnet waren, kennen zu lernen, sondern in ihrem Kreise auch noch die Bekanntschaft mancher andern, durch persönlichen oder literarischen Ruhm merkwürdigen Menschen zu machen. So die der beiden Grafen Kaspar und Franz von Sternberg, des Grafen Buquoy mit seiner Gemahlin, des Abbé Dobrowsky, dessen früher in Wien gemachte Bekanntschaft ich hier erneuerte, des Professor Kapp, Erziehers im fürstlich Kinskyschen Hause, eines ältern Bekannten meines verstorbenen Freundes Büel, und vor allen die der so liebens- als achtungswürdigen Gräfin Karoline Latour, Prager Stiftsdame, die mir ein herzliches Wohlwollen schenkte, und mit deren Wesen ich das meinige tief zusammenklingend fühlte. Auch waren unsere Prager Bekannten so freundlich, uns beide fleißig zusammenzubringen, und wenn die eine zu einem Diner oder einer Soirée gebeten war, wurde gewöhnlich auch die andere eingeladen.

So gestaltete sich mein geselliges Leben sehr angenehm, und die Freude, bei meinen Kindern zu sein, wurde mir dadurch und durch das Besehen aller Merkwürdigkeiten der Stadt, sowie durch vielseitig gebildeten Umgang erhöht. Die schönen Geister von Prag, unser alter Freund Professor Gerle, der schon[192] früher meine Kinder öfters besucht hatte, Herr von Rittersberg, der echte Dichter Ebert (später Sänger der »Wlasta«), der Geschichtsforscher Palacky, Hauptmann Marsano usw. kamen ebenfalls zu Pelzeln, und ihr Prager Arzt, Professor von Bischoff, ein Mann, der als Mensch, Arzt und Schriftsteller ausgezeichnet ist, erfreute uns oft mit seinen Besuchen, die er als Arzt begann und als Freund fortsetzte.

Am 10. Mai endlich meldeten sich die Vorläufer der Niederkunft bei meiner Tochter, und abends um halb 9 Uhr kam glücklich ein munteres, hübsches Knäbchen auf die Welt, das am folgenden Tage den Namen August in der heiligen Taufe empfing. Wir waren alle ganz glücklich und vergnügt, daß der Himmel uns den jüngsthin erlittenen Verlust nun mit Vorteil ersetzt hatte, denn das gegenwärtige Kind sah viel stärker und kräftiger aus, als Theodor bei seiner Geburt, und durch Gottes Gnade hat sich seine körperliche und geistige Natur auch demgemäß in der Folge bewährt.

Gern hätte meine Tochter dieses Kind selbst gestillt, ihr Mann und ich wünschten es sehnlich, weil ich in diesem Selbststillen den Grund künftiger Gesundheit für Mutter und Kind sah; aber die Hebamme behauptete, es sei keine Milch vorhanden, vermutlich, weil sie sich nicht die Mühe geben wollte, öftere Versuche zu machen, was freilich Zeit und Aufmerksamkeit kostet. Indessen hatte diese nicht vorhandene Milch später in einem Krankheitsanfall, den eine Unachtsamkeit eben dieser weisen Frau herbeigeführt hatte, bei meiner Tochter ein Depot auf den Fuß gemacht. Überhaupt fehlte es damals in Prag an gar manchen Bequemlichkeiten und Einrichtungen, an die wir in Wien längst gewohnt waren, und auf die ich bei anderm Anlaß[193] später zurückkommen werde. Unter diesen führe ich nur an, daß die Hebammen keine sogenannten Helferinnen bei sich haben, wie es in Wien Brauch ist, und daß ein glücklicher Zufall wollte, daß meine, damals aus Wien mitgebrachte Stubenmagd eine von ihrem Mann geschiedene Frau war, die meiner Tochter bei dieser Gelegenheit sehr nützliche Dienste leistete.

Während der neun Tage las ich meiner Tochter aus einem Buche vor, das dem Titel nach wohl nicht zur Unterhaltungslektüre geeignet schien, und dennoch der höchst anziehenden Darstellung und trefflichen Schreibart wegen uns sehr interessierte, nämlich aus Professor von Bischoffs »Lehre von den Fiebern«. Es unterhielt Lotten sehr, die überhaupt aus allzu sorgender Zärtlichkeit für die Gesundheit der Ihrigen sich gern aus medizinischen Büchern unterrichtete. – Eine Ansicht, die mir für Gemütsruhe und ungehindertes Handeln im häuslichen Leben nicht passend scheint, und die ich und verständige Männer öfters, aber immer vergeblich, zu bekämpfen suchten.

Das berühmte Fest Johannis von Nepomuk fiel in diese neun Tage, und da die Wöchnerin sich vollkommen wohl befand, konnte ich mir erlauben, dieser Feier auf dem Hradschin beizuwohnen, wohin Gräfin Karoline Latour mich zum Frühstück gebeten hatte, mich dann in die hochgeschmückte Veitskirche, ein schönes, aber leider nur fragmentarisches Monument des Mittelalters, zum Hochamt führte, und dann in Begleitung mehrerer Personen und ihres Bruders, des Feldmarschalleutnants Grafen Latour, der uns freundlich zum Führer diente, uns das ganze königliche Schloß, den Thronsaal und die übrigen Denkwürdigkeiten einer grauen Vorzeit zeigte. Auf dem Platz vor der Kirche,[194] vor dem Schloß bis in die Sperrgasse und noch weiter hinab, war überall reges Volksleben; Tische waren aufgeschlagen, auf denen man speiste, Buden eröffnet, wo allerlei, besonders Eßwaren, zu kaufen waren. Unter diesen spielen in Prag gedörrte und weichgesottene Pflaumen und Stücke von gebackenem Fisch nebst Wuchteln, eine Art Germ-(Hefen-)Kuchen, eine Hauptrolle und werden auf allen Straßen das ganze Jahr hindurch verkauft.

Am Abend dieses Tages, sowie an dem Vorabend der Feier war auf der Moldaubrücke ein großes Gedränge von Menschen um die Johanniskapelle, denn auf dieser Brücke hatte der gefeierte Heilige eine, wie es scheint, bei den Böhmen beliebte Todesart, die des Hinabstürzens, erlitten, und eine große sittliche Würde verklärte seinen Tod; denn er litt aus Ehrfurcht für seine Pflicht (das Geheimnis der Beicht, das er nicht zu verletzen sich entschließen wollte). Auch in der ganzen Stadt, wo eine Statue oder ein Bild des Heiligen sich befand, war er bekränzt und erleuchtet, und die Menge sang fromme Gesänge davor. Das war aber das einzige Mal, daß ich Musik auf den Gassen von Prag hörte, und auch diese Melodien hatten etwas Melancholisches.

Meine Tochter hatte sich von einer Verkühlung, welche ihr eine Unvorsichtigkeit der Hebamme, wie ich oben gesagt, zugezogen, so ziemlich, aber nicht völlig erholt. Doch war sie imstande, ihr Hauswesen zu besorgen, und ich erhielt dadurch mehr Muße, mich in Prag umzusehen und alle architektonischen und historischen Denkwürdigkeiten zu betrachten. Doch will ich meine Leser mit der Beschreibung derselben, die sie viel besser und weitläufiger in meines alten Freundes Gerle Schilderung von Prag finden, nicht aufhalten.[195] Nur eines Besuches in der Wenceslaikapelle erlaube ich mir zu erwähnen, weil die dort befindlichen Merkwürdigkeiten nur selten und nicht allgemein zu sehen sind. Der Oberstburggraf Graf Kolowrat, in dessen Hause ich so gütig aufgenommen worden war und so viele schöne Stunden genossen hatte, lud uns einmal, wie wir zu Tische bei ihm waren, die Gräfin Buquoy und ihren Gemahl, Gräfin Karoline Latour, einige Herren und auch mich ein, am nächsten Morgen uns in der Wenceslaikapelle in der Domkirche einzufinden, um die böhmischen Reichskleinodien zu sehen, die nur bei solcher Gelegenheit, wenn z.B. der Oberstburggraf, unter dessen Obhut sie sich, mit Gegensperre eines der ersten Landstände und eines Domherrn von St. Veit, befinden, Prag auf einige Zeit verlassen und sie dann zu revidieren und wieder an ihrem Platz zu verwahren hatte, zur Schau kamen. Gräfin Kolowrat, meine sehr gütige Gönnerin, nahm mich mit sich auf den Hradschin, wo sich in der benannten Kapelle bereits mehrere Böhmen und Fremde eingefunden hatten, um diese Schätze und auch die Kapelle zu betrachten. Auf einem Tische stand die echte Krone Karls IV. von reinem Gold und mit vielen, aber ganz in natürlichem Zustand, ohne Schliff und gehörige Fassung befindlichen, großen und kleinen Edelsteinen geziert, wie sie eben im 14. Jahrhundert die Goldschmiedskunst zu behandeln verstand. Ferner der Zepter, Reichsapfel, viele Reliquien, teils von einheimischen, teils auswärtigen Heiligen, welche der fromme Kaiser auf seinen Reisen gesammelt und in Prag aufbewahrt hatte. Auch die Wände der Kapelle ließ er auf goldenem Grund mit Edelsteinen auslegen, und man erzählte mir, daß dies ebenso in der Kapelle zu Karlstein, seinem Lieblingsaufenthalte,[196] der Fall sei. Nachdem die ganze Gesellschaft, unter der sich nebst andern Fremden auch russische Damen befanden, die Kleinodien besehen, bot man uns Einheimischen an, auch den Ort zu beschauen, wo die Reichskrone gewöhnlich aufbewahrt wurde. Die Fremden mußten zurückbleiben, weil jener Ort und sein Geheimnis etwas Heiliges war, das nur die Landeskinder oder österreichische Untertanen wissen durften. Wir wurden also über eine äußerst schmale und wie es mich dünkte, in der Dicke eines Pfeilers oder einer Hauptmauer angebrachte Wendeltreppe von nicht großer Höhe geführt und befanden uns, oben angelangt, in einem kleinen, geweißten, ganz ungeschmückten Gemach, wo in einer der Wände ein Schrank oder vielmehr eine Höhlung in der Mauer mit einer Türe von hartem, mit eingelegter Arbeit verziertem Holz angebracht war, auf die Art, wie man deren noch in vielen Sakristeien oder in alten Schlössern findet. Dieser Schrank, 3–4 Schuhe über dem Fußboden erhoben, war von innen mit purpurfarbenem Samt (wenn ich nicht irre) ausgeschlagen, stand aber jetzt offen, weil sich die Krone nicht darin befand. Diese verborgene, nicht leicht zu findende Treppe, dies Gemach, dessen Fenster, soviel ich mich besinne, auf lauter Dächer hinabsehen, gab mir bei dem Roman »Elisabeth von Guttenstein« die Idee zu der geheimen Treppe und dem Gemache, in welchem Franziska von Teuffenbach mit ihrem Geliebten heimliche Zusammenkünfte hat.

Sehr merkwürdig ist noch in Prag der alte Judenkirchhof nebst der alten – der ältesten – Synagoge. Ich besuchte ihn in Gesellschaft der Gräfin von Buquoy, welche, wie das oft geschieht, erst durch die[197] Fremde auf diese Merkwürdigkeit ihres Wohnortes aufmerksam gemacht, sich an uns und den Abbé Dobrowsky anschloß, dessen historische Gelehrsamkeit uns bei diesem Besuch sehr zu statten kam, der aber mit dem Rabbiner, der uns gleichfalls begleitete, in einen sehr heftigen und uns übrigen fast komischen Streit geriet, indem Dobrowsky dem Rabbi mehrere seinsollende geschichtliche Nachweisungen, z.B. das Grabmal einer alten Königin, nicht gelten lassen wollte, und dies alles für Fabeln oder höchstens Sagen erklärte.

Auch das Prager Theater bot mir eine sehr angenehme Zerstreuung. Unter der Leitung eines gewissen Herrn Stiepanek (wenn ich diesen Namen aus dem Gedächtnisse recht schreibe) gewährte es mit Mitgliedern wie den Herren Bayer, Polawsky, Ernst, Feistmantel, Frau van der Klogen, Fräulein Pistor und ihrem Vater, viele vorzügliche Darstellungen, die meine Kinder und ich, so oft, als es die Umstände erlaubten, besuchten. Das Theater selbst, der Saal, ist groß und geräumig, trug aber (wenigstens damals) den allgemeinen Charakter der Stadt Prag samt ihren Bewohnern, eine Art von Düsterheit, wozu wohl der Anblick so mancher verfallender Paläste und Kirchen, welche melancholisch auf eine glänzendere Vergangenheit hinweisen, und die Einsamkeit so mancher Straßen und Plätze besonders für jemand, der aus dem lebensfrohen Wien kommt, viel beiträgt. Hier war es einst prächtig und belebt – wir waren eine selbständige Nation, jetzt ist es anders – das scheinen uns die altertümlichen und nun häufig verlassenen und verfallenden Gebäude, das scheint uns der ernste Volkscharakter zu sagen, der sich nie in Musik oder fröhlichem Genuß auf öffentlicher Straße[198] oder an Spazierorten äußert, wie in Wien, wo im Sommer die Leute, im Freien sitzend, essen und trinken, fröhlich sind und Musik fast überall erschallt. Sparsam waren damals die wenigen Spaziergänge in Prag besucht, und auch dort war nicht viel für den Genuß oder die Bequemlichkeit der Gäste gesorgt. Bier und »Gugelhupf«, leider mit Muskatblüte gewürzt, war das einzige, was man an solchen Orten zum Essen oder Trinken erhalten konnte, und von Kaffeehäusern oder Zuckerbäckerladen, in denen man Eis, Kaffee oder Konfitüren finden und sie, im Freien sitzend, genießen konnte, keine Rede. Kaum daß man in den wenigen Zuckerbäckerladen leidliches Zuckerwerk für die Tafeln fand. Ebenso fehlte es damals (1825) an manch andern häuslichen Einrichtungen, z.B. an einem anständigen Badehause, mit den Bequemlichkeiten versehen, welche die Wieneranstalten dieser Art schon seit vielen Jahren bieten, und aus welchen man sich ein Bad konnte holen lassen. Wer zu Hause baden und das Bad nicht selbst wollte hitzen lassen, war gezwungen, das heiße Wasser aus dem nächsten Brauhause, deren zum Glück viele in Prag sind, holen, und zu Hause gießen zu lassen, wozu es jederzeit, des Hin- und Hergehens wegen, dreiviertel oder auch eine Stunde bedurfte. Ebenso hatte man, wenigstens so weit meine Erfahrung reichte, keine Idee von einer sogenannten Wärmeschachtel oder Trommel, welche in Wien selbst beschränkte Familien besitzen und die bei Wöchnerinnen, Kranken oder Badenden beinahe unentbehrlich scheint. Überhaupt bildete sich in mir bei diesem dreimonatlichen Aufenthalt in Prag sehr lebhaft die Vorstellung aus, daß der Geist sich vortrefflich in Prag befinde, aber der Körper nicht ebensowohl, denn diesem mangelte[199] es an vielen Genüssen und Bequemlichkeiten, an die man sich in Wien so leicht gewöhnt.

Was nun die geistigen Bedürfnisse betrifft, so war durch das Museum auf dem Hradschin, das großenteils dem Grafen Kaspar von Sternberg sein Entstehen verdankt, und eine Bibliothek, ein Naturalienkabinett und eine Gemäldegalerie in sich begreift, durch Privat- und öffentliche Sammlungen dieser Art, durch das Zusammenwirken geistreicher und gelehrter Männer und durch ihren Umgang hinreichend gesorgt, und ich kann sagen, daß ich in dieser Hinsicht in Prag volle Befriedigung fand. Bedenkt man ferner, daß alles, was hier für Wissenschaft, Kunst, Theater usw. geschieht, von den Bewohnern selbst, größtenteils von einem sehr aufgeklärten, humanen und vermöglichen Adel ausgeht, daß dieser Adel sich durch hohe Geistesbildung, durch Humanität und Feinheit des Betragens vorteilhaft vor manchen andern dieser Kaste auszeichnet, so wird man begreifen, daß Prag unstreitig große Vorzüge hat. Dennoch dünkte es mich, als würde ich mich nicht haben entschließen können, meine heitere, lebensvolle, freundliche Vaterstadt mit Prag zu vertauschen, das im ganzen, wie gesagt, einen düstern Eindruck macht und in der Seele hinterläßt.

Die Gegend um die Stadt herum ist freundlich, aber von keinem bedeutenden landschaftlichen Reiz, desto malerischer und imposanter sind die Ansichten, welche die Stadt selbst in ihrem Umkreis bietet. Majestätisch und überraschend ist der Ausblick vom Hradschin herab auf das Häusermeer, welches sich am Fuße desselben zu beiden Seiten des schönen und breiten Moldaustromes ausdehnt, der die Kleinseite und den Hradschin von der Alt- und Neustadt am jenseitigen Ufer[200] scheidet. Aus diesem Häusermeere ragen hier und da gotische Kirchen, Basiliken in italienischem Geschmacke, uralte Gebäude, die an das 13. Jahrhundert erinnern, das sie entstehen gesehen, und über die mit zahllosen Statuen besetzte kolossale Brücke zwischen den zwei altertümlichen Türmen am Anfang und Ende derselben wogt eine Menge Fußgänger, fahren zahlreiche Equipagen, die ganz im Geschmack des 19. Jahrhunderts, einen seltsamen Kontrast mit dem Zeitalter Karls IV. machen, das die Brücke und die Türme entstehen sah. Diese Brücke, von soliden Quadern erbaut, widerstand der Macht des Geschützes, als im Siebenjährigen Krieg der kommandierende General der Österreicher, um die Kleinseite und den Hradschin zu schützen und zu verteidigen, indes sich die Preußen bereits der Alt- und Neustadt bemächtigt hatten, die Brücke durch Kanonen zerstören lassen wollte. – Ringsherum außer der Stadt ziehen sich angenehme, begrünte Hügel hin, von fern, jenseits der Moldau, sieht man das Schloß Troja, von dem man eigentlich nicht weiß, woher es seinen, ans Altertum erinnernden Namen hat, und gerade gegenüber dem Hradschin erhebt sich der sogenannte Ziskaberg, von dem aus dieser Hussitenfeldherr einst die Stadt beängstigte und auch eroberte.

Man genießt dieser sehr schönen Ansicht über die Stadt und ihre Umgebung von mehreren Punkten des Hradschin, gewiß aber angenehmer und malerischer aus dem Garten des Fürsten Lobkowitz auf dem Lorenzberge, auf dessen Spitze das Prämonstratenserkloster Strahov steht, in einem schattigen Kastanienwäldchen, das dem weiten, hellen Gemälde gleichsam zum dunkeln Vorgrund dient, oder von der Gloriette im Graf Schönbornschen Garten gleich daneben, wo ich einen[201] sehr schönen Abend bei der Fürstin von Kinsky in gewähltem kleinen Kreise mit Gräfin Karoline v. Latour, deren Bruder, Schwägerin und noch einigen Personen sehr vergnügt zubrachte.

Eine ebenso schöne Ansicht bietet Prag von der gegenüber liegenden Seite, wenn man es vom Vissehrad am jenseitigen Moldauufer betrachtet. Dann erhebt sich der Hradschin mit seinen Palästen und dem altertümlichen Dom, der in seiner Bauart und dem freistehenden Bogen sehr an den Dom von Köln erinnert, uns gegenüber, die Kleinseite steigt an dem Hügel empor, und zu beiden Seiten des klaren, breiten Stromes dehnen sich die Häuser der Alt- und Neustadt, das Stift Emaus, die Maltheserkirche und viele andere merkwürdige Gebäude aus. Hier soll Libussa gehaust haben, jetzt steht eine Kirche auf dem Hügel, aber am Fuße desselben weist man noch ein kleines zerstörtes Gemach, welches das Badezimmer der königlichen Zauberin genannt wird.

Schöne Ansichten bieten sich auch von den Hügeln der Umgegend dar, zwischen denen einige Landhäuser liegen, welche den Bewohnern der Stadt zum Sommeraufenthalt dienen, die aber – wenigstens damals – nur in geringem Maße besucht wurden, denn die Prager schienen im ganzen freie Luft und Spazierengehen nicht zu ihren Bedürfnissen zu zählen, wie es denn damals wenig Spazierorte, und an denselben wenig Menschen gab. Eines dieser Landhäuser, die Bertronka genannt, das ziemlich anmutig zwischen grünen Hügeln lag, wurde in jenem Sommer von der Familie des Professors Bischoff, seiner jungen, sehr hübschen und sehr gebildeten Frau mit ihren beiden Töchtern – damals Kindern von 6–8 Jahren – bewohnt. Ein Spaziergang[202] auf einem, die Bertronka umgebenden Hügel führte zu einem Punkte, auf dem sich fast dieselbe Aussicht auf das nahgelegene Prag mit seinen drei Städten, dem Hradschin und dem Moldaustrom darbot, wie vom Hradschin herab, und noch mehr überraschte, weil man diese Fernsicht hier nicht erwartete. An einem schönen Abend, den ich dort zubrachte, machte ich die Bekanntschaft zweier merkwürdiger Frauen, der Frau Karoline von Woltmann, deren Ruf als Schriftstellerin mir schon früher bekannt war, und der Frau des Professors Mikan, die ihrem Manne nach Brasilien gefolgt war, ihn auf seinen Wanderungen begleitet und in allen seinen naturhistorischen Arbeiten und Studien unterstützt hatte. Es war etwas Ungewöhnliches und doch Einfaches in dem Betragen dieser Frau, die, obwohl über die Jahre der Jugend hinaus, noch Spuren ehemaliger Reize zeigte, und in den feinen, aber tiefen Zügen, in den großen, dunkeln Augen an südländische Gestalten erinnerte. Wir sprachen, wie natürlich, von ihrer Reise nach Rio Janeiro und ihren naturhistorischen Streifereien ins Binnenland in Begleitung ihres Gemahles. Ich äußerte zuletzt: eine solche Reise gemacht zu haben, sei allerdings wünschenswert, aber sie zu machen, doch mit vielen Beschwerlichkeiten verbunden. Gewiß, antwortete die interessante Frau, aber es war weder meine erste noch meine beschwerlichste Reise. Ich sah sie erstaunt an, mein Blick mochte sie gefragt haben. Ich war mit meinem ersten Manne (einem russischen Offizier), erwiderte sie, auf dem Ural. Ich gestehe, diese Antwort überraschte mich, aber sie vermehrte meine Achtung für diese Frau, welche Liebe und treue Pflicht zu solchen Opfern vermocht hatten, und stellte sie weit über alle die genialischen Frauen,[203] die es mit ihren Männern nicht aushalten können, fast jede geschieden leben, oder vollends dem Manne, dem sie am Altare Treue geschworen haben, mit einem andern entlaufen. Überhaupt haben mir, mit wenigen Ausnahmen, diese norddeutschen weiblichen Naturen stets mißfallen, wie es einst Mode war sie zu nennen, um schon im voraus alle Anforderungen der Pflichten, die mit den Namen von Gattin, Mutter, Hausfrau verbunden sind, zu beseitigen.

Da meine Tochter sich ziemlich von ihrem Unwohlsein erholt hatte, dachte ich nunmehr daran, einen längst entworfenen Plan auszuführen, über Teplitz und Karlsbad, das mir ganz neu war, nach Dresden zu gehen, wo mir sehr werte Freunde, Herr Generalkonsul von Krause mit seiner Familie lebten, mit welchen uns schon in Wien eine recht herzliche Freundschaft verbunden hatte, und die mich wiederholt aufgefordert, sie in Dresden oder auf ihrem schönen Landsitz Weißtropp zu besuchen. Sehr freute ich mich auf diese kleine Reise, auf Dresden, seine Kunstschätze, seine Elbegegenden und auf meine Freunde. Ich schrieb deswegen an diese, bekam sehr freundliche Antwort, es wurden Zimmer für mich bereitet, der Wagen bestellt, und alles eingerichtet, um in wenigen Tagen abzureisen. Vorher noch wollte ich, einer Einladung der Gräfin Max Althann, geborenen Gräfin Thürheim, zufolge, auf ihr nahe bei Prag gelegenes Gut Swoyschitz einen kleinen Abstecher machen, und ich sah mich dort von Herr und Frau vom Hause mit so viel Güte und Freundlichkeit behandelt, daß ich diese dritthalb Tage wohl mit zu den angenehmsten der ganzen böhmischen Reise zählen darf. Gräfin Althann zeichnete sich in ihren frühern Jahren, wie sie noch in Linz lebte und ich sie[204] öfters bei unserer gemeinschaftlichen Freundin, Frau von Sorgenthal, und bei uns sah, ebensowohl durch höhere Geistesbildung als Schönheit aus. Einer unserer Bekannten wandte das Wort Schillers: die Anmutstrahlende aus der Erwartung, auf sie an, und mit Recht. Damals in Swoyschitz, wo zwei ihrer Söhne erwachsene junge Leute waren, war wohl die Schönheit nicht mehr bedeutend, aber die Anmut und der gebildete Geist waren geblieben.

Am dritten Tag abends kehrte ich recht vergnügt nach Prag zurück und dachte nun schon an meine Reise nach Dresden. Aber was sind unsere Vorsätze und Hoffnungen? Bei Pelzeln angekommen, eilte mir der gute Schwiegersohn auf der Treppe entgegen – und meine Tochter nicht. – Schon das befremdete mich – bald aber sollte ich Trüberes hören. Sie lag zu Bette und war bedeutend krank. – Das lange verhaltene Übel, eine Folge jener Unvorsichtigkeit der Hebamme, deren ich schon früher erwähnt, und das, wie sich später klar auswies, nichts als eine Versetzung der Milch war, welche nach der Hebamme Meinung nicht vorhanden gewesen sein sollte, brach nun als ernsthafte Krankheit aus. Von einem Fortreisen nach Dresden konnte keine Rede mehr sein, ich schrieb sogleich an Krause und war froh, wenigstens nicht bereits abgereist zu sein. Ein schlimmer Umstand war es wohl, daß der Arzt und Freund meiner Kinder, Doktor Bischoff, gerade zu dieser Zeit nach Breslau zu seiner Schwägerin Westenholz war gerufen worden, die dort schwer krank lag. Indessen konnten wir mit Bischoffs Stellvertreter und Freund, dem Doktor Baër, sehr wohl zufrieden sein, der die Kranke vortrefflich behandelte.

Die Krankheit war schmerzhaft und langdauernd.[205] – Welche bangen Tage, welche noch bängeren Nächte brachte sie uns! Wie spähte ich nach jedem Ton, nach jeder Äußerung der Kranken oder des Arztes! Wer ein einziges geliebtes Kind in Gefahr sieht, wird mich ohne weitere Auseinandersetzung verstehen.

Es war früher schon verabredet gewesen, daß Pichler in der Hälfte des Juli, wo ich von Dresden zurückgekehrt zu sein dachte, nach Prag kommen, sich eine Weile dort aufhalten und dann mit mir zurückkehren wollte. Dem Vater – der sein Kind zärtlich liebte und den in der Entfernung der Gedanke, sie bedeutend krank zu wissen, aufs Schrecklichste geängstigt haben würde, mußte – so waren Pelzeln, Lotte und ich übereingekommenn – die Gefahr verborgen, und der Tochter Krankheit als etwas leicht Vorübergehendes geschildert werden. Aber der Vater war gewohnt, von ihr und mir oft und ausführliche Briefe zu erhalten. Ich konnte wohl schreiben und unsere Lage, so gut sich's tun ließ, bemänteln, aber er mußte doch die Handschrift seiner Tochter wenigstens in einigen Zeilen sehen, um glauben zu können, daß sie nicht bedeutend krank sei. Das kostete nun der Tochter bei ihrem leidenvollen Zustande eine unsägliche Anstrengung, um mit zitternder Hand einige beruhigende Zeilen zu schreiben. Aber die kindliche Liebe half ihr, die Leiden überwinden; die Briefe sahen somit ziemlich unverdächtig aus, und der Zweck dieser Aufopferung, die Beruhigung und Zufriedenheit des geliebten Vaters, war erreicht.

Indessen hatte die Krankheit ein Depot auf den Fuß gemacht, und ein Vesikator, um die Kniekehle gelegt, zog – freilich unter unsäglichen Schmerzen – eine Menge Feuchtigkeit heraus, worauf sich alle Umstände[206] besserten, die Krankheit gehoben war und nur Schwäche und Zusammenziehung im Fuße übrig blieb. Die Jugendkraft wirkte mächtig mit, und Doktor Baër wünschte und hoffte mit uns allen sehr, die Tochter wenigstens in so weit herzustellen, daß sie dem ankommenden Vater ziemlich gerade entgegengehen könnte. Das gelang denn auch, obwohl nicht so ganz, wie wir gewünscht, aber sie war hergestellt, sie sah wieder wohl aus, und der Vater erfuhr nie, wie übel sie gewesen, und wie wir ihn getäuscht; denn wir wollten uns für einen möglichen künftigen Fall nicht um den Kredit bringen.

Doktor Baër hatte sich ganz zuletzt einiger homöopathischer Pülverchen bedient, denn damals war diese Heilart, obwohl in Prag sehr beliebt (so daß im schwarzen Roß eine eigene homöopathische Küche bestellt war, wo die diese Kurart Gebrauchenden zweckmäßige Speisen erhielten), dennoch im ganzen noch verpönt, und mit ungünstigen Augen, zumal von den Behörden, angesehen. Baër fand es also für nötig, seine Pülverchen geheim zu halfen. – Sie wirkten zweckmäßig, obwohl nicht so bewundernswürdig, als er sich vielleicht versprochen hatte, und das alles vergrößernde Gerücht und der Parteigeist so manche Kuren dieser Art verkündet hat.

Pichler war hocherfreut, seine Tochter hergestellt und einen gesunden Enkel zu finden. Auch ihn interessierte Prag mit seinen Eigentümlichkeiten. Die ersten Tage führte ich ihn überall herum, und als er erst Weg und Stege so ziemlich kannte, unterhielt es ihn sehr, auf Entdeckungsreisen, wie er es nannte, auszugehen und sich willkürlich in irgendeinem Teil dieser großen Stadt oder vielmehr dieser vier Städte: Alt- und Neustadt,[207] Kleinseite und Judenstadt, umzusehen. Ganz überrascht und verwundert kam er aber eines Tages nach Hause, an dem seine Wanderungen ihn in die Judenstadt geführt und er diese alten, halbverfallenen Häuser, diese winkeligen Straßen und den Trödelmarkt, von allen erdenklichen Gattungen von Lumpen, zerbrochenem Geräte, alten Kleidungsstücken usw. auf den, mit allerlei Schmutz bedeckten Gassen aufgestellt sah. Lachend lösten wir zu Hause ihm das Rätsel, als er uns den Weg beschrieb, den er genommen, und er erfuhr nun, daß der Ort, der ihm so abscheulich und unheimlich vorgekommen, die Judenstadt war.

Viel reputierlicher, aber nicht weniger eigentümlich und komisch ist in Prag der gewöhnliche Trödelmarkt der Juden, welcher in der Altstadt bei der St. Galli-Kirche unter einer der Lauben oder Bogengänge gehalten wird, wie sie an vielen Häusern, besonders an älteren, hinlaufen, den Fußgängern zu großer Bequemlichkeit, aber eben nicht zum Vorteil der, dadurch stets finstern Buden und Läden, deren Fenster und Türen sich unter diesen Arkaden befinden. Auf diesem nur uneigentlich so genannten Trödelmarkt werden aber meist neue Sachen, Leinwand, Stoffe usw., auch Bücher, jedoch von diesen nur alte, verkauft. Wie man diese Hallen betritt, vernimmt man auf allen Seiten ein vielstimmiges Geschrei, indem jeder Handelsmann seine Waren anpreist und den Käufern ein ganzes Verzeichnis hersagt, von allem, was bei ihm, und nirgends so gut, so fein, so auserlesen als bei ihm zu finden ist, auch wohl die Waren vorzeigt und nicht selten den Käufer gewaltsam beim Arm faßt, um ihn in seine Bude hineinzuzerren. Mit Mühe kann man sich dieser Zudringlichkeiten erwehren; wenn man aber auch nichts zu[208] kaufen gesonnen ist, was auch meist rätlich sein möchte, da Übervorteilung bei dieser Menschenklasse sehr gewöhnlich ist, so gibt man sich doch eine Weile dem Spaße hin und unterhält sich an dem komischen Geschrei und an dem noch komischeren Eifer, womit ein Verkäufer dem andern seine Kunden abzufischen bemüht ist. Ob das alles sich noch so verhält, wie es vor 17 Jahren war, weiß ich freilich nicht.

Diese Zudringlichkeit, dieses ungestüme Wesen habe ich an dieser Nation auch bei einer andern Gelegenheit halb mit Lachen, halb mit Unwillen bemerkt. Es war bei der Besichtigung des alten Judenfriedhofes und der uralten Synagoge. Sowie wir uns anschickten, in diese hineinzugehen, umringte uns ein ganzer Schwarm von Männern und hauptsächlich von Weibern, welche uns anbettelten, aber nicht mit mündlichen Bitten zufrieden, uns bald hier, bald dort zupften, bei den Kleidern, bei den Händen faßten und sich durchaus nicht abwehren ließen. Gräfin Buquoy, die ihre Kinder mit sich hatte, sah nicht ohne Besorgnis, wie diese meist schmutzigen Weiber die Kleinen umdrängten, sie berühren, sie liebkosen wollten, und der Bediente und Jäger mußten die Kinder in ihren Schutz nehmen und wegführen. Mir erschienen in diesem Betragen des unberufenen Schwarms, der uns umdrängte, zwei auffallende Eigenheiten in dem Charakter dieser oft verkannten, oft mißhandelten, aber auch oft mit Recht getadelten Nation: die Gier nach Geld – und die Lust, sich zuzudrängen, sich überall einzumischen und neugierig auszuforschen. Jene Gewinnsucht, die bei dem rohen Teil des Volkes sich als schmutzige Begierde nach Gold durch Bettel oder Verkauf zeigt, treibt die gebildete Klasse desselben zum Handel und Verkehr im[209] großen und macht sie – wie sie einst, wenigstens in Österreich, Kammerknechte der Herzoge hießen, jetzt zu Kammerknechten aller europäischen Potentaten und gibt ihnen in diesen Verhältnissen Mittel und Macht in die Hand, um in den politischen Angelegenheiten ein so gewichtiges Wort mitzusprechen, wie es Knechten doch nimmer geziemt. Nicht minder unangenehm ist jener, an so manchen Individuen dieses Volkes bemerkbare Eifer, sich in die Angelegenheiten des Nächsten zu mischen, sich um dessen Geschäfte, Neigungen, Verhältnisse usw. aufs genaueste zu erkundigen und gelegentlich mit Rat und Tat einzugreifen. Ich erinnere mich vor vielen Jahren von Klemens Brentano eine ähnliche Bemerkung gehört zu haben, die er noch dazu mit diesen Worten ausdrückte: Sie greifen einem mit dem Finger bis mitten ins Herz.

Daß es viele und sehr ehrenvolle Ausnahmen von dieser allgemein ausgesprochenen Bemerkung gibt, daß ich selbst viele höchst schätzbare Personen aus dieser Nation habe kennen und in vieljährigem, freundschaftlichem Umgange aufs Innigste würdigen gelernt, davon enthalten selbst diese Blätter manche Beweise. Im ganzen aber wird man mir nicht unrecht geben, wenn ich jene Eigenschaften als Merkmale des jüdischen Charakters im allgemeinen bezeichne, von denen freilich höhere Geistesbildung, Umgang mit feinen Menschen, eigenes Nachdenken und die Erkenntnis des Bessern die einzelnen oft und sicher befreit.

Es ist die Frage über die Judenemanzipation in unserer Zeit vielfach zur Sprache gekommen. Immer scheint es mir mißlich, diesen Punkt zu erörtern: der großen Vorliebe unserer Zeit, jede Schranke aufzuheben, jede Fessel zu lösen, zu sehr nachzugeben und einer[210] zahllosen Menschenklasse, die sich bisher unter einem harten Drucke befand und unter diesem manches Schädliche verübte, plötzlich alle Rechte und Freiheiten ihrer übrigen Mitbürger einzuräumen. Noch ist es ja durch allen Scharfsinn der Gelehrten nicht entschieden, ob die schlimmen Eigenschaften, welche uns an dieser Nation mißfallen, ein ihnen angebornes oder durch den harten Druck, der viele Jahrhunderte lang auf ihnen lastete, erzeugtes Übel sei; und dieser Streit gleicht dem, ob das Ei oder die Henne früher existierte. Sicher ist es, daß manche unangenehmen Züge, die die Juden an sich tragen, schon von den römischen Schriftstellern gerügt wurden; sicher ist es, daß sich in dem Evangelium Spuren davon nachweisen lassen; sicher ist es, daß ihre Religionsvorschriften, so wie sie ihnen Moses gab, um sie von der Gemeinschaft mit den, sie umwohnenden Heiden abzusondern und den Dienst eines einzigen Gottes bei ihnen zu erhalten, ihnen Feindseligkeit gegen andersdenkende Völker, und wenn es not tat, auch deren Ausrottung zur Pflicht machte. Wie manches davon mag sich in ihnen durch Tradition erhalten haben. Wie vieles ist noch durch den Druck und die Grausamkeiten, die man sich gegen diese Unglücklichen erlaubt hat, dazu gekommen und hat die Annäherung derselben zu den Christen, wenn sie sich hier und dort im Laufe der Zeit und durch deren ausgleichende Macht erzeugt, entwickeln wollte, wieder gewaltsam zerstört. Immer noch kommen sie den, sie umgebenden Völkern, Christen oder Mohamedanern, nicht freundlich, nicht brüderlich entgegen, immer noch sind diese beiden Religionsparteien geneigt, alles Üble von den Juden zu glauben und zu fürchten, und sich daher gegen diese Wehrlosen, wie die neuesten Vorfälle[211] in Damaskus beweisen, alle Härten zu erlauben. Wenn sie in Europa und unter den, durch Europäer zivilisierten Ländern der andern Weltteile größere Milde und eine billige Anerkennung genießen, so ist dies nur eine Wirkung der allgemeinen Gesittung und durchaus kein durch Anordnungen oder Gesetze ausgesprochener Schutz. Es ist eine Art von Waffenstillstand, der im nächsten Augenblick durch irgendeine Aufregung, eine böswillige Laune, einen Mißverstand gebrochen werden und in einen offenbaren oder versteckten Krieg ausarten kann, wie uns vor nicht sehr langen Jahren die Hepp! Hepp-Geschichten in Frankfurt und wenn ich nicht irre auch in Berlin bewiesen haben. Selbst die zivilisierten und oft sehr hochgebildeten Juden stehen noch immer in einem ähnlichen Verhältnis, wenn auch ein Verdacht wie der zu Damaskus nicht auf sie fallen kann; aber dennoch wird sich ein gewisses Mißtrauen, eine gewisse Abneigung, solange sie uns so gegenüberstehen wie jetzt, nie ganz aus unsern Seelen verlieren; so wie auch der Jude seinen geheimen Unwillen gegen den bevorzugten Christen nie ablegen wird.

Es wäre also meiner Meinung oder vielmehr meinem Gefühle nach allerdings wünschenswert, daß die christlichen Regierungen in und auch außer Europa sich ernstlich und gutmütig mit der Verbesserung des Loses der Juden beschäftigten, daß sie daran dächten, einen gesetzlichen Zustand für sie festzustellen, der ihnen die nötigen Rechte sicherte, zugleich aber auch dies mit jener Bedächtlichkeit und Umsicht täten, daß die Rechte der übrigen Einwohner durch die Emanzipation einer Nation, in deren Religion es Vorschrift ist, die Andersglaubenden zu vertilgen oder wenigstens[212] zu hassen und zu übervorteilen, nicht zu sehr gekränkt würden. Bis diese Gesetze aber einmal in Europa gegeben und allgemein anerkannt werden, wollen wir hoffen, daß eben durch die alles ausgleichende Zeit und die durch sie bewirkte Gesittung dieser Periode, durch Milderung der Gesinnungen auf beiden Seiten, durch Verschmelzung und Annäherung, soweit es ohne Wechselheiraten möglich ist, vorgearbeitet werde, damit jene Emanzipation, wenn sie einmal ausgesprochen sein wird, den Juden ohne seinen völkerrechtswidrigen Haß, den Christen ohne Intoleranz und Vorurteil finden möge!


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Meine Reise nach Dresden hatte, wie schon gesagt worden, unterbleiben müssen, und unterdes war auch die Zeit gekommen, daß ich an Pichlers Seite wieder nach Wien zurückkehren sollte. Wir schickten uns also an, die teuren Kinder, die geschätzten Freunde und die alte Hauptstadt Böhmens zu verlassen; doch war Pichler bedacht, mir die Rückreise angenehmer zu machen, indem wir einen andern Weg einschlugen, als den wir beide hergekommen, und so nach Schwarzenau zu unserer guten Freundin Pereira kamen, die uns eingeladen hatte, ein paar Tage bei ihr zuzubringen. Wir fuhren also nach einem schmerzlichen Abschied durch das Vissehrader Tor auf der alten Prager Straße zurück, kamen nach dem, in der Hussitengeschichte so berühmten Städtchen Tabor, und sodann über Sudomirsits, Sobieslav, durch ziemlich angenehme, waldreiche Gegenden nach Wittingau, wo wir übernachteten. – Hier ist der Boden sandig, die Vegetation nicht reich, aber das Städtchen ziemlich hübsch. Am[213] andern Tag setzten wir unsern Weg nach Schwarzenau fort, kamen bei Schwarzach über die böhmische Grenze und durch hügeliges, ziemlich starkbewaldetes Land nach Schrems. Hier sieht der Boden sehr unfruchtbar aus. Große, schwarze, runde Steine liegen überall oder schauen vielmehr zwischen ziemlich dünnen, magern Kornhalmen aus dem Boden hervor und geben ein unangenehmes Bild der Unfruchtbarkeit. Hinter Schrems, gegen Schwarzenau zu, erscheint der Boden ergiebiger, die schwarzen Steine verlieren sich und endlich steigt, wie man von einer kleinen Anhöhe herabfährt, das stattliche Schloß mit seinen Türmen empor. Auch dies, sowie manches andere in Österreich, das ich gesehen, mag einmal fest gewesen und verteidigt worden sein; auch hier ist wie bei vielen andern Schlössern der breite Wassergraben, der es einst umgeben und beschützt hatte, ausgetrocknet und ein recht artiger Garten an dessen Stelle angelegt worden.

Wir wurden mit großer Freundlichkeit empfangen, trafen die Tante der Baronin, Frau v. Ephraim mit ihrer Tochter, den hamburgischen Ministerresidenten, Herrn v. Graffen, und noch einige Gäste, und brachten einige recht angenehme Tage dort zu. Eine höchst ergreifende Mordgeschichte beschäftigte in dieser Zeit die Umgegend. In Langenlois, einem bedeutenden Marktflecken unweit Schwarzenau, hatten sich, wie ein paar Jahre früher in Stockerau, Parteien unter den Bürgern gebildet. Es war, als rege sich der städtische Geist des Mittelalters in diesen Gemeinden und treibe sie zu eigenmächtigem Verfahren, ja zur Selbsthilfe, wenn ihnen keine Unterstützung von den Behörden wurde. Der Syndikus in Langenlois war seit mehrerer Zeit, so wie damals in Stockerau der Magistrat, ein Gegenstand[214] des Hasses für viele, die eine eigene Partei in diesem Duodezstaate bildeten. – Hin und her wurde gestritten, verklagt, verschwärzt, gestraft usw. Eines Tages, als der Syndikus in seinem Keller, der, wie das bei uns auf dem Lande häufig ist, außerhalb des Fleckens lag, gegangen war, dort nachgesehen, seinen Diener, der ihn begleitet, vielleicht mit dem Wein, den er abgezogen, voran nach Hause geschickt, und sich auf eine Bank unter den Bäumen, welche den Keller beschatteten, gesetzt hatte, – fiel hinter einem Zaun ein Schuß, von dem der Syndikus in den Rücken getroffen und getötet wurde. So fand man ihn – und keine Spur war zu finden, die auf den Täter hätte leiten können. Scharfe Untersuchungen wurden angestellt, mehrere verhaftet, auf denen der Verdacht feindseliger Gesinnungen gegen den Ermordeten am meisten ruhte. Die Untersuchung währte lange – einer der Verhafteten hatte sich, wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt, während derselben das Leben genommen. – Bekannt aber wurde, soviel mir bewußt ist, der wahre Stand der Dinge und der Grad der Schuld der Beteiligten nicht.

Doch ich kehre nach Schwarzenau zurück. Die Gegend ist meines Erachtens nach nicht schön. Hügeliges Land, meist mit dunkeln Kieferwäldern und Gebüschen bedeckt, ohne bestimmte oder bedeutende Formen, ein Ansehen von Trockenheit und Unfruchtbarkeit, ein rauhes Klima, so daß die Zwetschgen nur selten, ja manchmal sogar die Haferernten nicht reif werden – gibt dem Ganzen einen düstern Charakter. Ganz in diesem Charakter fand ich auch den Anblick der Ruinen von Krumau, einem alten Schlosse, auf einem von den dunkeln, ich möchte sagen stygischen Fluten des Kamp[215] umflossenen Felsen. Hier soll die unglückliche Königin Margarethe, die Schwester Friedrich des Streitbaren, gelebt haben, nachdem sie früh schon Witwe des römischen Königs Heinrich von Hohenstaufen gewesen, mit dem sie seine Gefangenschaft in S. Felice geteilt, dann gezwungen, den viel jüngern Böhmenkönig Ottokar zu heiraten, und von ihm verstoßen, sich wieder auf dies Schloß zurückgezogen hatte. Zum mindesten stimmt die Wahl dieser melancholischen Gegend recht gut zu der Stimmung, in welcher sich diese unglückliche Frau befunden haben mag. Nebst dieser Ruine sind noch andere verfallene Schlösser in der Nachbarschaft, und selbst das bewohnbare und bewohnte, sehr schön eingerichtete Allentsteig trägt einen altertümlichen Charakter.

Nach Wien zurückgelangt, war auch für uns bald der Zeitpunkt des Badeaufenthalts gekommen. Wir bezogen eine schon bekannte Wohnung in Guttenbrunn, denn es lag uns daran, so ländlich zu wohnen, als sich nur immer mit dem Gebrauche der Bäder vertrug, die für Pichler der Hauptzweck dieser Reisen waren. Ich genoß nur die frische, gesunde Luft und befand mich damals stets wohl dabei. Im September besuchte uns unsere Tochter zu unserer Freude und Beruhigung auf einige Tage und bewies durch ihre Reise auf dem Eilwagen und ihr blühendes Aussehen, daß sie wieder ganz hergestellt sei, wofür wir Gott nicht genug danken konnten. Sie blieb nur wenige Tage und beeilte sich, zu ihrem Mann und Kind zurückzukehren. Aber so kurz auch dieser Besuch war, gewährte er uns Freude und Trost.

Im folgenden Winter faßte ich die Idee, einen historischen Roman zu schreiben, dessen Stoff aus der böhmischen[216] Geschichte und dessen Schauplatz Prag, das ich nun ziemlich kannte, sein sollte. Es war nicht leicht, einen solchen zu finden, obwohl die böhmische Geschichte sehr reich an bedeutenden Zügen und eigentümlicher Nationalentfaltung ist. Aber diese Züge und diese Charakterentfaltung sind häufig, ja meistens sehr widerhaariger Art – oft in Opposition mit den Regenten Böhmens, von welcher Dynastie sie sein mochten, und fast immer in feindseliger Richtung gegen die deutsche Nation. Es mußte also ein Zeitpunkt ausgefunden werden, der an sich prägnant, für die Nation rühmlich und nicht in gerader Opposition mit dem deutschen oder österreichischen Interesse war, und da zeigte sich kein anderer als der, den mir Baron Hormayr, den ich bei meinen historischen Arbeiten stets um Rat fragte, schon früher bei ähnlichem Zweifel gegeben, nämlich das Ende des Dreißigjährigen Krieges, als die Schweden sich durch nächtlichen Überfall des Hradschins und der Kleinseite in Prag bemächtigt hatten und diese Plätze auch bis zum Friedensschluß 1648 inne behielten. Hier war nun die Bevölkerung von Prag ganz im Einverständnis mit den Ansichten des kaiserlichen Hofes. Die Schweden hatten längst aufgehört, selbst bei den Protestanten, noch mehr aber bei der katholischen Partei in Deutschland als Retter und Befreier zu gelten, und alle waren froh, daß sie sich wieder über die Ostsee zurückziehen sollten. In diesem Sinn konnte ich also meinen Plan vorläufig zu den Schweden in Prag entwerfen. Die nähern Bestimmungen, die Lokalitätsverhältnisse hatte ich mir wohl eingeprägt, und die Herren Literatoren von Prag, besonders Professor Gerle, dann die Herren von Rittersberg, Ebert, damals ein junger Mann, der kaum[217] 25 Jahre zählte, waren mir mit großer Freundlichkeit behilflich, Notizen zu sammeln, die auf jene Zeit Bezug hatten. Herr von Rittersberg war so gütig, mir eine lateinische Übersetzung eines böhmischen Manuskripts oder einer gedruckten Nachricht über die Verteidigung der Alt- und Neustadt durch die Studenten unter ihrem tapfern, geistreichen Anführer P. Plachy zu verschaffen, die einen dieser Studenten selbst zum Verfasser hatte, und die mir bei der Schilderung des Kampfes am Neutor sehr zu statten kam.


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Im Laufe des Winters 1825–26 kamen nach und nach mehrere werte Bekannte, die wir in Prag kennen gelernt und sehr ungern verlassen hatten, durch Übersiedlung hierher nach Wien. Der erste war der würdige Professor und k.k. Rat Doktor v. Bischoff, mit seiner ebenso schätzbaren als liebenswürdigen Frau. Nicht lange darnach rief eine kaiserliche Entschließung den Oberstburggrafen, Grafen von Kolowrat, als Staatsminister hierher, und wieder bald nach dieser Versetzung wurde dessen Frau Schwägerin, die Fürstin Kinsky, zur Obersthofmeisterin der Erzherzogin Sophie ernannt. So waren denn alle diese, von mir verehrten Personen jetzt in Wien einheimisch. Aber diese Nähe erwies sich nicht so befriedigend für uns, als man es auf den ersten Anblick hätte denken sollen. In Prag, in der Provinz hatten die bürgerlichen Bekannten freieren Zutritt zu ihren hochgestellten Gönnern, und obwohl ich nicht die geringste Ursache hatte noch habe, mich in den fünfzehn Jahren, seit jene Familien in Wien leben, über irgendeine Hintansetzung oder Kälte oder Hochmut in ihrem Benehmen gegen mich zu beklagen,[218] obgleich ich versichert bin, bei den seltenen Besuchen, die ich in jenen Häusern mache, stets als eine werte Bekannte mit Achtung und mit Freundlichkeit aufgenommen zu werden: so brachte es doch die Stellung dieser Personen und ihr Verhältnis zum Kaiserhofe mit sich, daß der ungezwungenere Umgang, wie er in Prag stattgefunden, hier nicht fortgesetzt werden konnte. Bei dieser Gelegenheit kann ich nicht umhin, in dieser sowie in Rücksicht meiner Stellung in der literarischen Welt gegen Schriftsteller und Rezensenten zu erwähnen, wie wenig ich mich über meine Aufnahme von Seiten hochgestellter Personen wie von seite meiner Kunstgenossen zu beklagen Ursache hatte und noch habe. Im Hause des Fürsten von Lobkowitz, im Hause des verehrten Grafen Franz von Széchény, sowie im Hause meiner langjährigen, innig geachteten Freundin Gräfin von Zay wurde ich nicht bloß von den Mitgliedern dieser Familien, sondern auch von den fremden Besuchern, die oft zum höchsten Adel gehörten, nicht allein mit Achtung, sondern mit Auszeichnung behandelt. Bei Fürst Lobkowitz, wo ein sehr angenehmer Ton herrschte und man stets versichert war, geistreiche Gesellschaft zu finden, wie ich denn öfters den Marquis de Chasteler, den Baron von Steigentesch und andere dort getroffen, befand ich mich mehr als einmal bei Soiréen, wo entweder Musik gemacht oder Opern gegeben wurden, im Salon der Fürstin mitten unter den Damen vom höchsten Range, und in der Nähe der kaiserlichen Prinzen, die diese Gesellschaften mit ihrer Gegenwart beehrten. Nie, ich kann es mit Wahrheit bezeugen, erfuhr ich die geringste Zurücksetzung oder wohl gar eine Demütigung, wie man sich von andern Frauen des Mittelstandes erzählte. Das[219] allein beobachtete ich stets genau, mich nie vorzudrängen, stets zu warten, bis ich aufgesucht oder aufgefordert wurde, einen Platz einzunehmen, den ich aber auch dann unbestritten und ungekränkt behauptete.

Ebenso bin ich mir keines Unfriedens mit andern Schriftstellern und, einige Ausfälle in obskuren und schon vergessenen Journalen von unbedeutenden Rezensenten ausgenommen, auch mit keinem Kritiker bewußt. Stets bin ich mit Höflichkeit, oft mit Achtung, manchmal mit Lobpreisungen, die mir selbst zu hoch schienen, behandelt worden, und mit vielen von unsern österreichischen Autoren bin ich persönlich wohlbekannt, mit einigen in freundschaftlichem Verhältnisse – mit keinem in Fehde. Aber ich habe auch nie in meinem Leben eine Rezension geschrieben oder drucken lassen, ich habe meine Urteile über fremde Werke so schonend und mit so viel Nachsicht wie möglich ausgesprochen, nie Zwischenträgereien Gehör gegeben, nie auf eine schmähende Rezension geantwortet, und wenn in früherer Zeit einige meiner literarischen und persönlichen Freunde den Fehdehandschuh für mich aufnehmen und dem schmähen den Rezensenten antworten wollten, suchte ich dies auf alle Art zu hindern und habe mich bei dieser Verfahrungsart seit mehr als 40 Jahren stets wohl befunden und viele Beweise aufrichtiger Achtung, Teilnahme und Dankbarkeit von Personen jeden Ranges erhalten, welche mir die Versicherung gaben, in meinen Schriften Trost und Beruhigung gesucht und gefunden zu haben.


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Der Winter von 1825–26 verging ziemlich gleichförmig und ziemlich angenehm, wenn ich bei der Trennung[220] von meinem einzigen Kinde dieses Wort von meiner Lage eigentlich brauchen kann. Viel trug die Nachbarschaft der trefflichen Schlegel zu meiner Aufheiterung bei. Es war nun eine Nichte ihres Mannes, Baronin Buttlar, Tochter von Schlegels Schwester, aus Dresden hierher gekommen und wohnte bei ihren Verwandten. Diese, eine junge, geistvolle, unterrichtete Frau und sinnreiche Malerin, vermehrte auf sehr angenehme Art den gewählten Kreis ihrer Tante und war besonders glücklich im Erfinden und Ausführen ansprechender kleiner Familienfeste, womit wir ihrer Tante oder ihres Oheims Festtage feierten.

So kam der Frühling heran und mit ihm die beglückende Hoffnung, daß Pelzeln, zwar ohne Avancement – aber schon die Transferierung war Gewinn – nach Wien werde übersetzt werden. Die Sache blieb eine Weile unentschieden, wir schwankten zwischen Furcht und Erwartung. – Endlich trat eines Morgens zu ungewöhnlich früher Stunde Pelzelns Mutter, die verwitwete Hofrätin, ein und kündigte uns die Freudenbotschaft an, daß unsere Kinder wieder nach Wien übersiedeln werden. Nun waren wir alle beglückt und selig, und ich machte mirs zur Pflicht, mich bald darauf von einer alten Jugendbekannten, der Baronin Ott, die ich öfters an einem dritten Ort traf, und auch, wiewohl selten, besuchte, bei ihrem Schwager, dem Appellationspräsidenten v. Gärtner vorstellen zu lassen, bei welchem sie seit ihrem Witwenstande wohnte, um ihm für diese große Gunst zu danken. Man sagte nämlich, er sei es eigentlich gewesen, der diese Übersetzung dadurch, bewirkte, daß er dem Kaiser vorgestellt habe, wie sehr er eines so geschickten und redlichen Arbeiters, wie Pelzeln war, bedürfe. Der Kaiser[221] bewilligte dies Gesuch, und infolgedessen durften seine Mutter und wir hoffen, unsere Kinder wieder bei uns zu haben.

Aber vorher kam noch viel Ungünstiges. Pelzeln, dem so wie seiner Mutter und auch Lotten die Luft und Lebensweise in Prag nicht gut anschlug, wurde bedeutend krank, und infolgedessen suchte er, als er hergestellt war, Prag so bald als möglich zu verlassen. Die Anstalten zur Übersiedlung waren aber noch nicht vollendet, und so kam Pelzeln zuerst allein nach Wien, um seinen neuen Posten anzutreten. Lotte, die bereits wieder seit einigen Monaten guter Hoffnung, und dadurch mehr als die beiden ersten Male inkommodiert war, blieb zurück, um jene Vorbereitungen zu treffen, und da eben das Packen und Räumen meiner Tochter in ihrer damaligen körperlichen Lage nicht zuträglich war, so ersuchte Pelzeln, als er nach Wien kam, mich, zu ihr nach Prag zu reisen, ihr, wo es nötig war, Beistand zu leisten und sie nebst ihrem Knaben, der bereits 14 Monate zählte, wohlbehalten nach Wien zurückzuführen.

Ich reiste also im Julius abermals nach Böhmen, war mit dem Separateilwagen wieder am dritten Vormittag bei meiner Tochter und freute mich sehr, Lotten und den Knaben, der früher krank gewesen war, in ziemlicher Gesundheit anzutreffen. Von meinen Prager Bekannten, bei denen ich im vergangenen Jahre so freundlich war aufgenommen worden, fand ich die meisten nicht mehr, indem einige davon übersiedelt waren, andere sich auf dem Lande befanden. Nur meine literarischen Bekannten fand ich zu Hause und empfing abermals, besonders von Professor Gerle, viele Beweise gütiger Gesinnung. Auch im Hause meiner Jugendfreundin[222] Baronin Hennet fand ich eine große Veränderung. Ihre Tochter, eine treue Freundin der meinigen, war Braut geworden, und zwar die eines ihr an Jahren weitüberlegenen Mannes, des Herrn Kreiskommissärs Müller, der schon erwachsene Kinder hatte; und gerade am Tage meiner Ankunft war Hochzeit. Josefa, so heißt B. Hennet, war mit ihrer Toilette beschäftigt und drang sehr freundlich in mich, sie zu der Feierlichkeit zu begleiten. Ich hatte aber im strengsten Sinne kein hochzeitliches Kleid anzuziehen, denn mein Koffer sollte erst am nächsten Tage mit dem Brankardwagen kommen, und so mußte ich diesem Vergnügen entsagen, wie ich denn überhaupt die 14 Tage meines diesmaligen Aufenthaltes still mit Lotten und mit meiner Freundin Hennet zubrachte. Endlich war alles gepackt, die Frachtwägen gingen ab, und wir machten uns auf den Weg. Aber nach dem Ermessen des Arztes und nach Pelzelns Vorschriften, der mir und seiner Frau die höchste Aufmerksamkeit und Schonung zur Pflicht machte, reisten wir mit einem Landkutscher, den wir schon vom vorigen Jahr als sehr verläßlich kannten, und waren demnach vier volle Tage unterwegs, während welcher das kleine Bübchen von 14 Monaten uns Erheiterung und Spaß machte. Es war wirklich zum Verwundern, wieviel dies ganz kleine und noch der Sprache nicht mächtige Wesen von äußerlichen Eindrücken und Erscheinungen aufzufassen und auf eine ziemlich verständliche Art mitzuteilen vermochte. Sowie wir nach mehreren Jahren, als einmal die Rede auf einen Prager Spazierort kam, mit Erstaunen aus seiner Beschreibung erkannten, daß er, der damals 14 Monate zählte, als wir zuletzt mit ihm in jenem Garten gewesen, sich dessen noch wohl erinnerte.[223]

In Stockerau kamen uns Pichler und Pelzeln zu unserer größten Freude entgegen, und so hatte uns denn Gottes Güte und Barmherzigkeit wieder vereinigt!

Die Tochter mit ihrem Kinde wohnte einstweilen bei uns und zog auch mit uns nach Baden, um der reinen Landluft zu genießen, während ihr Mann, der sich in seiner Vaterstadt wieder erholt hatte, jede Woche ein paar Tage bei seiner Mutter in ihrer Landwohnung zu Mödling zubrachte, wo wir uns dann gegenseitig besuchten.


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Die Familie des Präsidenten Baron Gärtner brachte diesen Herbst auch einige Wochen in Baden zu, weil die ältere Tochter, ein sehr schätzbares Frauenzimmer, eines Übels am Fuße wegen diese Bäder brauchen mußte, und ihr Vater, der das Unglück hatte, eben als er zu Besuch bei ihr war, in Baden umgeworfen und am Arm beschädigt zu werden, ebenfalls an diese Heilquelle war gewiesen worden. Wir besuchten uns gegenseitig, und von dieser Zeit an knüpften sich freundschaftliche Bande zwischen uns, besonders zwischen meiner Tochter und Luisen, dem älteren Fräulein v. Gärtner, und diese bestehen noch fortan.

Im Herbst bezogen meine Kinder eine ziemlich angenehme Wohnung »am Hof«. Bei Lotten näherte sich allmählich ihre Niederkunft. Die Reise hatte ihr nicht geschadet, aber dennoch waren nicht alle Störungen beseitigt, und als sie im Dezember eines Mädchens genas, war dies ein sehr kleines, schwächliches Kind.

Es erhielt in der Taufe den Namen Franziska von seiner Patin, der väterlichen Großmutter, und durch die unermüdliche und treue Sorgfalt der Mutter, welche[224] es selbst stillte und dadurch vielleicht einer Wiederholung der Krankheit entging, die sie bei Augusts Geburt erlitten, gedieh das überaus zarte Kind doch zum Verwundern.


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Meine Schweden in Prag, zu denen ich in Prag und hier viele Vorstudien gemacht, waren erschienen, fanden eine günstige Aufnahme, und ganz unvermutet auch einen gewandten und gewissenhaften Übersetzer. Schon im Jahre 1824, als meine Tochter noch in meinem Hause lebte, war ich mit einem Legationssekretär der französischen Gesandtschaft, Herrn v. Cramayel, bekannt geworden, der uns zuweilen, aber selten besuchte. Als er im nächsten Frühling von hier nach Hannover versetzt wurde, erbat er sich die Erlaubnis, mir seinen Nachfolger im Dienste, den Grafen De la Grange aufführen zu können. Ich lernte also diesen jungen Franzosen, einen sehr gebildeten, schönen und doch sehr bescheidenen Mann kennen, und es fand sich, daß er ebenfalls bei Schlegel bekannt und geachtet war. So kam er nun von dieser Zeit an fleißig in unser Haus, in dem zwei ihm befreundete Familien lebten. De la Grange sprach ziemlich fertig deutsch, und dieser Umstand näherte ihn Pichlern, der sonst an dem Fremden, dem Diplomaten, dem Kavalier kein großes Behagen würde gefunden haben. So aber ward ihm möglich, sich mit demselben zu verständigen, und Graf De la Grange konnte bei näherer Bekanntschaft nur gewinnen. Er kam von da an sehr oft zu uns, er kannte die ganze neue Literatur seines und unsers Vaterlandes, war selbst Schriftsteller, und so gefällig, uns immer mit den neuesten Erscheinungen in beiden Literaturen zu versorgen[225] und vorzüglich meinem Manne die bedeutendsten im politischen Fache zu verschaffen, an welchen mit des Grafen Erlaubnis auch unser bewährter Freund Regierungsrat Vierthaler Anteil nahm.

Nicht lange darnach, obgleich nicht in diesem Jahre, ward mir auf ganz sonderbare Art die Bekanntschaft eines zweiten jungen und sehr ausgezeichneten Diplomaten, des Freiherrn von Maltitz, von der russischen Gesandtschaft. Ich stand schon längere Zeit mit unserm gefeierten Sänger der Undine, dem Freiherrn von Fouqué in brieflichem Verkehr, welcher sich, wenn ich nicht irre, bei Gelegenheit eines Geschäfts mit der Buchhandlung meiner Schwägerin durch meine nachgesuchte Vermittelung angesponnen hatte. Später hatte mir Baron Fouqué seine Gunlaugurssaga sehr ehrenvoll gewidmet, und so kam es, daß ich einige Jahre hindurch mit ihm und auch einmal mit seiner Gemahlin, der Dichterin, Briefe wechselte. Fast gleichzeitig erhielt ich auch einen sehr schmeichelhaften Brief des innig und längst von mir verehrten Matthisson – und beide, Fouqué und Matthisson, machten mich auf jenen Baron A. Maltitz aufmerksam, der damals in Wien lebte, den ich aber, wie das in einer großen Stadt leicht geschieht, nie gesehen, ja nie von ihm hatte sprechen hören. Ja, Baron Fouqué schloß sogar einem Brief an mich einen an diesen Baron Maltitz bei, den ich ihm durch irgendeinen gemeinschaftlichen Bekannten zukommen lassen, und der unsere Annäherung einleiten sollte. Sonderbar dünkte mich dies Verfahren, daß ich dem Kennenzulernenden selbst den Empfehlungsbrief zusenden sollte. Indes es war eine Dichterlaune, und somit gab ich ihr nach, bat eine Freundin, in deren Haus viele Diplomaten kamen, meinen Brief[226] von Fouqué an den Baron von Maltitz gelangen zu machen, und hatte bald darauf das Vergnügen, die Bekanntschaft dieses sehr gebildeten und mit dem klassischen Altertum, mehr als sonst bei unsern jungen Dichtern der Fall ist, vertrauten jungen Mannes bei eben jener Freundin zu machen, den eine edle, wiewohl düstere und ernste Haltung auf den ersten Blick auszeichnete, und der bei näherer Bekanntschaft einen ebenso düstern, ernsten Geist, verbunden mit würdevoller, menschenfreundlicher Gesinnung, bewährte.

Zu diesen beiden diplomatischen Bekannten gesellte sich ein dritter, den mir ebenfalls ein entfernter, treuer Freund, Hofrat Büel, aus Zürich zusandte. Es war der schweizerische Gesandte Baron Effinger-Wildegg, ein junger Mann, durch Geistesbildung, Kenntnisse, ein feines und doch dabei gemütliches Benehmen ausgezeichnet. Diese drei jungen Männer besuchten unser Haus öfter, und fehlten selten, wenn ich abends eine kleine Gesellschaft bei mir sah, was zwar jetzt, seit meine Tochter mein Haus verlassen, viel seltener geschah. Am öftesten kam der Graf De la Grange, und ich kann wohl sagen, daß sein Verhältnis zu meinem Manne und mir nicht bloß ein salonmäßiges, daß es beinahe ein freundschaftliches war. Aber ich sollte hier wieder, wie schon oft in meinem Leben, Freundschaftsbande, in denen mir wohl geworden, durch Zeit und Umstände zerrissen sehen. Gegen den Frühling 1827 kündigte uns Graf De la Grange an, daß er eine Kurierreise nach Stuttgart oder Karlsruhe, ich weiß das nicht mehr genau, vorhabe. Mir tat es leid, denn ich war gewohnt, mich oft seines geistreichen und herzlichen Umganges zu erfreuen, doch hoffte ich, er würde nicht lange wegbleiben und sagte ihm das. Da vernahm ich aber[227] gar anderes: De la Grange dachte nicht daran, wiederzukommen, er war im Begriff zu heiraten, und zwar ein Frauenzimmer, das er schon seit seiner Jugend geliebt, die aber, warum? sagte er nicht, einen Grafen von Clermont Laudoeuvre geheiratet habe, dann Witwe geworden, und nun zu ihrer ersten Liebe zurückgekehrt sei. Sie war eine Caumont, aus einem sehr alten Hause, und stammte von dem, dem Blutbade der Bartholomäusnacht wunderbar entronnenen Pagen Caumont, nachher Duc de la Force ab, dessen ein Vers in der »Henriade« erwähnt:


Et du jeune Caumont l'étonnante histoire


Auf jeden Fall scheint diese Heirat eine sehr vorteilhafte für den Grafen De la Grange gewesen zu sein – was ich später aus mancher Äußerung, die dem Neide glich, entnahm, wenn die Rede darauf kam – und der König von Frankreich selbst unterzeichnete den Heiratskontrakt.

Das war alles gut und wünschenswert für den Grafen, aber wir verloren ungern den ausgezeichneten und wohlwollenden Freund. Zum Abschied gab ich ihm meine »Schweden in Prag« mit, und er versprach, mir oft zu schreiben, was er auch treu gehalten.

Schon seit längerer Zeit hatte ich diesen Roman vollendet; kleine Erzählungen beschäftigten mich zwar vorübergehend; aber es erwachte wieder der Wunsch nach einer anhaltenden Arbeit, mein Geist hatte wie Rechas Herz im Nathan:


verlernt ohn' einen herrschenden

Wunsch aller Wünsche sich zu dehnen –


und so sah ich mich nach einem neuen Stoff für einen größern Roman um.

Die Bearbeitung der »Belagerung Wiens« hatte mich mit der Geschichte der Kämpfe meiner Landsleute[228] gegen die Türken bekannt und vertraut gemacht, ich wählte mir daher die Befreiung Ofens vom türkischen Joch, das es durch anderthalb Jahrhunderte, von Soliman II. bis gegen Ende des siebenzehnten, getragen, zum Gegenstande. Auch hier galt es nun wieder, Vorstudien zu machen, und vor allem sich durch Autopsie von allen Lokalitäten, Möglichkeiten oder Unmöglichkeiten, welche durch diese bedingt wurden, zu überzeugen. Meine Tochter war glücklich wieder in Wien an der Seite ihres trefflichen Gemahls und im Besitze zweier lieber Kinder etabliert. Pichler konnte bei ihnen Zerstreuung und Erheiterung finden, so entschloß ich mich denn, obwohl nicht ganz gern, von allen meinen Lieben mich zu trennen und zu meiner Freundin, der Gräfin Zay, nach Ungarn zu gehen, um von Bucsan aus mit dem, seit vielen Jahren mir befreundeten Grafen Johann Mailáth (dem bekannten Geschichtschreiber der »Magyaren«), bei dem ich mir überhaupt wegen dieser Arbeit Rats erholt hatte, und der aus Gefälligkeit gegen mich seine Kur in Pistyan für einige Tage unterbrechen wollte, nach Ofen zu reisen. Es wurde alles eingeleitet, ich kam nach Bucsan, wurde wie immer mit großer Freundlichkeit empfangen, fand dort – zum letzten Male – meine teure Therese (Artner) wieder und brachte einige sehr vergnügte Wochen mit diesen verehrten Freunden zu.

Acht Tage waren der Ofner Reise gewidmet. Meine Freundin Zay versah mich mit einer tüchtigen Kalesche und gab mir, was ihr gewiß ein Opfer kostete, das ich ihr innig dankte, ihren verläßlichsten Bedienten, der sie selbst überallhin begleitete, auf die Reise mit. So fuhr ich denn an einem Samstag morgens um 4 Uhr mit dem Grafen Mailáth und meinem Dienstmädchen, den[229] braven Michel auf dem Bock, von Bucsan ab, durch lauter weite, aber sehr fruchtbare Flächen, auf denen ringsumher sich kein Baum, keine Erdhöhe zeigte, so daß die Figur eines braunen slowakischen Hirten, der in seinem Képernek am Raine dieser Felder saß und seine Schafherde bewachte, schon von weitem in die Augen fiel.

In Szered wurden Pferde gewechselt, dann ging es rasch auf Neuhäusel zu, wo wir Mittag machten. Hier war bereits klassischer Boden für meine projektierte Arbeit, und mein Begleiter war freundlich bemüht, mir aus dem Schatze seiner historischen Kenntnisse mitzuteilen und zu erklären, was hierauf Bezug haben konnte, wie z.B. die Lage des Schlachtfeldes von Parkany, wo Prinz Lothringen und der Polenkönig die Türken schlugen, das hier in der Nähe war.

Gegen Abend gelangten wir (Gräfin Zay hatte uns mehrere Relais gemacht) nach Köbelkud, wo wir eine kurze Zeit anhielten, um die Pferde Heu nehmen zu lassen, und nun ging es gegen Gran und die Donau hin. Erfreulich war mir, nach dem ermüdenden Ausblick in unabsehbare einförmige Flächen, die Ansicht der Graner Berge, die nun am Horizonte vor uns auftauchten, und an deren Fuß die majestätische Donau breit und schimmernd dahinströmt.

Schon von fern zeigten sich uns die Resultate der Tätigkeit, womit an dem erst vor kurzem begonnenen und nun schon mehr als halbvollendeten Bau der Graner Kathedrale und der Domherrenhäuser, die einen Halbzirkel um jene bilden, gearbeitet wurde. Noch war aber nichts ganz fertig, und die Kirche selbst nur bis ungefähr zwei Drittel ihrer Höhe, nämlich bis zur Kuppel, aufgebaut. Da es aber Feiertag und gegen den[230] Abend zu war, und wir von dem langen Fahren seit 4 Uhr morgens müde waren, versparten wir die Besichtigung dieser Riesenarbeiten auf den nächsten Morgen, wozu Graf Mailáth zufällig die Voranstalten traf.

Wir aßen und schliefen in einem recht ordentlichen Gasthof, und begaben uns des andern Morgens zeitig auf den Platz vor der Domkirche. Diese steht auf einer Erhöhung, und vor ihr im Halbkreis ziehen sich die Häuser der Domherren herum, deren jedes rückwärts einen kleinen Garten hat. Inmitten dieses Halbkreises steigt das Terrain allmählich aber bedeutend bis zur Kirche empor, und um den sie umwohnenden Domherren die beträchtliche Mühe zu ersparen, jederzeit, wenn sie sich sehen wollen, den ganzen Abhang zu umgehen, ist mitten durch denselben eine sehr hohe, geräumige Galerie angelegt, die eine bedeutende Länge hat und ihr Licht nur durch die entgegengesetzte Ausmündung empfängt, so daß es in der Mitte ziemlich dunkel ist. Schon diese großartige Arbeit setzt in Erstaunen, noch mehr aber die Betrachtung der Kirche selbst, der Dimensionen, der Ausgrabungen und Planierungen, welche begonnen werden mußten, ehe man zum Bau der Kirche schreiten konnte. Besonders merkwürdig schien mir die Versetzung einer ganzen Kapelle, der des einstmaligen Primas Bakács, der zu Matthias Corvins Zeit lebte, und diese Kapelle mit liegenden Gütern dotiert hatte. An dem Platze, wo sie damals war, konnte sie nun, vermöge des neuen Planes, nicht bleiben. Sie wurde also abgetragen (sie ist ganz mit rotem Marmor von innen bekleidet), in 15 oder 16000 Stücke zerlöst, und dann als Seitenkapelle an die Kathedrale gefügt. Man denkt bei einem solchen Transport an Aladins Zauberpalast.[231]

Noch merkwürdiger schienen mir die Katakomben, diese weiten, hohen, auf wunderbare Weise erleuchteten Räume, welche sich unter der Kathedrale hinziehen und bestimmt sind, teils in dem innersten Raum die sterblichen Reste der künftigen Erzbischöfe und Domherren auf 700 Jahre im voraus aufzunehmen, teils in den äußern Gewölben andern Honoratioren zur Begräbnisstätte zu dienen. Bereits ist seitdem Erzbischof Rudnay, der Gründer dieses Baues, schon in demselben, ehe er vollendet wurde, zu seiner letzten Ruhestätte gelangt, und auch der noch ganz jugendkräftige Baumeister, Herr Packh, den wir damals mitten in seiner Schöpfung kennen gelernt, ist – und zwar schrecklich genug, durch Mörderhand umgekommen. Ob er in jenen Katakomben bestattet ist, weiß ich nicht. Verdient hätte er es wohl!

Ich habe eben die Erleuchtung dieser Fürstengruft wunderbar genannt, und sie ist es auch. Von zwei entgegengesetzten Seiten fällt das volle Tageslicht von der Höhe herab durch Pfeiler, deren Dicke acht Klafter beträgt. Es kommt daher sehr gemildert an, und gleicht ganz der Intensität und dem Charakter nach dem des vollen Mondes. Es ist überall nicht finster und doch auch nirgends ganz hell. – Es ist eine Beleuchtung, die dem Auge wohl tut, weil sie nirgends grell ist, und doch intensiv genug, um das Lesen zu gestatten. Sonderbar ist die Bemerkung, daß an der Grenze, wo die beiden Lichtströme zusammenstoßen, auf einer kleinen antiken Ara, welche vor der, in ägyptischem Stile erbauten Pforte des innersten Raumes steht, sich eine Schattenlinie bildet, welche die beiden sich berührenden Lichtströme scheidet.

Als wir alles zur Genüge und mit lebhaftem Interesse[232] besehen, kehrten wir in unsern Gasthof zurück und befanden uns bald auf der Straße nach Pest. Diese geht eine Weile recht angenehm auf und zwischen bewaldeten Hügeln. Wir machten an einem Orte, dessen Namen mir entfallen ist, Mittag. Unterwegs kamen wir auch durch ein Dorf, das den Namen Vörösvar führt und sich durch freundliche Baumpflanzungen, durch frischen Rasen und kleine Gärtchen vor den meisten ungarischen Dörfern auszeichnet. Es war auch von Deutschen angelegt, die ihre freundliche Gewohnheit hierher verpflanzten, da sonst besonders in den slowakischen Ortschaften kaum ein Baum zu sehen ist, die Häuser alle auf dem nackten Lehmboden stehen, und selbst das Gras auf den Rainen und Wegen sorgfältig vertilgt wird, was solchen Dörfern ein dürres, ödes Ansehen gibt.

Bald näherten wir uns der Hauptstadt Ungarns. Schon erblickten wir links die Wogen des Isters (denn hier heißt unsere Donau schon so und wechselt, ein zweiter Tiresias, ihr Geschlecht), während rechts uns jene Hügel und mäßige Berge begleiteten, auf deren sonnigen Abhängen, den Strahlen der Morgen- und Mittagssonne gegenüber, das rote Blut der Ofner Trauben gekeltert wird – eine freundliche Landschaft, wenn man rechts blickte, wogegen links sich die unabsehbare kahle Fläche des Rakosfeldes nicht eben malerisch zeigte. Endlich gelangten wir an die Häuser von Altofen und sahen in der Nähe ein paar sonderbare runde Gebäude mit runden Türmen und Kuppeln, die weder durch moderne architektonische Schönheit, noch durch den poetischen Reiz einer Ruine gefallen konnten. Es waren, wie ich erfuhr, die türkischen Bäder, von dieser Nation während ihrer Besitznahme von Ofen[233] erbaut, an den schon damals und noch jetzt besuchten Heilquellen dieses Ortes. Auch zeigte sich rechter Hand mitten in den Weingebirgen ein ebenso unförmliches, dunkles Gebäude von eben diesem Ursprunge, das Grab eines Ali Baba oder Hadschi Baba, eines mohamedanischen Heiligen oder frommen Mannes. Endlich erblickten wir auf ihrem Felsenthrone die Hauptstadt des Reiches mit ihrem Schlosse, links die breite Donau in ihrer ganzen weit ausgegossenen Wassermasse, und jenseits, ebensoweit hin in die Fläche ausgedehnt, das ganz moderne Pest.

Sowie wir über die Schiffbrücke fuhren, welche die beiden an ihren Ufern gelegenen Städte durch diese Lage und noch mehr durch die persönlichen, nationalen und geschäftlichen Verhältnisse der Einwohner zu einer Stadt zu verbinden scheint, fiel mir eine ungemeine Ähnlichkeit der Örtlichkeiten mit dem Anblicke von Prag auf, wenn man auf der schönen Moldaubrücke steht, die hier sehr zum Nachteil der ungarischen Schwester durch eine Schiffbrücke, welche jeder Winter zerstört oder wegzuschaffen zwingt, repräsentiert wird. Wie in Prag die Alt- und Neustadt auf dem flachen Ufer der Moldau, breitet sich vor dem Ankommenden Pest weithin aus, wendet man sich aber um, so erheben sich hinter uns die Berge, auf denen Ofen mit seinem Schlosse thront und sich, der Prager Kleinseite ähnlich, bis an den Fluß herabzieht, während links vom Schlosse der grünbewachsene Blocksberg mit dem Observatorium auf seiner Spitze eine Ähnlichkeit mit dem freilich viel schönern, mit Palästen und einem herrlichen Stifte (Strahov) geschmückten Lorenzberg in Prag darbietet. Überhaupt ist an Großartigkeit des Anblicks, an Schönheit, Adel und Altertum der architektonischen[234] Zierden zwischen Prag und Ofen nebst Pest gar kein Vergleich zu ziehen. Diese zwei letzten Städte, welche erst seit ungefähr hundertundfünfzig Jahren wieder in christlichen Händen sind, können keine solchen Reste einer glänzenden Vergangenheit, noch Denkmale der Vorzeit besitzen, wie sie Prag so majestätisch zieren.

Was Ofen und noch mehr dem ganz neuen Pest in Rücksicht des architektonischen und historischen Wertes abgeht, wird für Liebhaber schöner Naturszenen fast ganz durch die lieblichen Umgebungen Ofens wett gemacht. Schöne, zum Teil bewaldete Berge ziehen sich um die Stadt her, bilden die Fortsetzung der schönen Weingebirge am Ufer des Stromes und einen lieblichen Kontrast mit der gegenüberliegenden Fläche.

Pest kam mir vor wie unsere Leopoldstadt. Auch hier lagen modern, elegant gebaute Häuser am Stromesufer auf- und abwärts, unter ihnen links ein Dianabad, fast schöner als das in Wien, auf der rechten Seite das Theater, in dem mir Graf Mailáth sogleich eine Loge verschaffte. Was den Ausdruck, die Physiognomie möchte ich sagen, von Pest betrifft, so stimmt sie mit der Wiens viel mehr als mit der Prags über ein. – Alles scheint heiter, lebensfroh. Die Menschen, die einem auf der Straße begegnen, sehen fröhlich aus, an schönen Sommertagen sitzen die Leute auf den Straßen und Plätzen vor den Gast- und Kaffeehäusern, zechen und schmausen, und dazwischen tönen die aufmunternden Klänge fröhlicher Musik; kurz, es ist eben ein Weinland, und das verkündet sich sogleich in allem.

Sobald wir uns im Gasthof umgekleidet hatten, führte mich mein Begleiter zu seiner Schwester, einer Gräfin Batthyány, die mich sehr gütig empfing, und dann zu[235] der Gräfin Teleki, an welche ich von ihrer Freundin Gräfin Zay empfohlen war, und bei der ich eine höchst freundschaftliche Aufnahme fand. Die Gräfin bot mir sogar ihr Haus zur Wohnung an, ich zog es aber vor, in dem Gasthofe, wo ich abgestiegen war, zu bleiben, mindestens mit meinen Leuten da zu schlafen und sie dort verköstigen zu lassen. Den Tag brachte ich aber schon von früh an bei der Gräfin Teleki zu, speiste mit ihr und ihrer Familie, und wurde von ihr bald vor-, bald nachmittags zu allen Sehenswürdigkeiten in Pest und Ofen geführt. Ich sah das Nationalmuseum, eine Stiftung des hochverehrten Grafen von Szecheny, die Jankovits'sche Sammlung, die Sternwarte usw. Vor allem aber interessierte mich die freiwillige Arbeitsanstalt in einer der Vorstädte von Pest, welche zwar durch den Frauenverein gestiftet, größtenteils aber durch die Tätigkeit der Gräfin Teleki, unter ihrer Aufsicht und durch ihre bedeutenden Unterstützungen so ausgebreitet und vielfach segenbringend geworden war. Die Abende wurden zuweilen im Theater zugebracht, wo ich schon am ersten Tag die »Markgräfin von Burgau« aufführen gesehen, aber nicht gehört hatte, denn Baron Zedlitz, der Verfasser der berühmten »Totenkränze«, damals eben in Pest anwesend, den ich schon in Wien gekannt, besuchte mich in der Loge, wo sich Graf Mailáth bei mir befand, und die Herren hatten so viel Interessantes über ihre literarischen Arbeiten und Schicksale, über Zensur, Rezensenten, Theaterdirektionen, Journale usw. zu reden, daß ich lieber darauf, als auf die sehr mittelmäßige Darstellung des Stückes horchte. Das Theater selbst gefiel mir nicht. Die graue Grundfarbe, welche (wenigstens damals) das Ganze bekleidete, ohne daß die Logenreihen[236] durch architektonische Verzierungen oder Draperien merklich voneinander unterschieden gewesen wären, gab dem Theater ein zu einförmiges Ansehen; die Logen erschienen mir wie kleine einzelne Behältnisse oder Fächer schief in den grauen Grund hineingeschnitten, wie etwa die Abteilungen in einem Kasten zur Aufbewahrung von Naturalien. Überdies war es sehr groß – damals, wie man sagte, zu groß für die Bevölkerung, und man klagte, daß man in den vordern Logen, eben ihrer Schiefheit wegen, schlecht sehe, und in den hintern schlecht höre. Von dem letzten kann ich, wie gesagt, nicht urteilen, denn ich gab nicht Achtung, und ein andermal, als ich mit Gräfin Teleki dort war, wurde ein Stück aus der ungarischen Geschichte Ungarisch gegeben, das eben dadurch für mich eine Pantomime war, und aus dem mir daher keine Erinnerung blieb, als an einen recht hübsch ausgeführten Nationaltanz, der in dem Stücke vorkam.

In der Nacht, die auf diesen vielbewegten Tag kam, fühlte ich mich ernstlich krank, die Hitze der Jahreszeit, die Reise, das Auf- und Absteigen in dem Graner Kirchenbau., die Toiletten, die Visiten des Nachmittags, alles zusammen ward für meine Nerven zu viel. Ich war auf eine Art aufgeregt, daß ich fürchtete, eine Krankheit sei im Anzuge. In einem unruhigen, schweren Schlaf glaubte ich den Ausspruch, von wem und warum weiß ich nicht, zu hören, daß ich heut über ein halbes Jahr sterben werde. Es war der 27. Junius, folglich mein Todestag auf den Festtag eines von mir vorzüglich verehrten Heiligen, des heil. Johannes des Evangelisten, bestimmt. Als ich erwachte, erschrak ich nicht über den Traum. Meine Tochter war versorgt, mein Mann, rüstig und in seiner ganzen Kraft, blieb ja nicht[237] vereinsamt zurück, da er seine Kinder und Enkel hatte. So war ich ruhig, selbst wenn ich annahm, daß jener Ausspruch eine Eingebung gewesen. Auch fühlte ich mich am Morgen etwas besser, stand auf, beschloß aber den Gang durch die Stadt, den mir Graf Mailáth vorgeschlagen, um die neuen Gebäude und Anlagen zu sehen, nicht zu machen, und mich in Ruhe zu erholen. Das gelang denn auch. Das Ganze war eine Aufregung der Nerven, eine zu große Ermüdung gewesen. Stille und Ruhe gaben mir meine Kräfte wieder. Dennoch schrieb ich den Traum auf, versiegelte das Blatt und wollte so, falls die Vorhersagung eintraf, ihre Echtheit beweisen. Aber sie erfüllte sich nicht, so wenig als meine Todesahnung in meiner Jugend.

Die Abende, wenn wir nicht ins Theater gingen, brachte ich im Hause der Gräfin Teleki sehr angenehm zu. Gebildete Frauen und Herren, wie Baron Zedlitz, Graf Mailáth und ein junger Offizier, Hauptmann Minarelli, der damals bei dem nun verstorbenen Sohn des Erzherzogs Palatin angestellt und ein sehr gebildeter, angenehmer Gesellschafter war, fanden sich dort ein. Im Winter, wenn der Hof des Palatin hier war, beehrte die Frau Erzherzogin sehr oft diese Soireen bei Gräfin Teleki mit ihrer Gegenwart und erschien ganz zwanglos und ohne die Etikette, welche solche Frauen sonst umgibt, im Salon der Gräfin, die sie überhaupt und nach Verdienst auszeichnete, mit ihrer Handarbeit, wie jede andere Dame.

Man erzählte mir das seltsame Schicksal des Hauptmanns Minarelli, dessen ich erwähnt. Er war ein Spanier von Geburt, und bei der Einnahme von Saragossa durch die Franzosen als ein kleines, hilfloses Kind, das seine Eltern in der allgemeinen Zerstörung verloren,[238] von einem französischen Generale aufgenommen und erzogen worden. Wie er dann später in kaiserliche Dienste gelangt, erfuhr ich nicht; ebensowenig welche (wie es scheint) ungünstige Ereignisse ihn mehrere Jahre darnach, noch lange vor dem Tode des seiner Aufsicht übergebenen Prinzen, aus dessen Nähe entfernten. Jedenfalls war Minarelli eine bedeutende und nicht leicht zu vergessende Erscheinung.

Ein heiterer Vormittag war dazu bestimmt, die innere und äußere Lage von Ofen und seinen Umgebungen zu besehen, um nach dieser Autopsie meinen künftigen Roman zu gestalten. Graf Mailáth begleitete mich gefällig und zeigte mir alles Bemerkenswerte, das ihm seine geschichtlichen Kenntnisse angaben: das Tor, welches einst das von Stambul hieß; den Platz auf dem Walle, wo – aller Wahrscheinlichkeit nach – Abdurrahman, Pascha von Ofen, den Tod fand, in der Umgebung den sogenannten Schwabenberg, wo ein Teil der deutschen Armee bei der Belagerung Posto gefaßt hatte, weiter hinunter am Strome endlich Promontorium und den Platz, wo Hamsa Beg stand usw. Nachdem wir alles besehen, und ich mich der anmutigen Aussicht in die waldigen Berge, welche Ofen von der Rückseite umgeben, erfreut hatte, schlug der Graf mir vor, nun auch den Schloßgarten des Erzherzog Palatin an dem Abhange, der sich gegen die Donau hinabzieht, zu besehen. Ich folgte dieser Aufforderung mit Vergnügen und ahnte nicht, daß es eine verabredete Sache war. Im Garten nämlich, der sehr geschmackvoll angelegt war, standen wir zu meiner großen Überraschung plötzlich vor der kleinen Erzherzogin Hermine, der Tochter des Palatinus, die sich mit ihrer Erzieherin, einer Gräfin Thurn, hier befand, und uns wahrscheinlich[239] erwartet hatte. Es war ein schönes Kind von etwa 10–11 Jahren, nur, wie es mich dünkte, waren ihre Züge für ihr Alter zu sehr formiert. Doch kam sie mir sehr liebenswürdig vor, wie sie sich mir freundlich näherte und mir einen Blumenstrauß als ein Zeichen ihrer Gewogenheit reichte. Nun ist diese liebliche Erscheinung auch schon in die Auen des himmlischen Friedens verpflanzt worden, und ein edler Bruder und trauernde Verwandte klagen ihr nach. – Es war die erste freundliche Anerkennung, die mir von einem Gliede der kaiserlichen Familie ward, sie freute mich sehr, und es war mir sehr angenehm, daß wir gleich darauf einen großen Hirschschröter im Grase entdeckten, an dem das fürstliche Kind viel Vergnügen zeigte, so daß Graf Mailáth und ich uns bemühten, ihn zu fangen und ihr ihn zu überreichen. Bald sollte ich mehrere solche Auszeichnungen erfahren.

Nachdem ich durch die gefällige Güte meiner Freunde mich über die Lage, Umgegend und manche historische Daten von Ofen und Pest genugsam unterrichtet, und einige höchst angenehme Tage daselbst zugebracht hatte, kehrte ich mit dem Grafen wieder nach Bucsan zu meiner gütigen Freundin Zay zurück.

Der gewöhnliche Badneraufenthalt folgte nun während der Ferien meines Mannes nach meiner Rückkehr aus Ungarn, und Pelzeln, der seinerseits jede Woche zwei Tage bei seiner Mutter in der romantischen Schlucht der Brühl zubrachte, erlaubte seiner Frau mit den beiden Kindern einige Wochen bei uns in Baden der Landluft zu genießen, was uns sehr freute, besonders da unsere damalige Wohnung in der Pölzgasse den Vorteil einer freien, schönen Aussicht und eines eignen Gartens hatte.[240]

Am Ende dieses Jahres – wenn ich nicht irre – wurde ich durch eine Sendung des Grafen De la Grange aufs angenehmste überrascht, welcher mir die Übersetzung meiner »Schweden in Prag« schickte, die er, wie er mir schrieb, gemeinschaftlich mit seiner jungen Frau, um auch sie in der deutschen Sprache zu üben, übersetzt, und ihr in die Feder gesagt hatte. Das freute mich ganz ungemein, denn diese Übersetzung war gewandt, fließend und vor allem treu, ein Vorzug, den ich den Bearbeitungen der Frau von Montolieu nicht nachrühmen kann. Ich war dem verehrten Freund sehr dafür verpflichtet, und er hatte auch ein anderes Mal die Güte, der »Befreiung von Ofen«, die ich ihm, so wie sie erschien, sandte, durch seine geschickte Feder in seinem Vaterlande Anerkennung zu verschaffen.


*


Meine Schweden in Prag waren erschienen, und mir kamen mehrere anerkennende Urteile zu. Eine größere Auszeichnung sollte mir noch werden. Eine vieljährige Bekannte und eigentliche Jugendgespielin meiner Lotte, Fräulein v. Kirchstättern, die Tochter eines geschätzten Freundes, der aber schon lange – noch einige Jahre vor meiner Mutter Tod – gestorben war, hatte – wohl vielleicht durch meine Bemühung, einen Platz bei der Fürstin Gabriele von Auersperg erlangt und sich die ganze Zufriedenheit, ja, ich kann sagen, die Freundschaft ihrer Gebieterin durch ein würdiges, pflichtmäßiges und innig anhängliches Benehmen erworben. Einige Zeit darnach war es ihr möglich, einen braven, jungen Mann, der eine kleine Beamtenstelle beim Magistrat bekleidete und mit dem sie[241] seit Jahren in liebendem Verhältnis gestanden, bei seinem Avancement die Hand reichen zu können. Auch hier folgte ihr die Gunst ihrer Fürstin, und als nach wenigen Jahren ein voreiliger Tod diesen Gemahl seiner Frau und zwei kleinen Kindern entriß, nahm Fürstin Gabriele wieder lebhaften Anteil an diesem Unglück. Sie erinnerte sich zu wohl, wieviel sie vor nicht sehr langen Jahren durch einen ähnlichen Verlust gelitten und wie treu damals Fräulein von Kirchstättern den Schmerz ihrer jungverwitweten Herrin geteilt hatte; und sie nahm sie als Witwe ebenfalls wieder zu sich, bis sich die Gelegenheit fand, durch ihre mächtige Fürsprache ihr den Platz einer k.k. Kammerdienerin bei der Erzherzogin Sophie zu verschaffen. In dieser Eigenschaft lebte sie nun am Hofe und hatte mir und den Meinen die alte Freundschaft, die noch von ihrem seligen Vater datierte, treulich bewahrt. Sie besuchte mich zuweilen, erzählte mir oft von ihrer hohen Frau und brachte mir einst gnädige Grüße von dieser und die freundliche Äußerung, daß sie meine Schriften gerne läse. Auf dies hin wagte ich es, durch den Obersthofmeister der Erzherzogin, Graf Széchény, den ich aus seines verehrten Vaters Haus kannte, sie überreichen zu lassen. Bald darauf ließ die Erzherzogin mich rufen. – Es war das erstemal seit mehr als fünfzig Jahren, daß ich wieder die kaiserlichen Zimmer betrat, und ein sonderbarer Zufall wollte, daß es gerade dieselben waren, in welche ich noch in meiner Kindheit oft von meiner Mutter war geführt worden. Ich erkannte sogleich alles wieder bis auf das Ameublement, was nun freilich ganz anders war, als das der verwitweten Monarchin, bei der alles in einförmiges Grau gehüllt stand. Die Erzherzogin empfing mich ungemein gnädig. Im[242] Zimmer derselben fand ich die Kaiserin Mutter, die mich ebenfalls sehr huldvoll behandelte und mir viel Gütiges über den Agathokles sagte, indem sie mich versicherte, er habe ihr in ihren trübsten Stunden manchen Trost gebracht. Ich fand, daß die Züge dieser hohen Frau sich während des geistreichen Gespräches, welches sie und ihre Schwester führten, auf eine angenehme Art belebten, und daß der weiche Klang ihrer Stimme und der Blick der schönblauen Augen der ganzen schlank und zierlich gebauten Gestalt eine besondere Anmut gaben. Überhaupt war alles, was diese beiden Frauen und wie sie es sagten, die höhere Geistesrichtung, die sich in jeder Äußerung, in jedem Urteil über Bücher, Ereignisse, Gefühle und so weiter im Laufe der Unterhaltung aussprach, ganz geeignet, um jedem Unbefangenen eine Unterredung mit ihnen, selbst ganz von ihrer hohen Stellung abgesehen, bloß als hochgebildeten Frauen, zu einem wahren Genuß zu machen. Beim Weggehen reichte mir die Erzherzogin ein höchst geschmackvolles und gerade seiner eleganten Einfachheit wegen doppelt schätzbares Album, auf dessen mit gotischer Stahlarbeit verziertem Deckel sich ein hübsches Bild des Stephansplatzes mit der altertümlichen Kirche befand, so passend gewählt als Geschenk für ein Gedicht, worin eben dieser Dom in einer für Wien verhängnisvollen Zeit eine bedeutende Rolle spielte. Den Hauptwert des Geschenkes machen aber die von der eigenen, sehr zierlichen Hand der Erzherzogin eingeschriebenen Zeilen aus, welche also lauten:

»Möge der Himmel Carolinen Pichler die vielen wohlthuenden Gefühle, welche ihr ›Agathokles‹ in meinem Herzen erweckt hat, und den reinen Genuß,[243] den mir ihre übrigen Werke gewährt haben, in reichlichem Maße vergelten, das ist der Wunsch von einer ihrer wärmsten Verehrerinnen.«

Sophie.


Dies Album war mir ein kostbarer Schatz. – Ich beschloß auch sogleich, es nicht als ein Stammbuch, sondern als ein Familienbuch, in das ich nur die fröhlichen oder traurigen Ereignisse unseres Hauses oder allenfalls ein dadurch veranlaßtes Gedicht eintragen wollte, zu gebrauchen.


*


Im nächsten Frühling entschlossen sich meine Kinder, ihre Wohnung abermals zu verändern, indem das Quartier »am Hofe« bei manchem Vorteile, z.B. der Aussicht auf den großen, schönen Platz, gar zu viele Unbequemlichkeiten, und vor allem eine so enge und steile Treppe hatte, daß man nicht ohne Besorgnis mit kleinen Kindern darüber gehen konnte. Sie wählten eine sehr angenehme Wohnung im Bürgerspital, gegenüber dem Palaste des Erzherzogs Karl, im dritten Stock, die ihnen von der Seite hin den freien Ausblick über die Bastei und das Glacis bis zu dem Turm der Paulanerkirche gewährte. Sie wurde bequem und anständig zugerichtet mit Parketten, neuen Türen usw. und von ihnen noch im Laufe des Sommers bezogen. Ich hatte nur zwei Ausstellungen an dieser sonst hübschen Wohnung zu machen; daß nämlich jedes Zimmer, mochte es kleiner oder größer sein, nur ein Fenster hatte, was ihm meines Bedünkens viel von seiner Freundlichkeit benahm, und daß diese Zimmer sehr niedrig waren.

Im Herbst bezogen wir wieder unser liebes Baden, und wohnten wieder in der Pölzgasse. – Ringsherum[244] aber war in und außer Baden ein reges Leben; denn ein Übungslager war auf den weiten Flächen zwischen Baden, Tribuswinkel, Traiskirchen usw. aufgeschlagen; in Baden wohnten die höhern Militärpersonen, die dazu gehörten, und elegante Kaffeehäuser und Restaurationen waren in der beweglichen Zeltstadt errichtet und boten den Badnern und auch den hierherströmenden Wienern mancherlei Genüsse und Unterhaltungen. Der Eichkogel, ein kleiner Berg, der aus der Reihe der höhern, welche sich hier bis Baden und noch viel weiter hinziehen, hervortritt, wurde bestürmt und verteidigt; allerlei Scheingefechte aufgeführt, das muntere bewegte Leben dauerte eine Weile, bis plötzlich die Äquinoktialstürme mit ungeheuern Regengüssen eintraten, diese Regen nebst schwellenden Bächen das Lager unter Wasser setzten, und die Mannschaft so schnell und so gut wie möglich in die umliegenden Ortschaften verteilt werden mußte, wobei denn auf Baden auch ein hübscher Teil kam.

Mit Anfang des Oktobers kehrten wir nach Wien zurück, wo dann meine Tochter bald darauf, am Vorabend ihres eigenen Geburtstages, mit ihrem vierten Kinde, einem schönen, starken Mädchen, entbunden wurde, das sie, wie das frühere, selbst stillte, und das in der Taufe, über die ich sie hielt, den Namen ihrer Mutter, der auch der meinige und der meiner verstorbenen Mutter war, bekam, so daß er nun in die vierte Generation reichte. Das ältere Mädchen war nach ihrer Patin, der väterlichen Großmutter, Franziska genannt; aber diese Großmutter, die schon lange kränkelte, flößte um diese Zeit ihrem Sohne und uns allen große Besorgnisse für ihre Gesundheit und Erhaltung ein, und Pelzeln, der sie unendlich liebte, litt sehr durch diese[245] Sorgen, besonders da sein Diensteifer und die außerordentliche Gewissenhaftigkeit, mit der er sein Richteramt als Appellationsrat verwaltete, seine nicht sehr feste Gesundheit zu erschüttern drohten.

In diesem Jahre 1828 war es auch, daß Baron Hormayr, der damals bereits seit mehreren Jahren wieder in Wien, und im Hause seines Freundes Grafen Salm wohnte, den wahrhaft seltsamen Entschluß faßte, nach Bayern zu übersiedeln. – Hormayr, der 1809 als der erbittertste Feind von Bayern aufgetreten war, und dessen Verhalten gegen die Beamten dieser Macht in Tirol alle Anhänger Bayerns aufgebracht hatte. Schon ein oder zwei Jahre früher hatte er eine Reise nach München gemacht, und war vom Könige gnädig aufgenommen worden. Aber durch andere Personen, und hauptsächlich durch meine vieljährige Freundin und Korrespondentin Therese Huber erfuhr ich, daß die Stimmung in München ganz gegen ihn sei. Dennoch setzte er seinen Plan durch, trat in bayrische Dienste und ward in München nach kurzer Zeit ebensoviel angefeindet, als in der letzten Zeit hier, und in böse Händel verwickelt. Seine Anstellung in Hannover und bald darauf in Bremen, verschiedene Erklärungen, die in der allgemeinen Zeitung erschienen, deuteten darauf hin – und so schreitet dieser Mann, den ungewöhnliche Geistesgaben, ein vorteilhaftes Äußeres und manche Gunst des Glückes und der Natur bestimmt zu haben schienen, eine glänzende und ehrenvolle Laufbahn zu durchmessen, nun in einer unbedeutenden diplomatischen Stellung dem Ende seines Lebens entgegen, von seinen Kindern, seinen frühern Freunden entfernt, nicht glücklich in seiner zweiten Ehe, weder von seinem angebornen noch von dem erwählten Vaterlande vermißt[246] oder besonders geachtet! Trauriges Los, das ganz anderes verhieß, und sich so unerfreulich gestaltet hat!

Trotz aller dieser unleugbar ungünstigen Verhältnisse hat sich das, freilich sehr gelockerte Band unserer vierzigjährigen Freundschaft nicht aufgelöst. Ich bewahre Hormayrn ein dankbares Andenken, ich erinnere mich noch oft mit Vergnügen jener nun schon lange verschwundenen Zeit, wo wir uns oft sahen, wo ich mich seines geistreichen Umganges erfreute, wo sein Beispiel, sein Interesse an der Geschichte seines Vaterlandes auch mich in diese erhebende Beschäftigung einführte, wo ich für meine Zweifel und Fragen in historischen Angelegenheiten immer ein williges Ohr und bereite Lösung bei ihm fand, und wo nicht allein die unglückliche Katastrophe, welche ihn aus seiner politischen Laufbahn mitten in ihrem stolzesten Gang hinausschleuderte, sondern auch so manches häusliche Leiden, das ihn drückte, und das mir vielleicht näher als andern bekannt war, meine wärmste Teilnahme für ihn erregte. Jetzt, nachdem wir durch mehr als 14 Jahre einander nicht mehr gesehen haben und wahrscheinlich auf dieser Welt nicht mehr sehen werden, zittert noch ein schwacher Faden alter Anhänglichkeit von einem zum andern hinüber. Wir schreiben uns alle Jahre ein-, höchstens zweimal, und so spinnt sich die alte Zuneigung zwischen uns fort, lebt von der Vergangenheit und erwartet wenigstens hiernieden nichts mehr von der Zukunft.

Das Jahr begann unter manchen sehr trüben Ereignissen, gleich als wollte es uns auf noch trübere vorbereiten. Herr von Schlegel, der, wie der Leser weiß, unser Hausgenosse seit fünf Jahren war, hatte im vorigen Winter schon Vorlesungen für ein gemischtes[247] Publikum – ich weiß nicht mehr über welchen Gegenstand, hier in Wien gehalten, und ich erinnere mich nur, daß sie philosophisch-moralischen Inhalts waren, daß er uns – nämlich seiner Frau, der Gräfin L..ka und mir, eine oder zwei derselben vorlas, daß er im Menschen drei Mächte, nämlich Körper, Seele und Geist unterschied, und daß ich von dieser Vorlesung, sowie es mir überhaupt mit den Schriften der neueren Zeit oft ergeht – nicht viel verstand. So viel indes glaubte ich zu fassen, daß diese Unterscheidung von Seele und Geist ungefähr das bezeichnen sollte, was man sonst die obern und untern Seelenvermögen genannt hatte; nämlich Vernunft, Urteilskraft, Wille usw. – und Gedächtnis, Phantasie, Begehrungsvermögen usw. Bald darauf reiste er, von seiner Nichte, jener liebenswürdigen Baronin Buttlar begleitet, die eigentlich aus Dresden stammte, nach dieser Stadt, um ebenfalls Vorlesungen zu halten. Am 29. Jänner, ich erinnere mich des Tages, der ein Freitag war, und aller ihn begleitenden Umstände noch sehr wohl, trat, während wir zu Tische waren, das Stubenmädchen herein, um uns zu melden, soeben habe Frau von Schlegel die so unerwartete als traurige Nachricht erhalten, daß ihr Gemahl plötzlich in Dresden am Schlagfluß gestorben sei. Ein Geistlicher, wenn ich nicht irre, ein Redemptorist, war gekommen, sie schonend vorzubereiten und den Unglücksfall zu melden. Wir erschraken alle über diese Nachricht, wundern aber konnte ich mich nicht sehr, denn des Verstorbenen Lebensweise, der bei einer meist sitzenden und gelehrten Beschäftigung mehr Wert auf eine gute Kost legte und mehr geistige Getränke zu sich nahm, als sich mit seinen physischen und pekuniären Verhältnissen vertragen[248] wollte (was mir die finanziellen Sorgen erklärte, über welche seine Frau oft mit mir sprach, ohne doch jener Ursache zu erwähnen), hatte ihm schon öfters Anfälle von Schwindel zugezogen, die mit Blutlässen abgeleitet werden mußten. Aber daß dieser letzte Anfall ihn im fremden Lande, fern von seinem Hause und seiner Gattin, traf, war für uns alle eine Verschärfung der bösen Kunde, und für jene eine Quelle bittern, untröstlichen Schmerzes.

Gleich nach Tische eilte ich zu ihr hinauf; ich traf die damals noch lebende Frau von Pilat, Frau von Doré, Herrn von Buchholtz und noch viele andere Freunde bei ihr. Andere teilnehmende Personen sammelten sich nach und nach, und so umringte ein erschütterter, aber herzlich wohlwollender Freundeskreis die arme bedrängte Witwe, die jetzt noch ziemlich gefaßt schien, und deren tieferer Schmerz sich nach und nach erst mit dem Fortschritt der Zeit entwickelte. Eine Erscheinung, die ich wohl begreife und jeder begreifen wird, der den Gefährten langer, miteinander verlebten Jahre in einem Alter verliert, in dem zwar kein heftiges, leidenschaftliches Empfinden den ersten Eindruck einer solchen Kunde zu einem lebens- oder wenigstens gesundheitsgefährlichen Ereignis machen kann; in dem aber eben im Verlauf der Zeit immer mehrere und öfter sich wiederholende Gelegenheiten eintreten, bei welchen uns der dahingegangene Freund überall und überall aufs schmerzlichste mangelt und wir mit wehmütiger Klarheit erkennen, daß die bessere Hälfte unseres Seins mit ihm zu Grabe getragen worden ist.

Am andern Morgen war ich zeitlich wieder bei ihr. – Die Hofrätin von Müller (deren Gemahl, der durch[249] seine politischen Schriften bekannte Adam von Müller, früher k.k. Konsul in Leipzig, jetzt bei der Staatskanzlei angestellt und ebenfalls sehr kränkelnd war) kam mit ihren beiden Töchtern (jetzt Frauen Endlicher und von Pilat, und entweder sie oder ein anderer Ankommender brachte eine zweite Nachricht plötzlichen Todes. – Die Fürstin Metternich, geborne Freiin von Leykam, war diesen Morgen im Kindbett ganz unvermutet gestorben. Ich hatte die Frau in meinem Leben nicht gesehen, ihr Tod konnte mir also gleichgültig sein; jetzt, so unmittelbar nach einem Trauerfall, der in meiner nächsten Nähe eine teure Freundin so schmerzlich getroffen, erschütterte er mich und uns alle doch sehr. Die begleitenden Umstände, daß es eine junge, schöne Frau gewesen, die bei der Geburt ihres Erstlings das Leben verlor, rührten doppelt, wenn man bedachte, welche und wie heftige Entrüstung, Widerspruch und Tadel die Heirat des alternden, hochgestellten Fürsten mit dem, ihm keineswegs ebenbürtigem Fräulein ein Jahr früher in Wien erregt hatte und wie die Bemerkung, daß bei allem Tadel und schlimmer Nachrede, welche ihre Familie und die Mißheirat traf, doch auf die junge Frau selbst kein Schatten gefallen war, für den schätzbaren Charakter derselben bürgen mußte. So waren denn auch wir alle tief ergriffen, und bald darauf beurlaubte sich Frau von Müller, um mit ihren Töchtern nach Hause zu ihrem Gemahl zurückzukehren. Zwei Stunden darauf kam die Nachricht, daß sie ihn sterbend – ebenfalls vom Schlag gerührt – gefunden habe.

Das war zu viel in der kurzen Zeit von kaum 24 Stunden! Ich fühlte mich wie betäubt und zerdrückt von diesen, so schnell hintereinander folgenden Todesnachrichten,[250] und es bedurfte ein paar Tage und der Erheiterung, die ich mir in der Stadt, im Umgang meiner Kinder und Enkel holte, um mich wieder in meine natürliche Stimmung zu versetzen.

Mit dem Frühling verließ – eine natürliche Folge dieser Veränderung – Frau von Schlegel unser Haus, weil ihr die Wohnung zu groß war, aber sie blieb in meiner Nähe, im Hause ihres schätzbaren, alten Freundes von Klinkowström, der nicht weit von uns sein, mit Recht berühmtes Erziehungsinstitut gegründet hatte, und ihm mit großer Ehr- und Liebenswürdigkeit vorstand. O wie viele schöne, wohltuende Abende brachte ich schon früher, aber noch mehr seit meine Freundin da wohnte, in diesem Hause zu, in welchem den Eintretenden sogleich eine Atmosphäre des Friedens, der Stille und Rechtlichkeit umfing. Ein gewählter Kreis von Menschen versammelte sich, mehr oder minder zahlreich, daselbst, welchen hohe Geistesbildung, würdiger Sinn und Bekanntschaft mit allem Neuen in der Literatur auszeichneten. Wo sind jetzt die meisten von denen, die ich dort so oft sah und an deren Umgang ich mich erfreute? Entweder tot oder fern, fern von hier, oder in ganz andere Verhältnisse versetzt. So ist der Kreis – das liebende Gedränge zerstoben! und mit tiefer Wehmut denkt das zurückgebliebene, hochbejahrte Mitglied desselben an diesen, wie an so manchen andern geselligen Kreis, in welchem es während des langen Daseins gelebt, und mit Vergnügen gelebt hatte, und der ebenso zerstoben ist, wie der im Klinkowströmschen Hause.

Der Winter verging indessen, und ein ziemlich kühler, nasser Sommer folgte ihm. Pichler hatte sich bis jetzt immer einer guten und festen Gesundheit erfreut, und[251] der Umstand, daß er täglich den – freilich nicht sehr weiten – Weg von seinem Hause ins Bureau und wieder zurück zweimal zu machen hatte, stählte seine Gesundheit, machte ihn unempfindlicher gegen die Einwirkungen der Witterung und verschaffte ihm die, einem Geschäftsmanne so nötige tägliche Bewegung. Doch endlich machten die zunehmenden Jahre ihr Recht geltend, und ein Übel, das sich schon ein paarmal im geringeren Maße gemeldet, kehrte jetzt mit größerer Kraft zurück. Pichler war an einem warmen Juniustage, ziemlich leicht gekleidet, nach Tische in sein Bureau gegangen; während er dort war, brach ein heftiges Gewitter aus, und über dem Nachhausegehen mochte die stark abgekühlte Luft bei seiner leichten Kleidung verderblich auf ihn eingewirkt haben. In der Nacht befiel ihn jenes alte Übel, das er nur zu wohl kannte, und das in heftigen Krämpfen im Unterleibe bestand. Er weckte mich, ich rief den Leuten, der Arzt wurde gerufen, Umschläge und Tee gekocht und sogleich alles angewendet, was mir bei solcher Gelegenheit als nützlich bekannt war. Gegen Morgen löste sich der Krampf, und Pichler war imstande aufzustehen und seinen gewohnten Verrichtungen nachzugehen. Aber es blieb eine Reizbarkeit zurück, die, wenn nicht die äußerste Vorsicht angewendet wurde, einen Rückfall befürchten ließ. Dieser blieb auch nicht aus, obwohl er erst in der zweiten oder gar dritten Woche eintrat und war nur um so hartnäckiger und beängstigender für uns alle. Diesmal hatte der äußerst schmerzliche und lebensgefährliche Zustand vom frühen Morgen bis zur Nacht gedauert. Die Ärzte samt dem Wundarzt waren im Krankenzimmer. – Allerlei wurde versucht – nichts wollte fruchten. – Lotte war mit ihrem[252] Manne abends voll Angst gekommen. – Solange Pelzeln, der seine Kinder nicht ganz allein lassen wollte, dableiben konnte, besserte sich Pichlers Zustand nicht. Er kehrte also allein nach Hause, aber die Tochter beschloß, die Nacht bei mir auf dem Sofa zuzubringen – währenddessen Doktor Schiffner, damals unser Hausarzt, für plötzliche Fälle so gütig war, ein paar Stunden der Nacht bei dem Kranken zu wachen, damit wir etwas schlafen konnten. – Ach, es war doch kein erquickender Schlaf! ein Hinbrüten zwischen Angst und Erwartung! Gegen den Tag zu ging ich zu dem Kranken, Schiffner nach Hause. – Noch dauerte der beängstigende Krampf. Endlich zwischen 4 und 5 Uhr morgens traten die ersten Zeichen einer Nachlassung ein – und nun besserte sich zu unser aller Freude und Trost der peinliche Zustand allmählich; aber es dauerte volle acht Tage, ehe Pichler das Bett verlassen und im Zimmer und Garten sich langsam erholen konnte.

Türkheim, der gleich am ersten Tage nebst Dr. Schiffner war gerufen worden, und jeden Morgen, wenn er von Hietzing in die Stadt fuhr, bei uns einsprach, entschied nun, daß wir so bald als möglich nach Baden gehen sollten, wo er sich von der Wirkung des Wassers viel für Pichler versprach. Dies geschah denn auch in den ersten Tagen des August, und unsere Freundin, Fräulein Henriette von Ephraim, hatte uns, wie jedes frühere Jahr, die Wohnung bestellt. Es war diesmal für uns eine neue, in der Landschaft am Josefsplatz, die uns gar sehr zuzusagen schien, indem sie innere Bequemlichkeit, ja selbst einige Eleganz mit dem Vorteile einer herrlichen Aussicht in jedem Sinne verband. Denn während mich der Ausblick auf die gegenüberliegenden Berge erfreute, fanden die meisten, welche[253] mich besuchten, es gar angenehm, daß alles, was ins Tal hinaus oder nach Vöslau, nach Heiligenkreuz usw. wollte, hier vorüber mußte.

Sei es nun, daß die früheren Erschütterungen, welche mein Gemüt und somit auch meinen Körper stark mitgenommen hatten, auch meine Gesundheit untergraben hatten, sei es, daß die Wohnung unmittelbar am Bach, der begreiflicherweise fast allen Brunnen dieser Gegend sein Wasser und somit einigen Schwefel mitteilt, ungünstig auf mich wirkte, oder beides zusammenkam, genug, ich kränkelte während der ganzen Zeit, welche wir daselbst zubrachten und genoß nur wenige ganz gesunde Tage. An einem derselben ward eine große Partie nach Merkenstein in unserm gesellschaftlichen Kreise verabredet, und wir dazu aufgefordert. B. Arnstein, B. Pereira, Frau von Elkan, von Ephraim und die Herren, welche zu dieser Kotterie gehörten, waren dabei, nur daß zufällig diese Partie auf meinen Geburtstag fiel, genierte mich ein wenig, aber die freundliche Gesellschaft wußte auch diesen zufälligen Umstand auf eine verbindliche Art zu benutzen. In zehn oder noch mehr offenen Wagen brachen wir auf – jede Familie hatte eine oder zwei Speisen, oder Wein, Obst usw. zu dem Picknick mit sich genommen, und recht lustig flog der lange Wagenzug über die Ebene dahin, im Angesicht der nahen bewaldeten Berge und umrauscht von einem nicht gerade gelinden Wind, der indes die bleibende Heiterkeit des schönen Herbstmorgens sicherte. Von weitem erblickte ich nun einen Reiter, etwas voraus der Wagenreihe – eine auffallende Gestalt, die meine Blicke auf sich zog und meine Neugier reizte.

Es war ein langer, hagerer Mann, der heftige Wind, der ihm entgegenblies, schlug den dunkeln, mit[254] grellem Rot gefütterten Mantel wild um ihn herum, und trieb ihm die schwarzen Haare unter der kleinen polnischen Mütze aus dem bleichen Gesicht, aus dessen tiefen, aber bedeutenden Zügen ein paar lebhafte Augen unter schwarzen Augenbrauen hervorblitzten, und ein starker Schnurrbart vollendete das beinahe Unheimliche dieser Erscheinung, welche sehr an irgendeinen Helden Byrons, einen jener interessanten Verbrecher mahnte, wie der Lord sie zu schildern liebte. Lange unterhielt es mich, den Reiter zu beobachten, endlich machte eine Wendung der Straße ihm die Wagen bemerklich, er wandte sein Pferd und ritt an einen derselben heran, indem er die Damen artig grüßte. Mir war das recht, denn nun konnte ich später auf meine Frage erfahren, daß dieser unheimliche Reiter ein Graf Löwenhjelm, schwedischer Gesandter an unserm Hofe war und mit zur heutigen Gesellschaft gehörte. Bei dem Mittagsessen, das, von der heitersten Herbstwitterung begünstigt und von den Bergen, in deren engem Schoß wir uns befanden, vor dem Wind geschützt, im Freien genommen wurde, ließ sich plötzlich auf einem Hügel über uns eine Harmoniemusik vernehmen, die das Vergnügen der Gesellschaft vermehrte. Nach Tische bemerkte ich allerlei Geflüster und heimlichtuenden Scherz, dessen Absicht mir und wohl vielen rätselhaft war, aber auf einmal mußte auf Befehl eines aus der Gesellschaft, diese in zwei Reihen – Frauen und Herren getrennt, wie zur Eccossaise, sich einander gegenüberstellen. – Nun trat Fräulein Ephraim hervor und las ein ebenso gemütliches als elegant stilisiertes Sonett vom Herrn Major von Weingarten, dem zierlichen Dichter, vor, das einen freundlichen Glückwunsch zu meinem Geburtstag enthielt. Hierauf[255] wendete sich plötzlich die ganze Reihe der Herren, wie sie vor uns standen, um, und präsentierten jeder auf seinen Schultern einen großen Buchstaben, aus weißem Papier ausgeschnitten, und diese Buchstaben formierten das Vivat Caroline! Ungemein freute mich diese gütige Aufmerksamkeit, und mit stiller Genugtuung fühlte ich mich im Kreise wohlwollender Freunde. Nach Tische wurde spazieren gegangen, die Aussichten in die, hinter diesen Bergen liegende ernste Gebirgswelt bewundert, wo der Schneeberg, die Neustädter Wand und andere hohe Gipfel und Bergrücken sich majestätisch erhoben, und gegen Abend kehrte alles vergnügt nach Baden zurück.

Bei dieser Gelegenheit, wo die Rede von einer Aufmerksamkeit ist, welche mir von befreundeten gütigen Personen zuteil wurde, finde ich es nicht unpassend, einer andern, ebenfalls zarten Rücksicht zu erwähnen, welche ich von einem mir gänzlich unbekannten und noch bis jetzt nicht ermittelten Manne erhielt, der meinen späten, aber darum nicht minder warmen Dank vielleicht erst in diesen Blättern lesen kann.

Es war wohl noch einige Jahre früher – vermutlich als meine Tochter schon in Prag oder wenigstens nicht mehr bei mir lebte, weil ich nicht von ihr begleitet war – daß ich nach einer alten, mir liebgewordenen Gewohnheit an einem der Karwochentage nach Tisch in die Hofkapelle ging, um die dort ungemein schön abgehaltene Pumpermette zu hören, in welcher besonders die Responsorien am Schlusse jedes Psalms von den Sängern der Hofkapelle, ohne Begleitung der Musik, ja nicht einmal der Orgel, welche nur den ersten Akkord feierlich angibt, mit meisterlicher Intonation und tiefergreifendem Effekt gesungen werden. Die[256] Kapelle ist nicht groß, die Schönheit der Musik lockt viele, daher war es zum Erdrücken voll, und ich stand recht mitten im Gedränge, nicht ohne einige Unbequemlichkeit meine Semaine sainte, einen ziemlich korpulenten Band, in den Händen emporhaltend, um in der dämmernden Kirche lesen zu können. Da gewahrte ich einen jungen ungarischen Gardisten (deren sich mehrere in der Kirche befanden, ohne im Dienst zu sein), der geschäftig um sich blickte, und endlich ein paar Personen, die ganz am Ende in den nächsten Kirchenstühlen saßen, anredete, so daß ich vermutete, er suche für jemand einen Platz, der vielleicht erst kommen werde. Weiters gab ich auf die ganze Sache nicht acht, als plötzlich ein Hofbedienter mit einem Sessel sich durch das Gedränge arbeitete, ihn hinter mir niederstellte, mit der Aufforderung, mich seiner zu bedienen. Deutlich erkannte ich jetzt, daß jene freundliche Geschäftigkeit des jungen Offiziers mir gegolten hatte und widmete ihm in meinem Herzen warmen Dank, den ich ihm leider, als die Andacht vorüber war, nicht mehr zollen konnte, denn er war aus der Kirche verschwunden. Auch glaube ich kaum, daß ich ihn würde wieder erkannt haben, denn ich hatte ihn nur flüchtig angesehen und weiß mir seinen guten Willen, sein freundliches Bemühen, der unbekannten Matrone einen bequemen Sitz zu verschaffen, nur damit zu erklären, daß er mich vielleicht aus dem Zayschen Hause in Bucsan oder Ugrócz gekannt und der schriftstellernden Frau gern eine gütige Rücksicht erwiesen habe.

Von Baden zurückgekehrt, traten wieder mancherlei trübe Ereignisse ein. Therese Artner, meine innigverehrte Freundin, war schon vor mehr als zwei Jahren von Bucsan weg zu ihrer jüngsten Schwester Minna[257] Romano gezogen, welche mit ihrem Manne in Agram lebte und ihrer eigenen Gesundheit wegen eine Stütze in ihrem häuslichen Walten bedurfte. Diese fand sie am besten und liebsten in der ältesten Schwester, welche ja schon von Kindheit an die Pflichten der frühverstorbenen Mutter an den drei jüngern Geschwistern geübt hatte. Aber Therese litt selbst an gichtischen Übeln, und oftmalige beschwerliche Reisen von Bucsan nach Agram und von hier wieder zurück, womit sie die entgegengesetzten und doch im Grunde gleichen Wünsche ihrer Schwester Minna und ihrer Freundin Zay befriedigen wollte, hatten diese Übel nur noch mehr hervorgerufen. Bald darauf waren, während Therese sich bei ihrer Schwester befand, schnell nacheinander zwei kleine Kinder derselben gestorben,und dieser Schmerz, sowie noch manch anderer Verlust erschütterte ihre Gesundheit immer mehr. Im vergangenen Jahre 1828 hoffte sie viel von einer Reise nach Vicenza zu entfernten Anverwandten, die sie freundlich eingeladen hatten. Aber die erneuerten Fatiguen der Reise, da Theresens Vermögensumstände ihr nicht erlaubten, auf recht bequeme Art zu reisen, die Veränderung des Klimas, selbst die erhöhte Wärme, auf welche sie als ein Heilmittel gerechnet hatte, und die sich schädlich für sie erwies, endlich die Hast und vielfältige Bewegung, mit welcher ihr, nach Kenntnissen und Kunstgenüssen dürstender Geist, diese überall aufsuchte, vollendeten den Ruin ihrer Gesundheit. Ihre Bemerkungen auf dieser Reise legte die teure Freundin in einem Bericht darüber, in Form von Briefen an mich, nieder und gab mir so vor ihrem Tode aus der Ferne noch ein warmes Liebeszeichen. Zurück nach Agram gekehrt, nahm ihr Leiden mit wachsender Gewalt[258] überhand, und am 25. November verschied sie in den Armen ihrer Freunde, ihnen und uns allen ein unersetzlicher Verlust.

Während dieses letzten Sommers hatte auch der Zustand von Pelzelns Mutter sich bedeutend verschlimmert. Ihr Arzt verbarg ihren Angehörigen die Wahrheit nicht. – Es war eine Brustwassersucht, und ihr Sohn, der sie unendlich liebte und die letzte Zeit fast ganz bei ihr zubrachte, litt aufs schmerzlichste durch diesen drohenden Verlust, und meine Tochter litt mit ihm.

Es war am Ende des Novembers, als ich eben abends, einsam im Zimmer sitzend, einen Brief aus Agram erhielt, der mir den Tod Theresens meldete, und dies Ereignis, das ich leider schon lange als unvermeidlich vorausgesehen, nun schmerzlich verwirklicht sah. Noch sann ich tiefbetrübt darüber nach, als man mir ein Billett meiner Tochter brachte, das mir den eben erfolgten Tod ihrer Schwiegermutter anzeigte. So kreuzten sich auch diesmal die Todesnachrichten wie zu Anfang dieses, durch manche Unfälle, wenigstens für uns denkwürdigen Jahres, das überdies noch durch eine furchtbar strenge Kälte, welche vom halben November bis zu Ende Februars anhielt, sich allen unvergeßlich machte, und der trübe Schluß desselben glich seinem finstern Anfang.

Während der zwei Jahre, welche nach der Erscheinung der »Wiedereroberung von Ofen« verflossen waren, hatte meine Phantasie, die sich ohne eine bestimmte, und umfassende dichterische Arbeit nicht recht behaglich fühlte, wieder einen neuen, ebenfalls aus der österreichischen Geschichte geschöpften Stoff gewählt: »Friedrich den Streitbaren«, den letzten[259] Babenberger. Zu diesem Behuf schaffte ich mir Raumers gediegenes Werk: »Geschichte der Hohenstaufen« an, und suchte auch in andern geschichtlichen Werken, hauptsächlich aber in Hormayrs Schriften, nach Notizen über diesen Fürsten. Raumers Werk war mir von großer Hilfe, wie denn überhaupt alles, was aus dem ernsten und dabei doch so milden Geiste dieses Mannes geflossen ist, in dem meinigen stets einen bereiten Widerklang fand und ich mit großer Beruhigung so oft meine, noch unklaren oder mangelhaften Ansichten von geschichtlichen Charakteren oder Zuständen aufgeklärt und vollständig entwickelt in seinen Werken erblickte; sowie seine persönliche Erscheinung, auf welche ich später kommen werde, mir und allen, die ihn bei uns sahen, sehr zusagte. Doch muß ich gestehen, daß eine bei weitem lebendigere (ob auch ganz richtige, lasse ich dahingestellt sein) Gestaltung von Friedrichs Eigentümlichkeit mir aus Hormayrs Schilderung entgegentrat, als aus Raumers Werk, wo ich die zerstreuten Züge erst zusammensuchen mußte, weil natürlicherweise dieses Fürsten nur bei jenen Gelegenheiten und nur insoweit, als er in Berührungen mit den Hohenstaufen kam, erwähnt ist. Hormayr hingegen hat – fast möchte ich mir erlauben zu erraten warum? – diesen Fürsten stets mit ganz besonderem Interesse betrachtet. Er hat seine gewaltige Willenskraft bewundert, seine Irrtümer und seine sich überstürzenden Leidenschaften entschuldigt, und in dem häuslichen sowohl als öffentlichen Unglück, das Friedrich betroffen, doch stets nur die Größe des Charakters im Kampf mit einem feindlichen Geschick und das traurige Bild vereitelter Hoffnungen und gehemmter Entwürfe gesehen. Eben diese sympathetische Teilnahme, wenn[260] ich so sagen darf, hat denn auch Hormayrs Phantasie belebt, und die Biographie Friedrich des Streitbaren, nach meiner Ansicht, zu einer seiner lebendigsten Darstellungen erhoben, ohne daß ich jedoch zu behaupten wage, daß es auch eine der treuesten und richtigsten sei wie denn überhaupt strengere Geschichtsforscher gegen viele seiner Arbeiten diese Einwendung machen.

Mir sagte dieser Stoff sehr zu, und ich beschäftigte mich angelegentlich damit; ja ich war, wie bei allen meinen Arbeiten, mit ganzer Seele dabei, so daß der Lauf der Begebenheiten und die Bilder der Personen mir nie aus dem Gedächtnis schwanden und ich imstande war, sowie ein freier Augenblick zwischen häuslichen Geschäften und geselligen Pflichten sich anbot, meine Arbeit fortzusetzen. Aber ich hatte Hrn. Fleischer, mit dem ich in einem langjährigen literarischen Verkehr gestanden und dessen freundliches Betragen gegen mich jede billige Rücksicht fordern konnte, eine Erzählung für die »Minerva 1831« versprochen und mußte nun daran denken, dieser Verpflichtung nachzukommen. Recht mit Mühe, kann ich sagen, riß ich mich aus dem Ideenkreise, aus den Bildern, Begebenheiten, Streben und Ringen der Epoche, in der mein größeres Werk spielte, los, um etwas ganz Verschiedenartiges vorzunehmen. Ich hatte schon seit langem den Stoff des »Turniers zu Worms« (den ich früher schon als Romanze behandelt hatte) ausersehen, um ihn in einer größeren Erzählung zu bearbeiten, nun führte ich diesen Plan aus. Hatte nun wirklich das innere Widerstreben, womit mein Geist an diese Arbeit ging, darauf eingewirkt, oder war es eine von den mancherlei Freundlichkeiten, welche Herr W. Menzel im »Literaturblatt des Morgenblattes« den schriftstellernden[261] Frauen, die er samt und sonders haßte, und somit auch gelegentlich mir erwiesen hat, genug, er sagte in der Rezension des »Almanachs«, daß die Erzählung: »Das Turnier zu Worms« zwar nicht lang, aber langweilig sei. Bei der Höflichkeit, womit sonst meine Arbeiten von den Herren Rezensenten behandelt wurden und noch werden, selbst, wenn sie etwas daran zu tadeln fanden, wogegen ich nichts einzuwenden hatte, hat mich der barsche Ton, in welchem dieser Hr. Menzel sich schon ein paarmal gegen mich vernehmen lassen, wohl nicht beleidigt, denn ein Urteil über ein gedrucktes Buch steht jedem frei, aber in Verwunderung gesetzt, da ich ihm wahrlich nie einen Grund zum Mißvergnügen gegeben, er müßte mir nur das, daß ich eine Schriftstellerin bin, als ein Vergehen a priori anrechnen. Dieser Widerwille mag es auch wohl gewesen sein, welcher, verbunden mit der stets mehr überhand nehmenden Sitte unserer Literatoren, die Gesellschaft von Frauen zu vermeiden, ihn bei seiner Anwesenheit in Wien, vor einigen Jahren, bestimmt hat, mich ganz zu ignorieren, obwohl er ins Haus der B. Pereira kam, und somit eine leichte Berührung zwischen uns möglich gewesen wäre. Nachdem ich diese Erzählung geendigt und abgeschickt hatte, wandte ich mich wieder zu meinem Friedrich dem Streitbaren, aber die erste Stimmung war zum Teil verschwunden, die Wärme verflogen, ich endigte zwar meine Arbeit nach dem früher entworfenen Plane und brachte auch alle Einzelnheiten in Ausführung, welche ich schon früher, jede an ihrer Stelle, dazu bestimmt hatte; doch freute mich jetzt diese Arbeit nicht mehr halb so sehr, als wenn ich das Ganze in einem Zuge hätte fortarbeiten können und ich möchte sagen, mich nicht aus der Atmosphäre[262] von Ansichten, Empfindungen und Schilderungen hätte entfernen müssen, in welcher, wie ich glaube, das Werk auch viel besser beendet worden wäre.

Später, nachdem ich Herrn Korn so meisterhaft seine Rolle des zartfühlenden und seine hervorbrechende Leidenschaft mit männlicher Kraft beherrschenden Vormunds in dem Stücke Raupachs: »Vormund und Mündel«, hatte spielen sehen, dachte ich daran, aus dem »Turnier zu Worms« ein Stück zu machen, und Claude de Barres Charakter und Lage schien mir ganz geeignet, auf ähnliche Art behandelt und dargestellt werden zu können. Ich teilte mir die Handlung in Akte und Szenen ein, und machte auch die Änderungen, welche mir die dramatische Vorstellung an einer Erzählung zu erfordern schien, unter andern auch die, daß der Vorsatz des Kaisers, als Gegner des französischen Ritters aufzutreten, dem Publikum nicht wie bei der Erzählung bis zum letzten Augenblick ein Geheimnis bleiben sollte, weil es sehr möglich war, daß viele Personen im Theater beim Aufschlagen des Visiers den Kaiser vielleicht nicht sogleich hätten erkennen, und folglich das Schlagende der Entdeckung nicht so allgemein wirksam hätte sein können. Im Stücke sollte der Tausch der Waffen mit Georg und das Erscheinen des Kaisers unter Georgs Namen nur den Hauptpersonen der Handlung unbekannt sein, und das Publikum bloß mit ihnen und für sie dem zweifelhaften Ausgange des Kampfes gespannt entgegen sehen. Aber ich gab auch diesen Plan auf und ließ es bei der Erzählung bewenden.

Gegen Ende des Winters brachte der Eisgang, der während der durch viertehalb Monate anhaltenden Kälte sehr stark geworden, große Bestürzung hervor. Er erfolgte in der Nacht vom letzten Februar auf den[263] ersten März, und richtete ungemein vielen Schaden in den, dem Strome zunächstliegenden Vorstädten Wiens und in der Umgegend an, wobei selbst Menschen zugrunde gingen, und der jetzige Kaiser, damals Kronprinz, wie ein helfender und rettender Engel in den gefährdeten Gegenden erschien. Auch die Einwohner Wiens zeigten sich hilfreich, man brachte Geld, Einrichtungs-, Kleidungsstücke usw. in solchem Überfluß zusammen, daß, wie man erzählte, manche Familie durch diese Beteilung nun besser als vorher eingerichtet und versehen war.

Den nächsten Monat aber traf auch uns ein trauriges Ereignis. Das jüngste Kind meiner Tochter, das eben in der vierten Generation den Namen Karoline bei uns fortsetzen sollte, starb nach einer kurzen Krankheit von wenigen Tagen an einem Wasserkopf, wie die Ärzte sagten. Am Mittwoch abends, als meine Tochter mich besuchte, hatte sich das Kind zuerst geklagt, das Übel nahm mit Riesenschritten überhand, Konvulsionen traten ein, und am Montag hatte es seine kurze Laufbahn beendigt. Es war ein schönes und für sein Alter von 18 Monaten sehr verständiges Kind. Wahr ist es, daß es nie sehr munter gewesen war, und daß der Blick seines wirklich schönen Auges oft etwas Melancholisches hatte, das mich schreckte, indem es mich den Grund des Übels ahnen ließ, der sich auch bestätigte. Bald darauf entschloß sich mein Schwiegersohn, um seiner Frau Erheiterung und den Genuß der Landluft zu verschaffen, eine Wohnung auf dem Lande zu nehmen. So lange seine Mutter lebte, pflegte er bloß im Sommer jeden Sonnabend allein zu ihr nach Mödling zu fahren, wo er dann bis Montag blieb, und seine Frau brachte den Sonntag mit den Kindern bei uns zu. Dies[264] Jahr aber war es anders. Sein Präsident, der Baron von Gärtner, bewohnte schon seit ein paar Jahren ein sehr schönes Haus in Döbling. Außer seiner großen Wohnung war noch eine kleine in diesem Hause zu vermieten. Pelzeln nahm sie auf die freundliche Aufforderung seines Chefs, und so gestaltete sich für meine Tochter, die dieser Aufheiterung wohl bedurfte, ein angenehmer Séjour im Genuß der Landluft und im Umgang mit der sehr würdigen Familie des Barons von Gärtner.

Der strenge Winter hatte einem sehr heißen Sommer Platz gemacht, und wie in der Natur schien in der Menschen- oder eigentlich der politischen Welt während langer Ruhe sich der Gärungsstoff gehäuft und jetzt in heftiger Glut entzündet zu haben. Frankreich, stets seiner Glanzperiode unter dem Kaiserreich eingedenk und nach Art leichtsinniger Gemüter der Niederlage vergessend, die eben jene Glanzperiode herbeigeführt hatte, ertrug unwillig die Einrichtungen der Restauration und so manche, nicht Neuerungen, sondern Umkehrungen zum Alten, welche die wiedergekehrten Bourbons, besonders nach des höchstverständigen und würdigen Ludwigs XVIII. Tode, einzuführen begannen. Das war im Westen von uns. – Im Osten oder vielmehr Nordosten begann es sich ebenfalls zu regen. Das unglückliche Polen hatte (vermutlich auf französische Instigationen) den Freiheitskampf wieder aufzunehmen angefangen. Unruhen regten sich hin und wieder. Ein lebhafter Geist schien alles zu beseelen – Hoffnungen lebten auf, Versuche wurden vorbereitet. Wer dem unglücklichen Lande oder vielmehr der unglücklichen Nation wohlwollte, und die Lage der Dinge genauer betrachtete, konnte sich über diese letzten Zuckungen sterbender Freiheit nicht erfreuen. Es ging[265] Polen, als Land betrachtet, nicht schlimm. Unter Alexanders milder Regierung waren Straßen angelegt, Industrie ermuntert, treffliche Einrichtungen für das Wohl der untern Stände gemacht worden. Sicher waren diese besser daran als vorhin unter ihrer Pseudorepublik. Daher war der Aufstand auch nicht vom Volke ausgegangen, sondern die mächtigen Dynasten konnten die Zeit nicht vergessen, als sie oder ihre Väter große Gewalt besessen hatten, und eine billige und edle Idee nationaler Freiheit knüpfte sich an diese Erinnerungen, und strebte, ohne die Mittel, die vorhanden waren, zu berechnen, dem glänzenden Ziel errungener Selbständigkeit zu.

Plötzlich überraschte die Neuigkeit der Julirevolution die ganze Welt, und obwohl diesmal das Ganze ohne viel Blutvergießen vorübergegangen, und Karl X. eben nicht vom Throne gestürzt, sondern höflich gebeten, herabzusteigen und mit Artigkeit aus dem Lande gewiesen worden war, so konnte doch niemand mit Sicherheit voraussagen, was noch folgen würde. Der Greis La Fayette trat wieder aus der Dunkelheit des Privatlebens hervor, in welcher er als Herr und Hausvater ebenso ehrenvoll wie früher im Glanz der Öffentlichkeit gewirkt hatte, an die Spitze der Nationalgarde, und gab dem Lande ein Oberhaupt, ganz in dem Sinne seiner alten, nie verleugneten Grundsätze, was wohl nicht viele in Frankreich von sich sagen konnten. Was auch die Ewigunzufriedenen mit Recht oder Unrecht gegen Louis Philipp sagen mögen, seine Klugheit, seine Kenntnis der Menschen sowohl als der Kabinette hat bis jetzt Frankreich und somit Europa den Frieden erhalten. Sehr witzig ist eine bald nach dieser Thronveränderung erschienene Karikatur. Die bekannte Figur des Mayeux[266] steht da, in einer Hand einen Apfel, in der andern eine Birne haltend und sagt: Le diable emporte les fruits! – Adam nous a perdu par une pomme et La Fayette par une poire! Auch ist es kein geringer Beweis für die, seit 50 Jahren vorgeschrittene Zivilisation und wahre Sittigung der Menschheit, daß in Frankreich sowie in den kleinern deutschen Staaten, wo solche Reibungen entstanden waren, alles bald wieder, und durch wen? durch das Bürgertum, die National-, Kommunal- usw. Garden beruhigt worden war.

Indessen hatte der politische Schwindel doch die Köpfe ergriffen und aufgeregt. Nach seinem Standpunkte, seinen Ansichten und Absichten sah jeder etwas anders in demselben, hoffte, wünschte, fürchtete etwas anders, und die Politik hatte in den ersten Monaten nach dieser erschütternden Katastrophe so die Oberhand über alle, besonders über die friedlichen literarischen Interessen gewonnen, daß diese großenteils unbeachtet auf die Seite geschoben wurden.

Wir waren eben in Mitte dieser Wirren nach Baden gezogen, wo wir in diesem Sommer jene, mir sehr liebgewordene und schon öfters innegehabte Wohnung in der Pölzgasse bezogen, wo das Wohnhaus mitten im Garten liegt, und von allen Seiten eine köstliche freie Luft und Aussicht auf das Gebirge im Hintergrunde, auf die Weilburg und die Weinberge in der Nähe bietet. Auf die furchtbare Kälte des vergangenen Winters war ein eben so beschwerlicher heißer Sommer gefolgt. Kaum daß man abends, nachdem die Sonne schon hinunter war, einige Kühlung genoß; am wenigsten fand man sie auf dem gewöhnlichen Spaziergange der Badner, im Helenental; dort hatten die Sonnenstrahlen am längsten verweilt, und die nahen Berge und Wälder behielten[267] noch eine Weile den Dunst und die Wärme des Tales, bis endlich ungefähr 8–10 Tage nach unserer Ankunft ein heftiges Gewitter mit Regengüssen die Luft genugsam abkühlte, und nun ein angenehmes Herbstwetter eintrat.

Wieder, wie sonst jedes Jahr, versammelte sich unsere kleine Badner-Kotterie abends meist bei der Baronin Pereira, oder mit ihr bei einer der andern Freundinnen. Da wurde denn, zumal unter den Männern, nichts als politisiert, und selten drangen andere Gespräche durch. Pichler zumal fand soviel Nahrung für seinen Geist in dem, was täglich mehrere Zeitungen ihm Neues brachten, daß ich mit Ernst wachen mußte, daß er nicht des Zweckes, warum wir in Baden waren (die Bäder allein ausgenommen) ganz vergessend, darüber Spazierengehen und Bewegung in frischer Wald- und Bergluft versäume.

Vielleicht lag es in der Beschaffenheit meines letzten Romans, Friedrich des Streitbaren selbst, daß er in der literarischen Welt viel geringeren Sukzeß als meine früheren Arbeiten gefunden, vielleicht aber erstickten die gar zu lebhaften, politischen Interessen, welche damals alle Geister aufregten, die Aufmerksamkeit für literarische Erscheinungen, vielleicht wirkte Beides zusammen. Das Resultat blieb ein unerfreuliches für mich, und spannte meine Lust zu künftigen Arbeiten sehr herab.

Zurück in die Stadt gekehrt, fand ich meine Tochter nicht unbedeutend krank an einem kalten Fieber, das sie in Döbling durch Erkältung sich zugezogen, und das in ihrer damaligen Lage, sie war das fünftemal in gesegneten Umständen, uns mit gerechten Besorgnissen erfüllte. Dennoch ging es, Gott sei Dank, vorüber, und sie erholte sich allmählich. Unsere häusliche Ruhe stellte[268] sich wieder her, und unsere häuslichen Freuden wurden bald darauf (5. Dezember) durch die glückliche Geburt eines hübschen und gesunden Mädchens erhöht, das uns die verlorene Karoline ersetzen sollte, wenn bei solcher Art von Verlust ein Ersatz denkbar ist, indem nie ein Individuum das andere vollkommen repräsentiert, und in unser aller Herzen Raum auch für diese neben der andern gewesen wäre. Auch konnten meine Tochter und ich uns nicht entschließen, das Kind, obwohl es Pelzeln seiner Frau wegen wünschte, Karoline taufen zu lassen, weil uns dies gar so wehmütig vorkam. Es wurde also Maria nach der allgemeinen Patronin unsers ganzen Geschlechts, der heiligen Jungfrau getauft.


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Indessen war die Revolution in dem bedauernswürdigen Polen, mit großer Lebhaftigkeit und von allgemeinem Enthusiasmus angefacht, fortgeschritten. Die Russen wurden an mehreren Orten tüchtig geschlagen, und die polnischen Patrioten erhoben ihre Häupter mit größerer Zuversicht. Unter ihnen zeigten sich Männer wie Chlopicky, Mickiewicz, an die nur zu denken, einem rein menschlichen Sinn wohltat; selbst jene, die von vornherein, aus den Gründen, die ich früher entwickelt, der Sache wenig Erfolg versprochen und die unglücklichen Opfer einer edlen Selbsttäuschung oder fremder Verführung im Voraus beklagt hatten, fingen nach und nach an, an ein mögliches Gelingen zu glauben, und wer sich für die gute Sache erwärmen konnte, rief sich den ebenfalls ungleichen Kampf der Schweizer, der Niederlande, endlich Nordamerikas ins Gedächtnis, und fand Bestärkung in seinem frommen Glauben. Graf Diebitsch, der sich ein oder zwei Jahre vorher[269] durch seinen Übergang über den Balkan den Ehrennamen Zabalkansky erworben hatte, schien diesmal mit seinem Feldherrntalente gegen die Begeisterung einer Nation nicht auszureichen, und in Wien wurde über seinen Namen ein Witz gemacht, und er Sobaldkannstnicht genannt.

In mein Haus war drei Jahre früher ein Pole aus Galizien, Herr Boloz von Antoniewicz, gekommen, ein Mann von sehr guter Erziehung, ein vermöglicher Edelmann und ein Jüngling von vielleicht nicht 22 Jahren, über dessen Kenntnisse und vielseitig ausgebildeten Geist ich oft erstaunte, und ihn einst so wie jenen Zögling der Ecole polytechnique, den Leutnant Raymond, fragte: Woher er denn die Zeit genommen, das alles zu lernen? Karl von Antoniewicz war auch ein zierlicher Dichter, und es ist mir noch immer komisch, daß, als er sich, ehe ich ihn gesehen, mit einem, mir sehr schmeichelhaften Gedicht bei mir ankündigte, aus welchem aber tiefe Klagen über sein Unglück durchtönten, ich ihn, mehrerer ähnlicher Erfahrungen zufolge, für einen pauvre honteux gehalten hatte, der seine Bettelei unter einer respektablen Maske anzubringen dachte. Wie war ich erstaunt und insgeheim beschämt, als nun statt des alten schnurrbärtigen, armen Polen, wie ich mir den Boloz von Antoniewicz nach seinem Briefe vorstellte, ein gebildeter und höchst eleganter junger Mann vor mir stand.

Er kam nur gelegentlich nach Wien, wohnte dann bei den P.P. Mechitaristen, und schien sich mit Literatur zu beschäftigen, obwohl er vielleicht insgeheim für sein Vaterland tätig sein mochte. Wenn er hier war, besuchte er mich oft, und schrieb mir, wenn er wieder nach Swarzowa, seiner Besitzung im Zolkiewer Kreise zurückgekehrt war, ziemlich fleißig. Ein oder zwei Jahre[270] darauf lernte ich durch ihn seinen Vetter Niclas Antoniewicz kennen, dessen Vater, wenn ich nicht irre, Appellationsrat in Galizien war; auch einen ziemlich artigen jungen Mann, der sich nebst seinen Studien mit Poesie beschäftigte, und aus Byrons Korsar ein Trauerspiel gemacht hatte, das einige hübsche Szenen bot. Sein Vetter hatte indes einen Sonettenkranz, leider aber für mich in polnischer Sprache gedichtet, und mit einem deutschen Sonette mir gewidmet. – Das war nun eine Art von Tantalusmahl – denn ich kann kein Polnisch; aber einige von den Herren, die unser Haus besuchten, und diese Sprache verstanden, übersetzten mir einiges, besonders nahm sich Baron Maltitz dieser Verdeutschung freundlich an, und so konnte ich doch einiges davon genießen.

Jetzt, in dem Winter von 1831 war Niclas Antoniewicz plötzlich aus Wien verschwunden, Karl war schon lange nicht mehr hier – der Krieg in Polen hatte begonnen, und ich konnte mir leicht denken, daß die beiden jungen Leute sich mochten haben hinreissen lassen, obwohl in unserm Galizien alles ruhig blieb, an dem Kampf ihrer Landsleute teilzunehmen. Und so hatte der eine, Niclas, auch getan; Karl aber war ruhig in Swarzowa geblieben. Lange erfuhr ich nichts von beiden. Nach dem Neujahr kam ein Brief von dem ersten, ganz voll Begeisterung, ganz voll schimmernden Hoffnungen. – Wie lange war es von der Vorsicht der unglücklichen Täuschung erlaubt, die irregeführten Gemüter zu blenden?

Bald warf Kaiser Nikolaus sich mit der ganzen Energie seiner gewaltigen Persönlichkeit und mit der ganzen Wucht seines despotisch konzentrierten Slaven- und Sklavenreiches auf dies bedauernswürdige Polen, zerdrückte[271] es unter dieser Last und verfuhr mit einer Härte und Unmenschlichkeit gegen die armen Besiegten, welche nicht die Körper der Gequälten, aber ihre Seelen bis tief ins innerste Heiligtum des Familienlebens zerriß. Wohl schmücken diesen Monarchen außerordentliche Eigenschaften, ein persönlicher Mut, eine Gegenwart des Geistes, die ihn im Augenblick der Gefahr nie verläßt; eine Unerschrockenheit, die ihm stets die klare Übersicht jeder Lage frei läßt; wohl weiß er recht schön, was gut, was menschlich, was edel ist – er handhabt es auch, so wie es nötig ist, um sich vor der Welt vorteilhaft zu zeigen, aber in seinem Innersten? Wen hat wohl der überraschende, empfindsame Besuch am Sarge unsers seligen Monarchen wirklich über die Absicht desselben getäuscht?


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Polen war unterdrückt, es war zermalmt, es war aus der Reihe der Nationen ausgestrichen und somit hatte der Giftkeim, den die erste Teilung in die europäische Politik gelegt – wider dessen Rechtswidrigkeit unsere Kaiserin Maria Theresia protestiert und das Übel vorahnend prophezeit hatte – seine vollständige Entwicklung erhalten. Der Oheim meines Schwiegersohnes, der berühmte Geschichtsschreiber Böhmens, M. Pelzel, hat bei jener Gelegenheit, wo nach der Schlacht auf dem weißen Berg und der Unterdrückung des protestantischen Prinzips in Böhmen, dies aufhörte, ein für sich bestehendes Reich zu sein, sich eines sehr poetischen Gleichnisses bedient, um dieses Verschwinden des böhmischen Namens zu bezeichnen. So wie die Moldau, nachdem sie sich in die Elbe ergossen hat, nicht mehr genannt und nur der Name Elbe für die gesamte Wassermasse[272] gebraucht wird, so heißt es jetzt mehr, sagt der Geschichtsschreiber, die Böhmen rücken ins Feld, die Böhmen machen Frieden usw. Aber wie viel preiswürdiger ist doch das Los der Böhmen und noch mehr das der Ungarn, trotz ihrer Einverleibung in den Gesamtstaat der österreichischen Monarchie, im Vergleich mit jener unglücklichen Nation, die zwei- oder dreimal, noch während ihrer Existenz als unabhängiger Staat, sich große Teile ihres Ganzen abreissen und unter fremde Herrschaft übergehen sehen mußte, bis endlich nach einem halben Jahrhundert von Schmach und Leiden, der übermächtige Nachbarstaat, der seit der sogenannten großen Katharina auf diesen Zweck hingearbeitet hatte, das Übriggebliebene eigenmächtig an sich riß und Polen somit eine Provinz desjenigen Reiches wurde, mit dem es, trotz des gemeinsamen slavischen Ursprungs in vielhundertjähriger Feindschaft gelebt hatte.

Aber als wäre es an all dem Unglück, welches diese unzeitige Schilderhebung der Polen veranlaßt hatte, noch nicht genug, wurde nun durch die Russen ein neues Übel in Europa eingeschleppt, von dessen Existenz in Asien man schon seit manchem Jahre Schreckliches gehört, das aber, eben der Entfernung wegen, keinen besonderen Eindruck auf die europäische Welt gemacht hatte, und das nun die Abendländer zu ihrem Entsetzen in der Nähe sollten kennen lernen. Es war das furchtbare Rätsel, wie es Goethe nannte, die asiatische Cholera. Langsam wälzte sich das zerstörende Ungetüm immer näher; die Märsche, die Gefechte machten die Mitteilung unvermeidlich, so stieg es endlich über die Karpathen herab und drang in Ungarn ein.[273]

Ihm weit voran gingen gräßliche Kunden, und noch gräßlichere Torheiten von Aberglauben, blinder Nachahmung ungeprüfter Heilmittel, albernem Nachbeten unverstandener Maßregeln und rücksichtslosem Egoismus, der nur bedacht, das liebe Selbst vor jeder möglichen Gefahr zu schützen, zu den widersprechendsten, ja oft zu den gefährlichsten Mitteln griff, nicht weil man sie erprobt gefunden, sondern weil man gehört haben wollte, daß der oder jener, den man oft nicht kannte, sie gebraucht habe. Welche verkehrten Maßregeln wurden nicht ergriffen, welche Summen ohne genaue Prüfung der jedesmaligen Individualität, ja oft ohne den Rat eines Arztes, für Wismut, Kamillengeist, präservative Pflaster und Räucherungen verschwendet! Zweierlei Ansichten erhoben sich unter den Ärzten und im Publikum, die von der Kontagiosität und Nichtkontagiosität des Übels. Viele und berühmte Ärzte standen auf jeder Seite, die erste behielt die Oberhand – der kaiserliche Hof zog nach Schönbrunn, das ganz abgesperrt und von aller Berührung mit dem Publikum so viel wie möglich frei bleiben sollte. Gegen Ungarn wurde ein Kordon gezogen, Rastele, Quarantäneanstalten mit unsäglichen Kosten aufgerichtet – während viele und eben auch nicht beschränkte das alles für ganz nutzlos, ja für schädlich erklärten. Diese behaupteten, durch viele Erfahrungen belehrt, daß die Krankheit nicht notwendig durch Berührung wie die Pest sich mitteile, daß, wenn dies auch hier und dort so geschienen habe, weil in einem Hause oder einer Gegend mehrere Personen erkrankten, Einbildungskraft, Atmosphäre und andere noch unerforschte Einwirkungen tätig gewesen waren. Sicher war es, daß in der Atmosphäre Veränderungen vorgegangen waren, die bei auch[274] nur oberflächlicher Beobachtung auffallen mußten. Diese glanzlosen Sonnenuntergänge, wo das Gestirn des Tages sich gleich dem Vollmond zeigte und betrachten ließ; diese feuerroten, lange dauernden und oft den ganzen Horizont bedeckenden Abendröten, diese wunderbaren Nebel! – Hierauf wurde denn auch in Schriften und Gesprächen hingewiesen, und die allerseltsamsten Hypothesen nicht bloß aufgestellt, sondern mit den sinnreichsten Gründen zu unterstützen versucht. Die Meteorologie wurde zu Hilfe gerufen, die Geschichte, Geographie, frühere dagewesene Seuchen, besonders der sogenannte schwarze Tod vom Jahre 1349, der ebenfalls aus Asien nach Europa herübergekommen, zitiert, und endlich sogar Insektenschwärme, die sich in der Luft befinden sollten, als möglicher Ursprung der Seuche angegeben. Kurz, man erschöpfte sich in Mutmaßungen, in Hypothesen, in Überlegungen, wie die Krankheit, wenn sie Wien erreichte, am zweckmäßigsten zu behandeln sein werde. Jede Haushaltung versah sich nach den verschiedenen Ansichten der Ärzte mit Essig, Wachholderbeeren, großen Töpfen voll Asche, die im Notfall gehitzt werden sollten, und mit allerlei Arzneien, wie sie dieser oder jener nach eigenen oder fremden Erfahrungen probat gefunden hatte. Aber so wie in dem Fall der beiden feindlichen Invasionen sah man auch diesmal viele gerade die verkehrtesten Maßregeln ergreifen. – Eine bekannte Frau nahm Wismut als Präservativ, weil sie irgendwo dies Mittel anraten gehört oder davon gelesen hatte, und starb daran. – Andere gebrauchten im voraus allerlei Kuren; wieder andere verließen Wien, ja Österreich, und suchten Schutz in fernen Gegenden, besonders in Gebirgsländern, wo sie sich von der reinen Luft viel[275] versprachen. Hier muß ich eines freundschaftlichen Anerbietens erwähnen, welches mir von einem alten Bekannten in der Schweiz, den ich vor vielen Jahren durch unsern Freund Hofrat Büel aus Zürich als ganz jungen Mann hatte kennen lernen, von Herrn Peter, Kaufmann in Winterthur, gemacht worden war. Büel lebte damals nicht mehr, wiederholte Schlagflüsse hatten in den letzten Jahren seine körperliche und Geisteskraft geschwächt – seine Briefe waren selten – unbefriedigend geworden. Eben durch diesen Herrn Peter erfuhr ich nach einiger Zeit den Tod dieses gemeinschaftlichen treuen, verehrten Freundes; und eben von Herrn Peter, der fast jedes andere Jahr nach Wien kam und uns freundlich besuchte, erhielt ich nun in der verhängnisvollen Cholerazeit einen recht herzlichen Brief, in welchem er uns eine Zuflucht bei sich in Winterthur anbot, wenn wir der Seuche – wie so viele andere – zu entfliehen und uns in der reinen Gebirgsluft zu bergen gedächten. Ich kann sagen, daß mich dieser Antrag ungemein erfreute, und obwohl Pichlers Dienstverhältnisse uns nicht erlaubten, ihn anzunehmen, fühlten wir uns doch dem wohlwollenden Freund zu eben dem Dank verpflichtet, als wenn wir Gebrauch von seinem Anerbieten hätten machen können. Es ist gar ein erhebendes und beglückendes Gefühl, auf einen Freund in der Not zählen zu können.

Die Gefahr der Seuche kam immer näher. Bereits hatte sie in den benachbarten Komitaten von Ungarn viele Verheerungen angerichtet. Man erzählte sich von 27000 Opfern, die sie nur allein im Neutraer Komitat geholt – und auch die mir bekannten und befreundeten Familien blieben nicht verschont. Der Gemahl meiner Freundin Zay, ein vorzüglich edler und gebildeter[276] Mann, starb daran, und ihm folgte bald darauf eine ebenso schätzbare Freundin seines Hauses, die Gemahlin des Vizepräsidenten Baron Malonyay.

Meine Kinder brachten auch diesen Sommer in einem Hause mit der Familie des Appellationspräsidenten v. Gärtner zu. – Pelzeln sah sich geehrt durch das Wohlwollen seines Chefs, meine Tochter fand Vergnügen an dem Umgang seiner sehr vorzüglichen Töchter, und wären nicht die Sorgen wegen der Cholera gewesen und mehrere Unpäßlichkeiten meines Schwiegersohnes, so würden sie den Sommer sehr vergnügt zugebracht haben. Aber so wie im Jahre 1813 waren auch jetzt den großen Geschicken ihre Geister vorausgegangen, und mehrere Menschen, zumal von zarterer Konstitution, fühlten vorahnend die Einflüsse des Übels, welches sich in der Atmosphäre immer weiter verbreitete. Pelzeln war überhaupt von nicht starker Natur –– eine kränkliche Jugend, eine umfassende Geistesbildung, die nur von wenigen ganz ohne Schaden des körperlichen Wohlseins erlangt wird, und eine Gewissenhaftigkeit, die ihm seine Pflichten in zu strengem Licht zeigte, trieben ihn zu außerordentlichem Fleiße in seinen Arbeiten, veranlaßten ihn, manche Nacht diesen Arbeiten aufzuopfern, untergruben allmählich eine ohnedies schwächliche Konstitution, und legten den Grund zu seinem viel zu frühen Tode, der nicht lange nach der eben geschilderten Epoche eintrat.

Eben diese deutliche Erkenntnis, wie schädlich eine zu weit getriebene geistige Anstrengung für jugendliche Körper sei, veranlaßte ihn zu der Bestimmung, daß sein Sohn, ein sehr kluges und hoffnungsvolles Kind, erst nach vollendetem sechsten Jahre zum Lernen angehalten werden dürfe. Er selbst, Pelzeln, war in seiner[277] Jugend dieser geistigen Anstrengung beinahe unterlegen, so daß sein Vater schon den Entschluß gefaßt hatte, den Sohn, trotz seiner bedeutenden Geistesanlagen, vom Studieren aufhören zu lassen. Das war dem Sohn sehr unangenehm, und die Mutter, eine kluge, sehr selbständige Frau, nahm es auf sich, trotz des Verbots des Vaters, den Sohn insgeheim seine Studien fortsetzen zu lassen – ein Wagnis, wozu ich an ihrem Platze, so contre vent et marée nicht den Mut gehabt hätte. Der Sohn studierte also insgeheim, und trat dann vor dem erstaunten und vielleicht nicht ganz erfreuten Vater mit einem glänzenden Examen auf, wurde angestellt, und durchlief seine Bahn mit großer Auszeichnung. Aber seine körperliche Kraft war geschwächt und seine Gesundheit oft erschüttert. Erst später, im männlichen Alter, schien er sich zu erholen, und als wir ihn kennen lernten, war keine Spur von früherer Kränklichkeit vorhanden. Doch leider blieb die Anlage in der Tiefe der Natur, zeigte sich schon in Prag, und wurde wahrscheinlich durch die üble Beschaffenheit der Atmosphäre in diesem unseligen Jahre wieder aufgeregt.

Dieser Ansicht gemäß wurde in diesem Sommer bei August mit dem Kennenlernen der Buchstaben angefangen. Ich brachte ihm ein paar Schachteln mit einzeln auf kleine Kartenblättchen gedruckten Buchstaben, lehrte sie ihn kennen, wobei mich des Knaben schnelle Fassungskraft und sein glückliches Gedächtnis oft in Erstaunen setzte, und er fing an, von seiner Mutter und von mir unterrichtet, hübsch zu buchstabieren. Schon früher hatten sich jene zwei Geistesanlagen wirksam gezeigt, indem er alle Bände des Bertuchschen Bilderbuches nicht bloß durchgeschaut und sich damit unterhalten hatte – sondern jeden Gegenstand zu[278] nennen wußte, und sich genau alles merkte, was ihm seine Kindsfrau über diese Tiere aus dem Buche vorgelesen – und so zu unser aller Erstaunen ein überaus lebhaftes Interesse für Naturgeschichte entwickelte.

So war der Sommer zur Hälfte verflossen, die Seuche näherte sich Österreich von Osten her immer mehr und mehr – und je nachdem eine Person oder eine Familie dem System der Kontagiosität oder dem der Nichtkontagiosität anhing, sperrten sich jene ab, ließen alle Wäsche zu Hause waschen, weil sie bei gemeinsam gewaschener Wäsche Mitteilung der Krankheit besorgten, räucherten mit Chlor und andern Substanzen; desinfizierten sich und ihre Hausgenossen nach jedem notwendigen Ausgange, kurz, suchten ihr Heil in Isolierung – und änderten ihre ganze Nahrungsweise, indem sie durchaus kein Obst, kaum einiges Gemüse usw. genossen, dafür aber recht viel Fleisch, Wein usw. Andere blieben, überzeugt, daß alle jene Verwahrungsmittel unnütz, ja vielfältig schädlich seien, bei ihrer gewohnten Kost und Lebensweise, besonders da viele Ärzte ein Beharren beim Gewohnten, mit Vermeidung des anerkannt Schädlichen, wie der Gurken, geräucherten oder Schweinefleisches, empfahlen; auch ein ruhiges, furchtloses Gemüt als ein Hauptschutzmittel gegen eine Krankheit ansahen, bei der die Irritation des Nervensystems so wichtig und so gefährlich war. Aber es war für die meisten Menschen schwer, sich dies ruhige Gemüt zu bewahren, da die Zeitungen so viele Nachrichten von der Cholera, von ihren Progressen, ihren Verheerungen und von Schutzmitteln dagegen enthielten, auch noch überdies zahllose kleinere oder größere Broschüren erschienen, in welchen Ärzte oder andere wissenschaftlich Gebildete dem Publikum ihre Ansichten[279] mitteilten, so daß der Hauptgedanke der meisten Menschen in dieser verhängnisvollen Zeit, die Cholera, ihre Natur und Wirkung, und das Verhalten gegen sie war.

Der August war warm genug gewesen, auch die ersten Tage des Septembers blieben noch sehr angenehm. Wir bewohnten ein schon mehrmals von uns gemietetes Quartier in Guttenbrunn. Baden war ziemlich besetzt, weil unter den vielen, bei dem Anlaß der Cholera verbreiteten Meinungen sich auch diese fand, daß man in der Nähe dieser Heilquellen vor den Einflüssen der Seuche sicherer sein könnte. Da fiel plötzlich, im Gefolge eines mehrtägigen Regens und Sturmes – wie es in der Nähe des Äquinoktiums oft geschieht – eine empfindliche Kälte ein, und nun war die Losung zu dem allgemeinen Unglück gegeben. In einer kalten Nacht ließ sich aus dem regnerischen Dunkel das Ungetüm auf die Stadt Wien, und zunächst auf das Schottenviertel herab. Eine große Anzahl von Menschen erkrankte plötzlich in dieser Gegend. Die Cholera war da! Ärzte und Priester, welche man berief, wußten nicht, zu wem sie am ersten eilen sollten. Die Wägen der ersten, die Glöcklein der letzten, welche die Sterbesakramente zu den Kranken trugen, die Leichenbesorger, welche nach den Sanitätsvorschriften nicht genug eilen konnten, die Toten fortzuschaffen, und aus Furcht vor Ansteckung vielleicht manchen kaum Erkalteten aus den Armen der Seinigen rissen, kreuzten sich auf den Straßen. – Schrecken, Bestürzung, Jammer herrschten in der sonst so lebensfrohen Hauptstadt, und in diesem Schrecken und Schmerz vergrößerte die Phantasie die, an sich schon großen Übel noch um ein beträchtliches. Jeden Abend wurden uns in Baden neue Todesfälle von bekannten oder ausgezeichneten Personen erzählt, von[280] denen viele, ja oft die meisten nicht wahr, und wovon die Nachricht nur durch Mißverständnis oder aus bösem Willen verbreitet worden war. Jeden Tag sollten sich neue schreckliche Erscheinungen gezeigt haben – so z.B. alle Vögel die innere Stadt verlassen und sich aufs Glacis geflüchtet haben usw. Das Auffallendste für mich, was mir oft Stoff zu psychologischen Bemerkungen gab, war dies: daß gerade die lebenslustigsten, leichtsinnigsten Personen, die elegantesten und durch Erziehung und Bildung sonst von jedem Aberglauben, oft auch vom echten religiösen Glauben Entferntesten, solche Ammengeschichten, die schon den Stempel der Unglaublichkeit an der Stirn trugen, am ersten auffaßten und am gläubigsten nacherzählten.

Zunächst nach diesen folgten an Todesfurcht und Zagen die Reichen, die Lebemänner, diejenigen, die bloß genießend, selten nützend, allein für sich standen, und wohl füglich sagen konnten: morte me, morto tutto il mondo. Ein solcher war ein Handelsmann in Wien, der sich beim Ausbruch der Seuche ganz absperrte, mit der größten Vorsicht jede Berührung mit der Außenwelt vermied, seine Kost ganz nach den Vorschriften, welche damals häufig von Ärzten publiziert wurden, einrichtete, und eines der ersten Opfer der Cholera ward. Andere zogen sich durch Vermeidung aller vegetabilischen Nahrung und durch zu vielen Genuß von Fleisch und Wein Schlagflüsse zu. So starben viele, welche, wenn sie nicht eine so törichte Liebe zum Leben getrieben hätte, das Albernste zu versuchen, das Gefährlichste zu unternehmen, nur um den Atem eines vielleicht mühseligen Lebens innerhalb seiner Bande zu erhalten, noch lange auf Erden hätten wallen können. Wohl konnte auf sie angewendet werden, was Schlegel[281] in einem seiner Trauerspiele von einem Könige sagt: »Aus Furcht zu sterben, ist er gar gestorben!«

Man konnte mit ziemlicher Sicherheit berechnen, daß, je ruhiger und furchtloser jemand die Sache betrachtete, je weniger (wie es auch vernünftige Ärzte rieten) er sich von seiner gewohnten Lebensweise und Kost entfernte, und, wie schon oben gesagt worden, nur die längst als ungesund bekannten Speisen vermied, je weniger dem Übel Macht über diesen Menschen gegeben wurde. Dies hatte ich dreimal, denn so oft grassierte die Seuche in Wien und Österreich, Gelegenheit zu beobachten, und indem ich mich nebst meinen nächsten Liebsten nach diesen Ansichten verhielt, blieben wir auch mit Gottes Beistand verschont von diesem Übel. Aber ich sah und erfuhr auch aus öffentlichen Blättern, wo die Zahl der von der Seuche Ergriffenen sowie der daran Verstorbenen angegeben, und das Verhältnis dieser Personen zu der ganzen Bevölkerung berechnet war, daß doch kaum der hundert- oder hundertundfünfzigste Mensch erkrankte, von diesen wieder viele genasen, und überhaupt die Masse der Hingerafften nicht so groß gewesen war. So dachte ich, daß ich ja nicht gerade dieser Hundert- oder Hundertundfünfzigste sein müßte; ferner, daß nicht durchaus alle Erkrankten sterben müßten; endlich, daß man bei einem Alter von sechzig Jahren sich jedenfalls den Tod gegenwärtig halten müsse, daß dieser, wenn er durch die Seuche beschleunigt würde, »fürs künftige Sterben abgerechnet werde«, endlich, daß, wie schmerzhaft auch die Choleraleiden sein mochten, nach dem, was man davon erzählte, sie doch im Vergleich mit andern langwierigen Krankheitszuständen nur kurz währten, und so fand ich denn keine Ursache, mich so sehr davor zu fürchten. Vielmehr[282] blieben wir, Pichler und ich, ganz ruhig und befanden uns ziemlich wohl dabei, während so manches uns befreundete Haus hart mitgenommen wurde und nicht selten mehrere Personen in einer Familie der Seuche unterlagen.

Viel mochten die, damals noch ganz unklaren und darum oft verkehrten Ansichten von der wahren, noch bis jetzt nicht ganz ermittelten Natur dieser Seuche zu den vielen Sterbefällen beitragen. Niemand kannte das Übel aus frühern Erfahrungen. Kein Arzt hatte es bis jetzt in Deutschland behandelt. Hypothesen und luftige Systeme wurden in Unzahl erbaut, das Verfahren danach eingerichtet, und viele starben wegen dieser Unkenntnis an verkehrter Behandlung. Einer unserer ausgezeichnetsten Ärzte sagte mir im folgenden Jahre, als die Cholera wieder erschien: »Hätte ich voriges Jahr gewußt, was ich jetzt weiß, so wäre mir mancher Kranke nicht gestorben.« So wurde denn im zweiten Jahre vieles als schädlich erkannt, was früher vorgeschrieben und allgemein angenommen worden war. Was mußten die ängstlichen Charaktere nicht durch das Absperrungssystem leiden, wie schrecklich marterte man die Kranken mit Bürsten und Frottieren, verschärfte dadurch ganz umsonst die ohnehin schweren Leiden derselben, und erhöhte durch solche grauenhafte Apparate und Methoden die Angst der noch nicht Angesteckten um ein großes!

Unter allen diesen Befürchtungen, Schrecken und Trauer kam die Zeit des Herbstes, und wir kehrten nach Wien zurück, wo wir denn freilich manchen Bekannten nicht mehr und manche befreundete Familie in tiefer Trauer über geliebte Verstorbene fanden. Meine Kinder traf ich, Gottlob, bis auf Pelzeln selbst,[283] sehr wohl. Dieser aber hatte, wie schon erwähnt, den ganzen Sommer über sich nicht ganz gesund gefühlt, und war es auch im Anfang des Oktobers nicht. Dafür überraschte mich sein Knabe mit einer völlig ausgebildeten Fertigkeit im Lesen nicht bloß der deutschen, sondern auch lateinischen Druckschrift, worin er unter Anleitung seiner Mutter unglaubliche Fortschritte gemacht, und einen Beweis für die Ansicht, welche auch die seines Vaters war, geliefert hatte, daß man bei der Methode, die Kinder sich ihrer ersten Lebensjahre ungestört erfreuen zu lassen, und mit dem Lernen später anzufangen, nichts versäumt, indem das entwickeltere Kind leichter begreift und behält, was es zu lernen hat. Auch sammelt ein gutbegabtes Kind seine Kenntnisse ja nicht bloß aus Lehrbüchern und eigentlichem Unterricht, im Hause gebildeter Eltern lernt es aus jedem Gespräch, aus jedem Buch, das man ihm zur Unterhaltung gibt, aus jedem Spiel, womit man es erheitert. –

Der Winter, welcher auf diesen Herbst folgte, war sehr trüb. Wahrscheinlich hatte dieselbe Beschaffenheit der Luft, welche die Erscheinungen der Cholera hervorgebracht, und beinahe auf jeden Menschen, hier stärker, dort schwächer gewirkt hatte, auch auf den ohnehin schwächlichen und reizbaren Organismus meines Schwiegersohnes schädlich gewirkt. Wie denn auch das ältere Mädchen von einer Art von Cholera lange nachdem diese in Wien aufgehört hatte, ergriffen, aber glücklich wieder hergestellt wurde. Den ganzen Sommer über hatte Pelzeln gekränkelt, bald rheumatische, bald nervöse Affektionen gehabt, und so dauerte dieser Zustand, auch nachdem die Seuche sich schon größtenteils entfernt und nach anderen Gegenden gewendet hatte, zu meiner Tochter großer Sorge fort. Hämorrhoidalleiden,[284] wie sie bei Geschäftsmännern, die viel zu sitzen und ihren Geist anzustrengen bemüßigt sind, nur zu häufig vorkommen, zeigten sich. Seine Kräfte sanken sichtbar. Ums neue Jahr herum mußte er sich zu Bette legen. Wohl stand er zuweilen wieder auf, ging oder fuhr auf die nahe Bastei spazieren, aber die Unheilbarkeit des Übels, das in ihm wucherte, wurde seinen Umgebungen und seinen Ärzten immer deutlicher. Er selbst litt die großen Schmerzen, welche mit seiner Krankheit verbunden waren, mit wahrhaft stoischer Kraft und christlicher Geduld, welche ihm nie die Klarheit des Geistes und die dankbare Empfänglichkeit für die Beweise von Liebe, Anhänglichkeit und Treue benahm, die er von seinen Freunden, seinen Umgebungen, am meisten aber von seiner Frau erhielt, die ihn mit beispielloser Liebe und Aufopferung pflegte, und kaum ihrer Dienerschaft die untergeordneten Leistungen überließ. Wie sehr und dringend ich sowohl als ihre Freundinnen sie ermahnten, beschworen, eine Krankenwärterin anzunehmen, teils um sie am Tage zu überheben, teils ihr des Nachts einige Ruhe zu vermitteln – alle unsere Bemühungen scheiterten an ihrem festen Willen und der Vorstellung, daß niemand ihrem Gemahle die nötige Pflege so gut und so zu seiner Zufriedenheit leisten würde, als sie selbst, und an ihrer unendlichen Liebe zu ihm, die ihr jedes Opfer, selbst das ihrer Jugendkraft, ihrer Gesundheit, ihres so nötigen Schlafes leicht machte. So leistete sie ihm allein fast alles, wessen er bedurfte, durch drittehalb Monate, und erregte in uns allen große Besorgnisse für ihre eigene Gesundheit. Am 23. März 1832 machte endlich ein sanfter Tod seinen Leiden, aber auch zu unser aller Schmerz einer sehr glücklichen Ehe ein Ende, und meine[285] Tochter blieb als Witwe mit drei unversorgten Kindern zurück, wovon das älteste sieben, das jüngste anderthalb Jahre alt war.

Es wurde unter uns sogleich beschlossen, daß die Tochter mit den Kindern alsbald ihre Wohnung in der Stadt aufgeben und zu uns in die Alservorstadt ziehen sollte. Es fiel nicht schwer, ihr Quartier bald zu vermieten, und sie indessen, wenngleich etwas enge, in dem unsrigen für den Sommer mit unterzubringen. Eine gemeinsame werte Bekannte hatte die, an die unsrige stoßende Wohnung seit drei Jahren inne, sie war freundlich und zartsinnig genug, um einzusehen, daß wir derselben bedürfen werden, und kündete sie deshalb selbst auf. So war denn dieser Verlegenheit auch abgeholfen.

Wie der Gemütsstand meiner armen Tochter war, ist wohl unnötig zu schildern. Aber sie faßte sich und beherrschte ihren unsäglichen Schmerz aus Liebe zu ihren Kindern und zu uns. Eine sehr ernste, ich möchte sagen heilige Ansicht von ihren Pflichten bildete sich nun in ihrem Geiste. Die Kinder erschienen ihr nicht sowohl als ihr Eigentum, an welches sie als Mutter wenigstens das halbe Recht hatte; sie betrachtete sie bloß als das Vermächtnis des über alles geliebten Gatten und daher als ein anvertrautes kostbares Pfand, von dessen guter Verwaltung sie dem Geliebten einst Rechenschaft und Verantwortung schuldig sei. Dies machte ihr die Pflege der Kinder zu einer noch heiligeren, aber auch noch ängstlicher überwachten und erfüllten Pflicht, und erzeugte manche Erörterungen zwischen ihr und uns, ihren Eltern, weil wir über diesen hochwichtigen Punkt ihre Ansicht wenigstens nicht so uneingeschränkt teilen, und daher manche Maßregel,[286] die uns zu ängstlich schien, nicht billigen konnten. Jetzt, da ich dieses schreibe, sind die Kinder mehr als halberwachsen, der Sohn hat bereits die Gymnasialstudien mit großer Auszeichnung und Anerkennung vollendet; die Mädchen treten ins jungfräuliche Alter, sie sind herzlich gut, geistvoll, unterrichtet (obwohl sich ihr Kunstdilettantismus auf Klavierspielen und Tanzen bisher beschränkt), vor allem aber sind alle drei wahrhaft fromm, wohlgebildet und gesund. Sie haben jedoch sehr reizbare Konstitutionen, und obwohl nur der Knabe ernsthaft krank gewesen ist, so zeigen sich doch an allen die Folgen dieser Reizbarkeit bei vielen Gelegenheiten. Es bleibt aber problematisch, ob diese Anlage bei den Kindern eines kränklichen, früh verstorbenen Vaters, sich selbst überlassen, sich ebenso ausgebildet hätte, oder nicht gerade durch die allzu sorgsame Bewachung noch mehr entwickelt worden sei?


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Gegen den Herbst dieses Jahres zeigten sich abermals die Vorboten der furchtbaren Seuche, aber man rüstete sich, von den früheren Erfahrungen belehrt und gewitzigt, nicht mehr mit so großer Angst und mit so mannigfachen und unpassenden Waffen und Schutzmitteln dagegen als voriges Jahr. Die Absperrungs- und Desinfektionsmaßregeln der Furchtsamen unterblieben, man sah die Seuche als das, was sie war, als eine bittere Schickung, vielleicht eine Züchtigung, die Gott über die Menschheit gesandt, an; man ergab sich darein, man litt wohl, aber man litt mit mehr Ruhe, und, weil die Übertreibungen der Furcht und Selbsthilfe aufhörten, weit weniger als im vorigen Jahr. Als ein Beweis dieser größern Ruhe war es wohl anzusehen, daß[287] die Versammlung der Naturforscher, welche im vergangenen Jahr wegen der Annäherung der Seuche in Wien, wie es früher bestimmt gewesen war, nicht abgehalten wurde, nun ohne Anstand stattfand und zahlreich besucht wurde.

Wir waren damals samt Tochter und Enkeln auch wieder nach Baden gezogen und wohnten in derselben Wohnung am Josefsplatz, die wir im Jahre 1829 nach Pichlers schwerer Krankheit innegehabt hatten, und in der ich fast die ganze Zeit mich nie recht wohl befand, aber die Ursache dieses Übelbefindens in den Nachwirkungen jenes traurigen Ereignisses suchte. Dies Jahr herrschte nun die Cholera in Baden, und sie ergriff mich, zwar nicht mit ihrer ganzen Macht, aber Baron Türkheim, der zu meiner großen Beruhigung seine Ferien in Baden fast zugleich mit uns zubrachte, nannte mein Übel eine Cholerine, und es war teils schmerzhaft, teils abspannend und nervenangreifend genug, um für eine solche Abart der mächtigen Seuche zu gelten. Durch mehr als acht Tage lag ich zu Bette, und eine große Reizbarkeit sowie eine anhaltende Schwäche bewährten sich noch lange, nachdem das Übel vorüber war, als das echte Gefolge der Cholera.

Damals erkrankten und starben viele Menschen in Baden an dieser Seuche, und auch hier machte sich die Bemerkung ihrer rätselhaften Natur geltend; indem einerseits die in manchen Häusern oder Häuserbezirken überaus häufig vorkommenden Sterbefälle auf Kontagion schließen machten, und andererseits Beispiele genug vorlagen, wo die treueste Pflege, die stete und unbeschränkte Berührung der Kranken, ihren Umgebungen nicht den mindesten Krankheitsstoff mitteilte. Auch in diesem Jahre, obwohl jene übermäßigen Ängstlichkeiten[288] und unüberdachten, ich möchte sagen knechtischen Nachahmungen von anderer Leute Verfahren nicht mehr so häufig und so heftig auftraten, gab es doch gewisse Mittel und Mittelchen, die eins dem andern anriet, und auch hier und da ein Beispiel für deren Nützlichkeit anführen konnte, und die dann eifrig nachgebraucht wurden. Ich muß gestehen, daß während dieser zwei Jahre sich mir die Vorstellung sehr bestimmt aufdrängte, daß der Mensch nicht bloß ein geselliges, sondern auch ein instinktmäßig nachahmendes Geschöpf ist, und daß dieser Nachahmungstrieb so wie die geheimnisvollen und noch unenträtselten Triebe und Wirkungen der Sympathie aus weisen Absichten vom Schöpfer in die menschliche Brust gelegt worden sind, um an ihren feinen Fäden die Menschen auf die wenigst gewaltsamste und doch ausgiebigste Art zur Kultur, zu Kenntnissen und zur Sittigung zu führen. Seitdem habe ich noch viel über diese Erscheinungen des Nachahmungstriebes und die oft unwiderstehliche Kraft der Sympathie nachgedacht, und wenn es meine Zeit und Stimmung erlauben, will ich diese Gedanken einst niederschreiben.

Damals herrschten besonders zwei Mittel, und wurden häufig empfohlen und gebraucht: ein gewisses Pflaster, von dem in den Apotheken trotz allen Fleißes nicht genug für den ungeheuren Bedarf verfertigt und gestrichen werden konnte, und dann ein Anhängsel, aus einem Kupfer- und einem Zinkblättchen zusammengelötet, das man auf der bloßen Brust tragen sollte. Vor dem Pflaster, das auf den Magen gelegt wurde, fühlte ich einige Scheu, weil mir dessen Bestandteile unbekannt waren, aber jene Blättchen, die mir galvanischer Art zu sein schienen, verschaffte ich mir, und gab sie[289] auch meinen Hausgenossen zu tragen, da sie mir ein sonst sehr geschickter Arzt geraten hatte. Bei dem Pflaster rechtfertigte sich meine Furcht bald dadurch, daß mehrere Personen entzündliche Übel im Magen oder Unterleib bekamen, aber auch die Blättchen schaffte unser Freund und Arzt B. Türkheim sogleich ab, als ich sie ihm zeigte, indem er äußerte, daß die natürliche Feuchtigkeit der Ausdünstung bald das Kupfer angreifen und Grünspan entwickeln würde; die Blättchen wurden weggeworfen, und mit ihnen der letzte Rest der Verwahrungs- und Furchtsamkeitsmittel gegen die Cholera.


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Während dies Ungetüm die Bevölkerung von Wien mit seiner Umgegend und Baden noch in seinen unsichtbaren Krallen hielt, zeigten sich eben wie im vergangenen Jahr, nur mit weniger Intensität, auffallende Erscheinungen am Himmel, vorzüglich abends. Weitverbreitete, flammend helle Röten, deren eine einst so spät nach Sonnenuntergang und so stark zu sehen war, daß einige sie für ein Nordlicht, andere für eine Feuersbrunst, für einen Waldbrand hielten, bis sich aus Himmelsgegend und spätern Nachrichten die Nichtigkeit dieser Vermutungen nachwiesen.

Allmählich ließen alle diese Symptome nach, und ein anderes Ereignis beschäftigte in Wien und Baden die Gemüter: die schon im vorigen Jahr angekündigte Versammlung der Naturforscher, welche in der literarischen, aber auch in der geselligen, eleganten und uneleganten Welt Epoche machte. Aber nicht bloß Naturforscher und Ärzte hatten sich in den Katalog der Versammelten einschreiben lassen. Man fand die Namen[290] von Geschichtforschern, Geographen, Dichtern, kurz von vielen Literatoren, die nicht unmittelbar jenem Fache angehörten, in dem Verzeichnis, wunderte sich auch wohl darüber, und dachte zuletzt, daß jedermann, der sich einer höhern Bildung erfreuen konnte, sich doch auch gern an dem Umgang mit ausgezeichneten Geistern unserer und fremder Länder, und mitunter auch an den Festen und Genüssen, die ihnen in Wien mit wahrhaft kaiserlicher Munifizenz bereitet wurden, erfreuen mochte.

Auch bei dieser – wie leider bei schon so mancher Gelegenheit – begegnet die Erinnerung den Schatten verschwundener Freunde – wie bei Young den Geistern geschiedener Freuden (the ghosts of my departed joys). – Die Koryphäen, die Repräsentanten der österreichischen Naturkundigen: Jacquin und Littrow, welche damals an der Spitze dieser Versammlung standen, ihre Zusammenkünfte, ihre gemeinschaftlichen Arbeiten, ihre Ergötzlichkeiten regelten – sind seitdem – es ist freilich schon eine Reihe von Jahren darüber hingeschwunden – in die bessere Welt gegangen, und der Erinnerung an jene fröhlichen, lebhaften Tage im September 1832 mischt sich ein wehmütiges Gefühl bei.

Am 23. September sollten die Naturkundigen – die fremden Gäste sowohl als die Einheimischen, die sich unter allerlei Titeln an sie schlossen, nach Baden kommen, um dort die Gegend, die Heilquellen, und was von geschichtlichen Notizen über diesen Ort existierte, den schon die Römer gekannt, und Aquae comagenae genannt hatten, kennen zu lernen. Von unserm Kaiserhofe wurde eine hinreichende Anzahl größerer und kleinerer Eilwagen ihnen zur Verfügung gestellt, und in Baden erwarteten Einwohner und Badegäste, Ärzte und[291] Nichtärzte sie mit Neugier. Im Redoutensaal war ihnen ein stattliches Diner bereitet, an dem auch die Bewohner Badens, zu 2 fl. C.M. die Person, Anteil nehmen konnten, und alles harrte ihrer Ankunft, welche uns zwischen 11 und 12 Uhr verheißen war. Es war die Zeit des Hochamts, und in der sehr altertümlichen Pfarrkirche eine Menge Menschen zur Andacht versammelt, während draußen auf dem Platz, in den Straßen vor der Stadt, überall, wo der Wagenzug vorbeikommen mußte, eine noch viel größere Menge sich herumtrieb. Die Messe war beinahe zu Ende, als auf einmal das herannahende Rollen vieler Wagen sich hören ließ – und ein Geflüster: Sie sind's! sie kommen! sich murmelnd unter den Anwesenden verbreitete. – Nun lief alles aus der Kirche – wo zum Glück schon das letzte Evangelium gelesen wurde, und es erschien der endlose Zug von Wagen, in welchen man nebst vielen gänzlich Unbekannten, doch auch einige befreundete Wiener erblickte.

Auch die Zuseher eilten nach Hause – man kleidete sich um, man dachte daran, den berühmten Gästen bei ihren Spaziergängen durch Baden zu begegnen. Wirklich machten sie auch, von den Badeärzten bewillkommt und begleitet, die Runde bei den Bädern, prüften deren mineralischen Gehalt, hörten Reden an, die bei dieser Gelegenheit gehalten wurden, und begaben sich dann nach der Weilburg, um dem Erzherzog Karl ihre Aufwartung zu machen, der sie mit seiner gewohnten Güte aufnahm. Wir wohnten damals am Josefsplatze und sahen dann die Herren in einer langen Reihe paarweise in schwarzen Fracks vorüberdefilieren; es sah bald aus wie die Begleitung eines stattlichen Leichenzuges.[292]

Mittlerweile hatte Baron Jacquin, der um meinen Aufenthalt in Baden wußte, und mit dem ich seit meiner Kindheit bekannt war, obwohl wir uns, wie das in einer großen Stadt leicht geschieht, oft lange nicht sahen, zu uns geschickt, und meinen Mann und mich zum Diner einladen lassen. Pichler mochte nicht gehen, ihn genierte das; daher ersuchte ich die Baronin Doblhof), mich gütigst abzuholen, und unter ihrem Schirme als Herrschaft von Weikersdorf und eine der ersten Notabilitäten von Baden zum Diner in der Redoute mitzunehmen. Das geschah denn auch, und wir traten ein in den sehr großen Saal, in welchem seiner Breite nach vier lange Tafeln gedeckt waren, an denen bereits viele Mitglieder der Versammlung Platz genommen hatten. Frau v. Doblhof führte mich zu meinem alten Jugendbekannten Baron Jacquin, der mich sehr freundlich begrüßte, und mir einen Platz an einer andern Tafel anwies, wo ich zu meinem Vergnügen mehrere Bekannte, B. Hammer, Graf Ferdinand Colloredo, Dr. Jäger, Pastor Lumnitzer, den ich in Bucsan gesehen hatte, und noch andere traf, mit denen mich der Augenblick bekannt machte.

Die Tafel war gut, sehr reichlich, aber wie es denn bei so vielen Gästen nicht anders möglich war, nicht eben sehr elegant. Das vorzüglichste war die vergnügte Stimmung der Gäste. Man war sehr fröhlich, selbst zuweilen laut, doch stets innerhalb den Grenzen des feinsten Anstandes. Es wurden Gesundheiten ausgebracht, auf den k.k. Hof, die Versammlung, manche einzelne Gäste – sogar meiner Wenigkeit ward gedacht, was mich vor so vielen Menschen in nicht geringe Verlegenheit setzte. Endlich erhob sich Graf F. Colloredo und brachte dem »Sieger von Aspern und[293] seinem Sänger« einen Toast aus, in den alles jubelnd einstimmte, und nur ich bemerkte still in meinem Herzen, daß der 23. September Körners Geburtstag war. Während wir noch saßen, wurden mir die Prof. Dr. Froriep aus Weimar, Burdach aus Königsberg, Harleß aus Bonn und Zeune aus Berlin vorgestellt, und es freute mich sehr, solche ausgezeichnete Menschen persönlich kennen zu lernen. Mit Froriep dauerte das Gespräch am längsten und lebhaftesten, denn unsere Erinnerungen begegneten sich in dem Buchhändler Bertuch (Sohn) in Weimar, den ich in der Kongreßzeit in Wien kennen und schätzen gelernt hatte, und der, so viel ich weiß, mit Froriep verwandt ist. Professor Harleß aber sprach mir von meiner Freundin der Gräfin Zay, deren schöne Kenntnisse in der Arzneikunde er rühmend anerkannte, und mir auch versprach, ihr ein Buch zu senden, worin sie nebst andern Frauen, welche sich um die Naturwissenschaft verdient gemacht, angeführt war. Das Buch erhielt ich auch später und übergab es meiner Freundin.

Professor Burdach, mit dem ich indes nur während der Bewegung, die nach dem Aufstehen von der Tafel entstand, wo ich an B. Jacquins Arme mit den übrigen in einen andern Saal geführt wurde, um den Kaffee zu nehmen, flüchtige Worte gesprochen, war mir darum wichtig, weil er es war, der in dieser Versammlung, und wohl schon früher, eine alte Hypothese, durch Klopfen an der Brust sich von dem Zustand der Lungen zu überzeugen, wieder ans Licht gezogen und zu einem Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht hatte. Diese Hypothese aber war in meiner Kindheit und ersten Jugend von einem hiesigen, übrigens ganz unbedeutenden Arzt, Dr. Auenbrugger, zuerst vorgebracht,[294] damals aber von Ärzten und Laien als eine unhaltbare Chimäre verlacht worden. Und siehe da! Nach mehr als einem Jahrhundert kommt unser alter Landsmann aus dem Staube der Vergessenheit zu medizinischen Ehren, und das Horchrohr spielt seitdem in der Hand unserer Ärzte eine bedeutende Rolle. Mir aber (es braucht sich niemand an meiner Ansicht zu ärgern, denn ich verstehe nichts von der Sache und urteile bloß nach dem gesunden Menschenverstand) erscheint die Sache noch stets, wie jenen gescheiten Männern vor 50 und 60 Jahren, als eine Charlatanerie.

Abends kehrten die fremden Gäste in demselben langen Wagenzuge, wie sie gekommen waren, unter Fackelschein wieder nach Wien zurück, und der gute Großvater Pichler machte sich die einzige Freude, die ihm der heutige glänzende Tag in Baden gewährte, und führte seine Enkel auf den Platz hinter der Redoute, wo die Wagen standen, um die Fremden abfahren zu sehen. Es war schon ziemlich dämmerig geworden, und die Sonne schon eine Weile verschwunden. Nachdem unsere Lieben wiedergekehrt waren, gingen wir, Pichler und ich, nach der in Baden eingeführten Sitte, zu Pereira, wo viele, die heute den Zug gesehen, oder beim Diner gewesen, gegenwärtig waren, und sich nun die Freuden oder andere Ereignisse des Tages mitteilten. Ich erzählte Frau v. Pereira von dem Toast, der unserm lieben Körner an seinem Geburtstage war gebracht worden, und sie bemerkte, daß wohl außer mir und ihr niemand sonst an Körners Geburtstag gedacht haben werde – desto herzlicher war gewiß unsere Erinnerung. Mit Verwunderung aber vernahm ich diesen Abend, daß ich mit manchem der hier Gegenwärtigen heute Mittags nicht bloß in einem Saale, sondern[295] an einer Tafel gespeiset, aber der Länge des Tisches und der vielen Gäste wegen meiner guten Bekannten gar nicht gewahr geworden war.

Einige Tage nach diesem Fest in Baden ließ der Hof den Naturforschern ein glänzendes Fest in Laxenburg bereiten. Unter reichgeschmückten, mit Blumen gezierten Zelten waren die Tafeln gedeckt; Fürst Metternich präsidierte an der vorzüglichsten derselben, und machte die Honneurs des Tages mit ebenso viel Würde als Anmut, wie man erzählte. Die Bewirtung war kaiserlich, und die Kutscher, welche die Gäste nach Laxenburg und wieder zurück brachten, machten den Wiener Witz, daß sie die Geleerten (Gelehrten) hinaus, und die Gefüllten wieder zurück gebracht hätten. Häufig auch wurden diese vom Volke, aus Unverstand, statt Naturforscher Naturmenschen genannt.

Wie wir nach Wien zurückkehrten, fanden wir noch einige derselben, die sich verspätet hatten, so den Professor Zeune, Herausgeber des Nibelungenliedes und Direktor der Blindenanstalt in Berlin, der unter der Rubrik eines Geographen sich der Versammlung angeschlossen hatte. Er war ein genauer Bekannter unsers vieljährigen Freundes, des Herrn O. Regierungsrates Streckfuß, und schon als solcher uns herzlich willkommen. Ich mußte ihm auch alle Erinnerungen an diesen, die sich noch in unserem Hause erhalten hatten, aufweisen, und er saß gern an den Stellen, wo jener, wie wir ihm sagten, zu sitzen gepflegt hatte. – So feierten wir das Andenken des längst Entrissenen in wehmütiger Freude.

Die Cholera hatte sich indessen auch aus Wien verloren. Meine Gesundheit war vollkommen hergestellt, und der Winter versprach, sich angenehm zu gestalten.[296]

Schon früher hatte Kurländer (Franz) uns mit einem jungen Italiener, dem Dr. B. Bolza, bekannt gemacht, der sich mit Literatur überhaupt und besonders mit Sprachforschung beschäftigte. Wie viele schöne Geister in Wien war auch er ein Beamter der Hofkammer, und es ist wirklich sonderbar, daß das Finanzfach sich so leicht mit den Musen verbinden lassen soll, da es doch etwas so Trockenes und gar Prosaisches an sich hat.

Dr. Bolza zeigte sich auch als Dichter bei verschiedenen Anlässen, aber es scheint, daß sein eigentliches Fach die Philologie ist, auch war er mit aller neuern Literatur und vor allem mit der Literatur seines Vaterlandes wohl bekannt, wodurch ich die sehr willkommene Gelegenheit erhielt, ebenfalls die besten neuesten Erscheinungen dieses Landes kennen zu lernen. Einige Zeit nachher fing ein junger Dichter, der in jene früher bemerkte Reihe der »Ärzte und Poeten« gehörte, Dr. Frankl an, in Wien einiges Aufsehen zu machen. Er war zuerst mit seinem Habsburg-Liede aufgetreten, worin er die merkwürdigsten Episoden aus der Geschichte dieses Regentenhauses in sehr zierlichen Versen besang. Die Gedichte waren unstreitig recht hübsch – nur schienen sie mir, so viel ich nämlich davon gehört hatte, jenes warmen Hauches, jenes innerlichen Lebensgefühles zu entbehren, das z.B. Collins Landwehr-Lieder, Körners oder Schenkendorfs patriotische Dichtungen beseelt. Bei näherer Bekanntschaft mit dem Dichter zeigte sich auch wohl hier und da die Ursache dieser kälteren Ruhe, indem seine Ansichten als Israelit und als Anhänger der modernen Philosophie, sowie überhaupt der modernen Lebensauffassung, sich mit einem warmen Durchdrungensein von echt österreichischer Gesinnung und einem, unsern heiligsten Gefühlen gläubigen[297] Sichhingeben nicht wohl vertrugen. Sein Kolumbus und mehrere kleinere Gedichte, die er seitdem herausgegeben hat, und unter welchen sich auch die »Sagen aus dem Morgenlande«, welche er so gütig war, mir zu widmen, befinden, vor allem aber sein, bis jetzt noch nicht vollendetes Heldengedicht: »Juan d'Austria«, scheinen mir viel gelungenere Arbeiten. Bei B. Hammer, bei uns und in mehreren Häusern unserer Bekannten eingeführt, wurde er bald heimisch in unserm Kreise und wohl war nicht leicht in einer von diesen Familien ein kleines Fest, eine feierlichere Versammlung, wozu Frankl nicht wäre gebeten worden. Oft auch trug er durch das Vorlesen seiner eigenen oder auch fremder Gedichte die eigentlichen Kosten einer solchen Versammlung, unterhielt und erheiterte sie durch seine Talente.

Im Sommer zogen wir wieder nach Baden, wo nach dem Tode des vorigen Badearztes, des geschickten und wohlverdienten Dr. Beck, ein ganz junger Mann, Dr. Habel, dessen Stelle erhalten hatte. Eine Krankheit meiner Köchin, die sich durchaus nur von diesem behandeln lassen wollte – ein Wunsch, dem ich bei meinen Leuten mich nie widersetzen mochte, weil das Vertrauen eine Frucht der eigenen Überzeugung ist, wogegen sich keine Autorität geltend machen darf – verschaffte uns dieses Arztes nähere Bekanntschaft, und ich fand nachher vielfältig Gelegenheit, mich dieser zufälligen Veranlassung zu erfreuen. Habel wurde bald einheimisch in unserm Hause sowohl als in dem Kreise unserer Badener Sozietät. Sein gebildeter Geist, seine Bekanntschaft mit der neuen Literatur in unserer und den fremden Sprachen, sein feines Betragen, und ein herzliches Entgegenkommen machte ihn bald uns allen[298] wert, und fügte zu den Annehmlichkeiten, die uns der Badener Aufenthalt jährlich gewährte, auch noch das Vergnügen und die Beruhigung, diesen schätzbaren Freund und geschickten Arzt dort zu finden, was besonders in der letzten Beziehung um der Kinder willen sehr vielen Wert hatte, wie sich in ein paar Jahren später erprobte.

Im Winter dieses Jahres, in dem mein häusliches Leben übrigens so wie das öffentliche still und gewöhnlich, ohne merkwürdige Ereignisse verfloß, war eine sehr interessante Fremde, Mrs. Jameson, in Wien eingetroffen, welche durch ihre Schriften: »Shakespeares Weibliche Charaktere«, »Memoiren berühmter weiblicher Souveräne« und andere Werke sich einen bedeutenden Namen in der europäischen Literatur bereits erworben hatte. Ich lernte sie im Hause des amerikanischen Konsuls, Herrn Schwarz, kennen, dessen Bekanntschaft ich selbst ein oder zwei Jahre früher bei Dr. von Bischoff gemacht hatte. Mrs. Jameson war nicht mehr ganz jung – sie mochte in den Dreißigen stehen; ihre Züge waren nicht eigentlich schön zu nennen, ihr Wuchs eher zu klein und zu voll; – dennoch gaben ein blendend weißer Teint, ein Ausdruck von unverkennbarer Güte und Milde, der, verbunden mit einem lebhaften Geiste, aus ihren Augen, ihren Mienen, ihrem ganzen Wesen sprach, ihrer Gestalt so viel Anziehendes, daß man sie mit Recht für eine hübsche Frau erklären konnte. Als ich sie das erstemal sah, erhoben ein Anzug von schwarzem Samt, eine einfache Perlenschnur um den blendend weißen Nacken, ein niedliches Blondenhäubchen auf den, etwas zu stark blonden Locken noch die natürliche Wohlgestalt, und wenn man sie sprechen, wenn man sie mit ebenso viel Bescheidenheit als Kenntnis,[299] mit ebenso viel Geist als Milde sich äußern hörte, mußte man sie lieb gewinnen, und das war auch der Fall beinahe mit allen Personen, die hier in nähere Beziehungen zu ihr kamen.

Sie war in Begleitung einer Freundin, der Schwiegertochter des hochberühmten Goethe, die selbst eine sehr geistreiche und beachtenswerte Frau war, nach Wien gekommen. Mrs. Jameson hatte in Weimar bei Frau v. Goethe gelebt, sie waren miteinander hierher gereist und wohnten zusammen.

Im Äußern kamen mir diese zwei Frauen sehr verschieden vor. Frau v. Goethe mochte älter sein als ihre Freundin, ihre Gestalt war durchaus nicht angenehm, obwohl ihre Züge geistvoll, ihr Gespräch lebhaft und bedeutend waren, und ihre Beziehungen zu ihrem berühmten Schwiegervater, die Erziehung, welche sie genossen, ihr Aufenthalt in Weimar usw. ihren Geist vielseitig ausgebildet hatten. Dieser Vorzüge war sie sich sehr wohl bewußt, sie suchte sie geltend zu machen und von Männern bemerkt zu werden, was ihr auch ziemlich gelang. In meinen Augen aber gewann neben dieser Frau, die sich viel zu auffallend und zu jugendlich für ihre Gestalt kleidete, ihre jüngere Freundin unendlich durch ihren einfachen aber passenden Anzug und durch ihr anspruchsloses Benehmen.

Mrs. Jameson besuchte mich öfters und ich sie. – Nur daß sie in mir ferneren Vorstädten (Leopoldstadt, hinter dem Theresiano) wohnte, hinderte mich, sie so oft zu sehen, als ich wohl wünschte. Auch daß wir beide nur in einem uns fremden Idiom, im französischen nämlich, uns unsere Gedanken mitteilen konnten – da Mrs. Jameson Deutsch verstand, aber nicht sprach, und ich ebenso Englisch las, aber es nicht sprechen konnte[300] – stand oft störend wie eine Scheidewand zwischen unsern Geistern. Nie fühlt man wohl drückender, wie wenig ausreichend eine solche Bekanntschaft mit einer fremden Sprache ist, die wohl für den gesellschaftlichen, oberflächlichen Verkehr genügt, als wenn man dann über tiefergehende Ideen, über innerliche Zustände oder Vorgänge sprechen und gern von einer verwandten Seele verstanden sein möchte. Dies hätten wir nun beide gewünscht und beide fühlten wir uns durch den Mangel an Geläufigkeit in dem uns fremden Sprachmedium gehemmt. Alles, was ich an Mrs. Jameson bemerken und beurteilen konnte, flößte mir Achtung für ihren Charakter ein, die kindliche Liebe für ihren Vater, die hingebende Freundschaft für Frau von Goethe, der sie in ihrem vielfältigen Kranksein treulich beistand und sie liebevoll pflegte; endlich der Geist, der aus ihren Schriften sprach, und der nur Menschenfreundlichkeit, Milde, versöhnende Güte atmete, so z.B. aus ihren »weiblichen Charakteren Shakespeares«, wo sie sogar an Lady Macbeth noch einen milden Zug fand, und die Untaten, welche sie beging, mit einer zu leidenschaftlichen Liebe für ihren Gemahl entschuldigte, dessen ungemessenen Ehrgeiz sie kannte und zu befriedigen beflissen war.

In einem andern ihrer Werke: »Über die weiblichen Souveräne«, fand ich so viele mir zusagende und ganz mir aus der Seele geschriebene Ansichten und Urteile, daß ich im Innersten mich dieser Übereinstimmung freute. Bei ihr lernte ich auch einen unserer jetzigen ausgezeichneten Dichter kennen. Ich war zu ihr und Frau v. Goethe gebeten, um ein neues Stück Herrn von Bauernfelds, »Fortunat«, von ihm lesen zu hören, was denn auch mit vielem und nicht bloß höflichem Beifall[301] geschah. Es hatte wirklich bedeutende Schönheiten, ich erkannte diese gewiß von Herzen; im ganzen aber war der Eindruck nicht sehr tief, vermutlich weil das Märchenhafte des Inhalts, indem das reinmenschliche Interesse sich durch die zauberhafte Einwirkung höherer, unberechenbarer Motive verflüchtigt, mich abkühlte. Übrigens fand ich es seinem Gange und tiefern Sinn nach sehr ähnlich Grillparzers Stücke: »Der Traum ein Leben«, das nicht lange vorher zuerst auf der Bühne erschienen, aber, wie man sagte, eine ältere Arbeit des Verfassers noch aus der Zeit seiner Sappho war. Das Grillparzersche Stück hatte viel Aufsehen gemacht und allgemeinen Beifall gefunden, weit größern als alles, was dieser Dichter seit der »Sappho« und dann wieder nach diesem »Traum« noch zur Aufführung hatte bringen lassen, und so ist die Vermutung wohl nicht unbegründet, daß es noch ein Produkt aus seiner jugendfrischen Periode sei, als er mit Jünglingsmute zu Italien sprach, das er bereisen wollte:


und schaff' in stolzer Ruh',

Was jung soll sein, wie ich es bin,

Und alt soll werden wie du!


Die Ähnlichkeiten, welche ich zwischen dem »Traum ein Leben« und dem »Fortunat« fand, sind folgende:

In jedem Stücke tritt ein sehr junger Mensch auf, dem es ungestüm in der Brust kocht, den die Mauern seines Vaterhauses beengen, der sich hinaussehnt ins Leben, in die weite Welt, um zu wirken, zu schaffen, auch wohl zu zerstören. Beide lieben bereits, und beiden genügt diese Liebe nicht, füllt die Leere in ihrer Seele nicht aus. Rustan wird durch ein übernatürliches Mittel in den Schlaf gewiegt, in dessen Traum er sein[302] Leben fortsetzt. Fortunat tritt zwar ganz natürlicherweise in die Dienste eines Herzogs, der durch Famagosta reist, aber erhält bald darauf den Zauberbeutel und Zauberhut, die ihn zu übernatürlichen Dingen befähigen. Beide Jünglinge kommen an Höfe großer Herren, beide werden Kriegshelden, beide dürfen um Fürstentöchter werben. Aber das Blatt wendet sich, die stolzen Hoffnungen zerrinnen, die Jünglinge er kennen deren Trug und Nichtigkeit; Rustan erwacht körperlich aus dem Traum, der bisher ihm sein Leben vorspiegelte, und findet sich mit Vergnügen in der väterlichen Hütte, an der Seite seines Mädchens wieder. – Fortunat, nachdem er seine Zauberschätze verloren, kehrt freiwillig, von seinem Pagen begleitet, in welchem er (etwas unwahrscheinlicherweise) sein ihm folgendes Mädchen nicht erkannt hat, nach Famagosta zurück und ist froh, im Vaterhause zu sein.

Mir schien diese Übereinstimmung so auffallend, daß ich mich damals und auch jetzt noch wundern muß, mit dieser Ansicht so ziemlich allein gestanden zu haben, obwohl jene Personen, denen ich sie mitteilte, mir, gleichsam überrascht, beipflichteten. Wohl mag der Umstand dazu beigetragen haben, daß das Stück nur ein einziges Mal, und das mit Unglück, war aufgeführt worden, und also vielen unbekannt geblieben war.

Nach der Vorlesung wurde von der Aufführung gesprochen. Es ergab sich, daß das Hoftheater Schwierigkeiten mache, weil dieser »Fortunat« gleichsam eine Zauberkomödie sei, und Graf Czernin schon aus ähnlicher Rücksicht beim »Traum ein Leben« Anstände gemacht habe. Bauernfeld beabsichtigte daher, ihn dem Josefstädter Theater zu übergeben. Ich konnte mich nicht enthalten, ihm zu sagen, das sei so gut als[303] ein Kindesmord, denn sein Stück werde dort gewiß schlecht gegeben werden. Er aber behauptete das Gegenteil, ja, war davon überzeugt, und so machte niemand mehr einen Einwurf. Das Stück aber ward nicht lange darnach eben auf dem Josefstädter Theater gegeben und mißfiel, wozu wohl die Kabalen des berühmten oder berüchtigten Saphirs das meiste beigetragen haben mochten, der mit seiner Partei im Theater erschien und gegen dessen böswilligen Vorsatz das laute Applaudieren einiger Freunde des Autors (Graf Mailáth, Grillparzer, Baron Zedlitz), die sich in einer Loge befanden, einen grellen Gegensatz bildete, ja vielleicht eben durch den Widerspruch jenen rohen Lärm noch mehr hervorrief. Kurz, das Stück ward richtig »ermordet«, wie ich es dem Autor vorausgesagt hatte.

Nicht lange darnach ließ er sich durch Frankl bei uns aufführen, und mir schien aus manchem kleinen Umstande, daß er mich das vorige Mal bei Frau von Goethe und Mrs. Jameson gar nicht gekannt oder meinen Namen nicht gehört hatte.

Der Sommer, welcher auf diesen Winter folgte, brachte uns eine unerträgliche Hitze, die denn, wie ich das öfter und aus sehr begreiflichen Ursachen in heißen Sommern erlebt hatte, Anlaß zu vielen Feuersbrünsten gab. Wir waren wieder in Baden und wohnten in der schon genannten Wohnung am Josefsplatze, als man uns eines Abends (ich glaube es war der Frauentag Maria Geburt, im September) meldete, man sehe gegen Süden zu den Schein eines großen Feuers, der sich immer mehr ausbreitete. Bald erfuhren wir auch, daß dies Unglück die bedauernswerte Neustadt (die allzeit treue) getroffen hatte. Allerlei schreckliche Kunden[304] von dieser Feuersbrunst gelangten nach Baden, von wo viele Menschen nach dem, nur ein paar Stunden entfernten Neustadt eilten, teils um ihre Neugierde zu befriedigen, teils aus bessern Beweggründen, um etwa Verwandten und Freunden in solcher Not beizuspringen oder zu retten. Nur zu bald erfuhr man, daß viele Menschen dabei das Leben verloren hatten; der Feiertag hatte viele veranlaßt, sich ohne Sorge weit vom Hause zu entfernen, die mit der Ernte des Jahres gefüllten Scheuern außerhalb der Stadt wurden von der Flamme ereilt, und diese war von einem sich erhebenden starken Wind wieder gegen die Stadt zurückgetrieben worden. Es war ein Tag des Jammers und Schreckens für Neustadt, aber auch für die Umgegend und ganz Österreich. Mildtätig und hilfreich suchte dies nachher den verunglückten und verarmten Landsleuten durch bedeutende Spenden und Unterstützungen zu Hilfe zu kommen. Sehr lange, vielleicht zwei oder mehrere Jahre darnach, soll ein Bauernknecht, der lange an körperlichen Leiden und Gemütskrankheit in Neustadt gesiecht, auf seinem Totenbette sich angeklagt haben, durch sträfliche Nachlässigkeit beim Tabakschmauchen die erste Ursache dieses entsetzlichen Unglücks gewesen zu sein.

Fürwahr, wenn man zusammenrechnen könnte, wie viel Unheil und Brandschaden durchs Tabakrauchen entstanden, wie großen Verlust der feinere Ton, die geistreiche Mitteilung und die gesellige Sitte erlitten, wie schädlich endlich das Verschlucken des Tabakdampfes und das oftmalige Ausspucken der Gesundheit junger Leute geworden, so würde sich leicht eine Summe von Übeln und wirklichem Nachteil ergeben, gegen welches man doch das egoistische und halb gedankenlose Vergnügen, das der Tabakraucher in seiner Dampfwolke[305] und dem Hinaufwirbeln der Rauchsäulen findet, nicht geltend machen könnte.

Dies Tabakrauchen und die rasende Liebe dafür, welche sich unter dem Szepter der Mode jetzt bis beinahe in das kindische Alter des männlichen Geschlechtes erstreckt, ist es denn auch, was die stets mehr zunehmende Trennung der beiden Geschlechter im geselligen wie im häuslichen Leben begünstigt, ja notwendig macht. Mit der Pfeife im Munde kann man doch nicht in Gesellschaft anständiger Frauen erscheinen, von der Pfeife will man sich aber nicht trennen, so trennt man sich von den Frauen, überläßt diese sich selbst, und in ihren Haremssozietäten aller Nichtigkeit, Frivolität und Klatschhaftigkeit, die in solcher Einseitigkeit unvermeidlich sind, und ergibt sich mit gleichgesinnten Freunden aller Ungeniertheit, Roheit, mitunter Grobheit, welche ebenso unabtrennbar von burschikosem Leben sind.

Noch aber wäre gegen eine solche Absonderung der Geschlechter, welche uns in die mittelalterliche, ja in die antike Welt zurückzuführen scheint, nichts oder wenigstens nicht viel einzuwenden, wenn der große Gewinn eines wirklichen Erstarkens des männlichen Charakters im allgemeinen davon zu hoffen wäre; wenn diese Tabaksorgien zu einer heiterern Ansicht des Lebens, zu kräftigen Entschlüssen, vor allem zu mutiger Bekämpfung eigner und fremder Leidenschaften, zu der Kraft, für einen höheren Zweck zu entbehren und zu opfern, führen würden. Aber ich frage meine Zeitgenossen und Zeitgenossinnen, ob diese Zerrissenheit, diese allgemeinen und ewigen Klagelieder, diese Unzufriedenheit mit sich und der Welt, diese innerlichen Zerwürfnisse uns ein kräftiges Erheben des Männergeschlechtes[306] andeuten? Ob nicht gerade diese Sehnsucht nach Bequemlichkeit, nach ungestörtem und recht raffiniertem Genuß körperlicher Erquickung, guten Essens, Trinkens und andern Komforts, auf ein eigentliches Erschlaffen der Kraft deute? Ob nicht das unselige Geschwätz von der Emanzipation der Frauen, dieser schrecklichsten Abirrung vom Pfade der Natur, recht eigentlich dahin weise, daß die Frauen an der Seite solcher verweichlichter Männer, die nur zu klagen, aber nichts zu bessern wissen, sich nicht an ihrem Platz (nämlich dem untergeordneten) finden, und daher den erschlafften Händen ihrer kommoden Ehehälften den Kommandostab entwinden möchten, und dies auch für leicht halten müssen? Frau von Staël, diese doch wahrlich nicht allzu weibliche Frau, ruft, von einem richtigen Naturgefühl überwältigt, in ihrer »Corinna« einmal aus: Il avait pour elle les soins protecteurs, qui font le plus doux bien de l'homme à la femme. – Ne faut-il pas pardonner aux coeurs des femmes les regrets déchirants qui s'attachent à ces jours ou elles étoient aimées, ou à tous les momens elles se sentoient soutenues et protégées? Das war ein Naturschrei, den ihr besseres Gefühl dieser femme supérieure vielleicht gegen ihren Willen entriß. Und ich möchte alle meine ältern oder jüngern Schwestern fragen können, ob sie sich in dem natürlichen Verhältnisse von Abhängigkeit und Unterordnung (nicht Erniedrigung und sklavischem Gehorsam) gegen ihre Männer nicht glücklich fühlen und an keine Emanzipation denken würden, wenn die Männer es verstünden, recht eigentlich Männer zu sein?

Sehr natürlich knüpft sich an diese Betrachtungen die Beobachtung, daß, ganz entgegen den früheren[307] Gewohnheiten der Geselligkeit in Wien, jetzt die Männer, und besonders die höher gebildeten, alle gemischten Gesellschaften fliehen. Es ist, als litten sie alle an der »Salonscheue«, wie an einer geistigen Wasserscheue! – Auch suchen sie die Einwirkung der Salons auf die Geister als etwas Verflachendes und Erschlaffendes darzustellen, und wohl mag das, was man jetzt »Salonleben« nennt, solche Wirkung hervorbringen. – Ich besuche die Salons seit Jahren nicht mehr; früher aber wirkten die Gesellschaften, die Soiréen hier und auch in Paris nicht so, nicht erschlaffend, nicht abspannend. Gebildete Frauen, geistreiche und gelehrte Männer, vielgereiste Fremde, Künstler usw. versammelten sich in denselben. In lebhaften Gesprächen über interessante Gegenstände berührten sich die Geister, Witzfunken sprühten, energische oder eigentümliche Ansichten wurden geäußert, fanden Teilnahme oder Widerspruch. Es war ein lebendiges Aufeinanderwirken der Geister, das oft Gedanken entwickelte oder Gesichtspunkte aufstellte, welche neu und merkwürdig erschienen, Gedichte wurden gelesen, die neuesten Erscheinungen in der Literatur besprochen, Kunstwerke vorgezeigt, zuweilen Musik gemacht. So waren die Abendunterhaltungen vor 20, 30 Jahren in Wien, so mußten sie nach dem, was wir durch Journale, durch Frau von Staël, durch ihre Zeitgenossen wissen, nur vielleicht in größerem Stil, in Paris gewesen sein, wenn diese Frau von ihrem Salon nach der Restauration sagen konnte: Qu'il avoit été comme un hôpital pour les blessés de toutes les parties.

Jetzt freilich ist das vielleicht sogar in Paris anders geworden. – Aber ich bin der Meinung, daß jenes Absonderungssystem, dem wenigstens bei uns – hauptsächlich[308] das Tabakrauchen zum Grund liegt, den meisten Einfluß auf die Gestaltung der Gesellschaften und somit auf den gesellschaftlichen Ton und besonders auf die Sitten und das Benehmen der jüngeren Männer hat, welches alles seit ungefähr zwanzig Jahren wenigstens nicht besser oder feiner geworden ist, als es früher war.

Vieles mag zu dieser Flachheit in dem Ton der gemischten Gesellschaften und zu diesem Bequemlichkeitssystem die zahllose Menge der öffentlichen Orte, Kaffeehäuser, Gasthäuser, Reunionen, Gärten usw. beigetragen haben, die sich jetzt in und um Wien überall aufgetan, und wo auch Frauen aus den bessern Ständen, ohne die Sitte zu verletzen, erscheinen können, was ehemals nicht war und nicht für möglich gehalten worden wäre. Bequemer ist es nun freilich, sich in einen Gasthof oder ein Kaffeehaus hinzusetzen, für sein Geld zu zehren, niemand eine Verbindlichkeit schuldig zu werden und sich um niemand zu kümmern, wegen niemand genieren zu müssen. Ob aber nicht auch durch ein solches Isolement viele zarte Fäden feinerer Rücksicht, verbindlicher Höflichkeit zerrissen, ob nicht selbst die Ökonomie unter diesen so oft wiederkehrenden Ausgaben an öffentlichen Orten leiden werde, das wäre immer einer Betrachtung wert?

Ich kehre zur Erzählung zurück. Etwa um diese Zeit, ich erinnere mich nicht genau, wann es eigentlich war, brachte ein Herr, der mir bis dahin unbekannt gewesen war, meinem Manne einen Brief von Hofrat Reinbeck aus Stuttgart an mich, den eigentlich der damals berühmt gewordene Dichter Niembsch von Strehlenau, der unter seiner pseudonymen Bezeichnung Lenau sich bereits einen großen und wohlverdienten[309] Namen in der deutschen Poesie erworben hatte, bringen hätte sollen. Er war von Stuttgart gekommen, Hofrat Reinbeck, ein vieljähriger literarischer Bekannter von uns, der im Jahre 1811 in Wien und viel bei uns gewesen war, hatte Lenau den Brief übergeben, um sich mittelst desselben bei uns einzuführen. Aber auch Lenau gehört – und vielleicht mehr noch wie andre – zu den Literatoren, die durchaus jeden Umgang fliehen und sich unter ähnlichen, oft etwas unfeinen Kameraden am wohlsten, weil am ungeniertesten fühlen. Einer von dieser Gesellschaft soll sogar geäußert haben, daß es ihm schon zuwider sei, an einem Tische zu essen, auf den ein Tischtuch gebreitet wäre, weil er am liebsten am unbedeckten Tische im Bierhaus speisen möchte. Daher ließ sich Herr von Niembsch bei uns mit Unwohlsein entschuldigen, obwohl ich recht gut wußte, daß er alle Tage im Kaffeehause zu sehen war und ich mußte Hofrat Reinbeck antworten, daß ich seinen Freund nicht kennen gelernt, weil – er eben zu den modernen Dichtern voll Misanthropie und Unglück gehört.

Lange Zeit darnach kam er jedoch, abermals mit einem Briefe von Reinbeck, der ihm vielleicht ins Gewissen mochte geredet haben, und ich gestehe, daß seine Persönlichkeit ihn gar wohl berechtigen könnte, sich mit Vorteil in der Welt zu zeigen. Seine Gestalt erinnerte mich lebhaft an die unsers verehrten Tieck, wie er damals aussah, als er 1808 zuerst mit seiner Schwester Bernhardi in Wien erschien, wo er denn ungefähr in demselben Alter wie Lenau jetzt stehen mochte.

Ein bescheidenes, mildes und anständiges Benehmen, das eine edlere Natur voraussetzen ließ, erhöhte und[310] verlängerte den angenehmen Eindruck der Erscheinung und ließ uns um so mehr die starre Zurückgezogenheit bedauern, in welcher sich der Dichter von jeder Annäherung hielt. Mit Frankl und Bauernfeld baten wir ihn später einmal zu Tische. Er kam, – war sehr artig, aber meist still und überließ den beiden andern das Wort – das war das letzte Mal, wo ich die beiden Herren Lenau und Bauernfeld in meinem Hause sah, und ich gestehe, ich war viel zu stolz, um durch eine nochmalige Einladung ein Verlangen nach ihrem Umgang zu zeigen, das sie nicht nach dem meinigen fühlten. Überhaupt habe ich es in meinem Leben mit alten und vorzüglich mit neuen Bekanntschaften so gehalten, daß ich ein Benehmen gegen mich, welches man nicht anders beobachtet haben würde, wenn man einen alten Umgang auf höfliche Art hätte abbrechen oder einen neuen nicht näher an sich kommen lassen wollen, stets für dies nahm und mein Betragen danach einrichtete, indem ich voraussetzte, daß, wenn ich geirrt und jene Personen wirklich Vergnügen an meinem Umgang oder in meinem Hause finden würden, sie schon annähernde Schritte machen würden.

In diesem Jahre war ich mit einem längeren Roman, »Elisabeth von Guttenstein« beschäftigt. Der Leser wird in dem Anfang dieser Blätter bemerkt haben, in welch heiliger Erinnerung und ehrfurchtsvollem Andenken die Kaiserin Maria Theresia, welcher meine Mutter ihre ganze Erziehung, Ausbildung und nachmalige günstige Lage verdankte, in unserm ganzen Hause lebte, und wie tief diese Empfindungen auch in meinem Herzen Wurzel gefaßt. Es war mir nun eine ebenso angenehme als würdige Beschäftigung, die Thronbesteigung dieser großen Regentin, die unglücksvollen[311] Umstände, die sie damals umdrängten, die Gefahren, mit denen sie zu kämpfen hatte, diesen für Österreich so wichtigen Zeitpunkt zum Hintergrund eines geschichtlichen Romans zu machen, und denselben mit allen Äußerlichkeiten in Sitte, Kulturstufe, Lebensweise usw. jener Zeit zu umkleiden, in der ich zwar nicht selbst gelebt, die aber teils noch mit einzelnen Zügen in meine eigene Kindheit hineingeleuchtet hatte und teils von meinen Eltern und bejahrten Verwandten und Bekannten mir geschildert und wohl noch selbst in ihrer eignen Persönlichkeit repräsentiert wurde. So z.B. die Art des geselligen Umganges, die starke Einwirkung der französischen Bildung und Literatur, der ersten Morgenstrahlen der deutschen, die Manie des Goldmachens usw.

Der Roman wurde ziemlich günstig rezensiert, aber, wie ich zu fühlen glaubte, ziemlich kalt aufgenommen. Es war auch meine letzte Arbeit dieser Art, denn die Zeitbilder, welche vier oder fünf Jahre darnach erschienen, sind durchaus nicht als Roman, als poetisches Erzeugnis, sondern lediglich als Sittenschilderung meiner Vaterstadt in den Jahren 1770 und 1780, dann dreißig Jahre später zwischen 1800 und 1810 und endlich wieder nach einem ähnlichen Zeitraum zwischen 1830 und 1840 zu betrachten und zu beurteilen.

Nach dem neuen Jahre, das heißt ungefähr in der Hälfte des Februars, ward mir wieder die Ehre, dieses Werk: »Elisabeth von Guttenstein«, Ihrer Majestät der Kaiserin und der Frau Erzherzogin Sophie überreichen zu dürfen. Ich wurde huldreich aufgenommen, fand die beiden erlauchten Schwestern beisammen in den Zimmern der jungen Prinzen, wo diese einen ganz militärischen Apparat, Schilderhäuser, Gewehre, Trommeln[312] usw. zum Spielzeug hatten, und die Kaiserin sich zu ihnen am Boden niedersetzte, um mit ihnen zu spielen. Da äußerte denn auch sie die Grundsätze, welche bis in die neuere Zeit von jedem erfahrenen Erzieher aufgestellt wurden, daß nämlich pünktlicher Gehorsam ein Haupterfordernis sei, auf welches man bei den Kindern dringen müsse. Jetzt aber scheint dieser Grundsatz, wie so vieles andere, als veraltet betrachtet und beiseite geschoben zu werden, indem man vielfach die Ansicht aussprechen hört: ein Kind, besonders ein Knabe, der gehorsam sei, könne keine Energie des Charakters haben, und sehr oft sieht, wie die Eltern sich in der Widerspenstigkeit ihrer Kinder sogar mit einigem Stolze gefallen.

Aber nur zu oft nimmt man bei Söhnen Ungezogenheit für Kraft und schmähliches Nachgeben an augenblickliche Gelüste für Unabhängigkeit des Charakters. Überhaupt aber scheinen mir, soweit ich es bei den sehr kurzen und seltenen Gelegenheiten zu beurteilen imstande, war, die Methode und vorzüglich die Ansichten über die Erziehung im kaiserlichen Hause, das des Erzherzogs Karl mit inbegriffen, ebenso verständig als zweckmäßig. Nur selten habe ich ein kleines Kind von nicht drei vollen Jahren gesehen, das so zutraulich mit ganz Fremden, so herzig und so zugleich entwickelt geschienen hätte, wie die, leider nur zu bald verstorbene Erzherzogin Maria Anna Pia, die ich in dem Zimmer ihrer Mutter fand, als ich im Jahre 1838 eine Audienz bei derselben hatte.

Nicht lange nach jenem Tage, an dem ich den obenerwähnten Roman überreicht hatte, erkrankte, zur größten Bestürzung der Stadt und des Landes, unser väterlicher Monarch auf so ernsthafte Weise, daß das Lebensgefährliche[313] sogleich erkannt und gefürchtet wurde. Jeden Tag klangen die Nachrichten bedenklicher. Viel wurde von der christlich heitern Fassung des Kaisers, von dem rührenden Schmerz seiner Umgebungen, besonders von den Äußerungen tiefer kindlicher Liebe des Kronprinzen erzählt. Andere Ärzte wurden noch nebst den gewöhnlichen Leibärzten berufen; – alles erwies sich als erfolglos. – Ein Leben voll moralischer Leiden, schmerzlicher Verluste, Selbstüberwindungen (gewiß der aufreibendste Kampf des menschlichen Herzens) und Resignationen hatte bei einem von Jugend an zarten Körperbau, trotz einer musterhaften Mäßigkeit und eines höchstgeregelten Lebens, dennoch die Kräfte des Monarchen erschöpft, ohnedies scheint Longävität kein Erbteil des lotharingisch-habsburgischen Stammes gewesen zu sein, indem nur wenige Glieder desselben das 60. Jahr erreichten. – Eine allgemeine Entzündung, wie man die Todeskrankheit des Monarchen nannte, machte in der Nacht vom 1. auf den 2. März 1835 seinem Leben ein Ende, nachdem er eben auch am 1. März vor 43 Jahren den Thron seines Vaters bestiegen hatte.

Jedermann erinnert sich gewiß dieser Epoche noch lebhaft; – doch in unserm öffentlichen Leben ging keine bedeutende Veränderung vor. Der neue Herrscher schien mit kindlicher Pietät alles, was sein Vater und wie er es getan, festhalten und als Norm seines eigenen Wirkens und Handels befolgen zu wollen; so blieb alles ziemlich wie es gewesen, und das Privatleben gestaltete sich nach gewohnter Weise. Nur der Zeitgeist und manche, wie es anfangs schien, unbedeutende Veränderung im täglichen Verkehr brachten nach und nach bedeutendere Umwälzungen in der geselligen Lebensweise hervor und auseinanderfallend, wie so[314] manches, was früher in unsern Begriffen und Gemütern fest und kompakt aneinandergehalten hatte, zersplitterten sich die verschiedenen Kreise der Bevölkerung. – Nicht bloß durch den Unterschied in Aristokratie der Geburt oder des Geldes, im Gegensatze mit dem bürgerlichen Leben, nein, selbst in Mitte der stillen Häuslichkeit erzeugten die veränderten Amtsstunden in Kanzleien und Comptoiren, die neuen Einrichtungen bei der Aufgabe der Briefe, endlich selbst die Abfahrts- und Ankunftsstunden der Eilwagen und Dampfboote, eine ganz veränderte Einteilung des Tages. Hierzu kam noch, daß viele ältere Einrichtungen, z.B. die Stunden für Schulen und Kollegien, sowie fürs Theater, beinahe dieselben blieben, und so kam eine Vielgestaltigkeit und Unbestimmtheit in den Tageslauf, die zwar keine wesentlichen Nachteile, aber doch viel unangenehme Störungen erzeugten. Es wurden die Eßstunden außerordentlich ungleich, und von 1 bis 6 und selbst halb 7 Uhr konnte man in verschiedenen Häusern die Familie bei Tische finden. Dies späte Tafeln machte die Déjeunés à la fourchette notwendig, indem man nicht leicht von 8 oder 9 Uhr morgens bis 5 oder 6 Uhr abends aushalten konnte, ohne etwas zu sich zu nehmen, und so erzeugten sich eine Menge Differenzen und Kollisionen. In einigen Häusern ließ man die Dienstboten vor der Herrschaft essen, weil es sonst zu spät geworden wäre, in den Häusern alter Art aßen sie nach derselben. Für die studierende Jugend mußte bei der grellen Verschiedenheit zwischen der altmodischen Schul- und Theaterzeit und den modernen Eßstunden wieder eine andere Einrichtung getroffen werden, und so irrt das alles noch, wie mir scheint, ziemlich chaotisch durcheinander, bis im Verlauf[315] mehrerer Jahre die Unterschiede aufhören, die alten Gewohnheiten nach und nach ganz verschwinden und die neue Gestaltung des geselligen Lebens überall durchgreifen und allgemein herrschen wird. Daß Menschen, die drei Viertel oder sieben Achtel ihres Lebens auf die alte Weise zugebracht, sich in diese Zustände und Gewohnheiten hineingelebt haben und mit ihnen gleichsam eins geworden sind, sich nur mit Mühe und widerstrebend in das Neue fügen und es überall unbequem finden müssen, ist wohl auch natürlich, und so wird es ihnen billigerweise nicht übelgenommen werden, wenn sie in der Unruhe und Geschäftigkeit dieses neuen Aufbaues rings um sie her wenigstens darauf hoffen, daß sie diese Neuerungen nicht mehr lange werden mitzumachen haben.


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Zwischen den Jahren 1833 und 1835, wie ich glaube, war es, daß ich bei einer sehr werten Freundin Fräulein v. Isenflamm den als Dichter, Schauspieler und Mensch gleich interessanten Raimund kennen lernte. Fräulein Isenflamm, die Schwester der Frau von Piquot und eine treue, warme Freundin unsers verehrten Freundes Streckfuß in Berlin, war auch, wie das leider ältern Menschen öfters geschieht, von ihrem ganzen Hause allein übrig geblieben. Marie, das treffliche Mädchen, ihre Nichte, war schon im Jahre 1822 am Nervenfieber gestorben, ihr Bruder Karl folgte ihr ein Vierteljahr darauf, und die armen Eltern blieben kinderlos zurück. Aber bei dem ersten Erscheinen der Cholera im Herbst 1831 starb der Vater Piquot und ein halbes Jahr darauf seine Frau, Theresens Schwester – und es stand vielleicht nicht zwei Jahre an, so raffte[316] die Grippe, die dazumal sehr bösartig war, den Bruder derselben, Herrn von Isenflamm weg, mit dem die Schwester seit langem zusammen gelebt und gewohnt hatte. Die Arme blieb einsam zurück, das bedeutende Vermögen, das durch so viele Todesfälle an sie gelangt war, konnte sie nicht recht erfreuen, sie kränkelte immer und nur der Umgang mit einem vieljährigen Freund, Herrn Schonner, der schon während ihres Bruders Leben mit ihnen zusammen gewohnt hatte, war noch das einzige Band, das sie an die fremdgewordene Welt knüpfte.

In ihrem Hause lernte ich denn Herrn Raimund, der Schonners alter Freund war, kennen, und sowohl Pichler als ich fühlten uns von seiner Persönlichkeit sehr angezogen. Seine Gestalt erinnerte an Grillparzer, und schon dieser eine Umstand sprach bei uns zu Raimunds Vorteil. Im Verlauf der Unterhaltung aber offenbarte sich ein so tiefes und anspruchsloses Gemüt, eine so herzliche, einfache Weise sich auszudrücken, daß er meinem Manne und mir Achtung und Wohlwollen einflößte, und wir nur im stillen bedauerten, daß bei ihm ebensowenig als bei Grillparzer auf einen bleibenden freundschaftlichen Verkehr zu hoffen war; denn diese beiden ausgezeichneten Menschen glichen sich, wie in schönen geistigen Anlagen und einer seltener Gemütstiefe, auch an trüber hypochondrischer Laune, welche sie jeden Umgang fliehen machte.

Später sahen wir Raimund bei Fräulein Isenflamm noch ein paarmal, einmal besuchte er auch uns, speiste bei uns mit Frankl und schien ungemein viel Freude an den Kindern meiner Tochter zu finden, die denn auch ihrerseits sich kindlich freimütig mit ihm unterhielten. Als er in der Josefstadt Gastrollen spielte,[317] erhielten wir durch seine Vermittlung ein paarmal Logen, die sonst schwer zu bekommen waren, und als er als Valentin (im Verschwender) erschien und unsere Kinder dem berühmten Mann, der so freundlich mit ihnen gewesen war, zuklatschten, blickte er herauf und lächelte ihnen gütig zu, worüber sie sehr erfreut waren.

Im Sommer 1835 brachten wir wieder die beiden Monate August und September in Baden und zwar wieder im Hause bei der Landschaft zu; aber wieder, wie fast jedesmal, wenn wir in dieser Gegend, in der Nähe des Baches wohnten, fühlte ich eine unangenehme Einwirkung der Luft oder des Trinkwassers, ich weiß es nicht – auf meine Gesundheit. Ich litt wieder im Unterleibe und mußte mich im Essen und Trinken und auch vor Verkühlung sehr in acht nehmen. Doch waren Pichler, die Tochter und die Kinder recht wohl, und wir kehrten vergnügt von Baden in die Stadt zurück. Kaum aber waren wir acht oder zehn Tage in der Stadt, so wurden wir durch ein Ereignis erschreckt, das an und für sich schon sehr beunruhigend, uns mit noch bangeren Ahnungen für die Zukunft erfüllte. Pichler stand eines Morgens, wie es schien, wohl und gesund auf, ging in sein Zimmer, um sich anzukleiden, kam dann wieder zu mir herüber, die ich noch im Bette lag, und erzählte mir mit ganz heiterer Miene, daß ihn heute Nacht ein Schlagfluß getroffen habe. – Ich erschrak, wie natürlich; da ich Pichler aber so heiter und kräftig wie sonst vor mir stehen sah, hielt ich es für Scherz, aber für unerlaubten, und sagte es ihm auch, daß dies Frevel sei. – Er aber versicherte mich dessen noch einmal, und nun glaubte ich auch ein kleines Hemmnis in seiner Aussprache zu bemerken. Sehr bestürzt drang ich in ihn, zu Hause zu bleiben und den[318] Arzt rufen zu lassen. – Er aber ließ sich nicht abhalten und ging in sein Bureau. Sobald er das Haus verlassen, schrieb ich an unsern Arzt und Freund B. Türkheim, der zum Glück noch zu Hause war, und mit seiner gewohnten Güte erhörte er sogleich meine Bitte, eilte zu Pichler ins Bureau, fand ihn aufgeregt, mit starkem Andrang des Blutes gegen den Kopf, und bewog ihn, sogleich nach Hause zu fahren und nach seiner Angabe, die er ihm schriftlich mitgab, sich behandeln zu lassen. So wurden ihm denn im Nacken Egel gesetzt, Sinapismen, Fußbäder usw. gebraucht, und in der Tat hatte sich in wenigen Tagen der Andrang des Blutes gelegt, die übrigen furchtbaren Symptome waren verschwunden, und wir atmeten wieder freier. Doch blieb in unser aller Herzen eine große Besorgnis wegen möglicher Wiederkehr dieses Übels zurück, das sich nur zu gern wiederholt, und leider sollten wir – wenn auch erst zwei Jahre nach diesem Anfall – unsere Sorge nur zu wohl begründet finden! –

Ein vieljähriger Freund in Prag, Herr Gerle, schickte uns diesen Winter einen sehr jungen Mann, dessen er sich mit lebhaftem Interesse annahm, Herrn Uffo Horn, mit einem Briefe zu. Der Jüngling schien Geist und ein hübsches Talent zur Dichtkunst zu haben, auch war sein Äußeres empfehlend. Aber schon im ersten Gespräch sah ich das junge Deutschland und den Tatendurst der Studentenwelt aus jedem Worte hervorgucken, so daß ich mich nicht entbrechen konnte, ihm zu sagen: Tatenlust und Eifer für das, was ihr gut schiene, möchte die Jugend wohl haben und gelegentlich auch beweisen; frei aber und bloß nach ihrer Willkür handeln zu dürfen, könnte sie doch wohl nicht fordern, weil es ihr bei allen Talenten doch[319] noch an Erfahrung mangle. Er nahm das freundlich hin, kam auch noch öfters zu uns und schrieb für den Telegraphen (ein Journal, das damals entstand, aber nach 18 Monaten wieder zu Grabe ging) einige artige Aufsätze, in deren einem er meiner mit mehr Lob, als mir gerade angenehm war, gedachte, weil dies oft nur Unwillen bei andern erregt. Später ließ er ein Stück: »Die Vormundschaft«, das er mit Gerle gemeinschaftlich gedichtet hatte, mit ziemlichem Beifall aufführen, schloß sich eng an Herrn Saphir an, was ich ihm ebenfalls widerriet, kam in Händel mit der Zensur und Polizei; verlor sich aus unserer und unserer Bekannten Nähe, und verschwand endlich auch aus Wien. Nach einiger Zeit kam er in Hamburg bei Gutzkow wieder zum Vorschein, und spielt nun wahrscheinlich seine Rolle unter den sogenannten jungen Deutschen oder deutschen Jungen – einer Menschenart, die für mich etwas so Widerwärtiges hat, daß ich mich nie, auch nur von fern damit befreunden konnte. Ihr ganzes Streben, sobald es aus dem Kreis der Burschenschaft in die Wirklichkeit, ins Staatsleben treten wollte, oder wie im Hambacher Fest und in ähnlichen Explosionen wirklich ins Leben getreten war, kam mir stets wie eine bedauernswerte Verblendung vor, vermöge welcher sich Knaben und unerfahrene Jünglinge Männer zu sein dünken; das, was sie nicht zu übersehen imstande sind, nicht allein zu beurteilen, sondern zu verändern, zu bessern sich anmaßen, und darum, weil sie bei der Juliusrevolution in Paris durch Pflastersteinaufreißen und mutiges Kämpfen mitgewirkt haben, sich einbilden, die Revolution gemacht, geleitet, vollendet zu haben, und in Deutschland dasselbe tun möchten.[320]

Der Winter von 1835–1836 verging im ganzen ziemlich ruhig, was das äußere Leben betraf, aber es schien, als ob aus einer Zusammenstimmung verschiedener unbekannter Ursachen der Tod durch den Verlust vieler werten Freunde sich mir in diesem Jahr auffallend nähern, und mich auf einen noch herbern Todesfall, der nicht mehr lange ausbleiben sollte, vorbereiten wollte. Im Mai starb nach langem Krankenlager und vielen Leiden die Baronin von Richler, eine Frau, mit der ich mehr als 30 Jahre in engem Freundschaftsbunde, und durch einige Zeit selbst in einem Hause gelebt, sie fast täglich gesehen und mich ihres geist- und gemütsvollen Umgangs stets erfreut hatte, obwohl unsere Sinnesart wenig Ähnlichkeit hatte, und die meisten Dinge, so wie hauptsächlich die Erscheinungen in der neueren Literatur uns beide auf ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Weise berührten. Ihre Geistesbildung war zwar in der nämlichen Epoche (denn wir waren gleichaltrig), aber auf ganz verschiedenem Wege bewirkt worden. In Heidelberg von mittelmäßig begüterten Eltern geboren und still, ohne vielen Unterricht, bloß für Häuslichkeit erzogen, aber mit einem lebhaften Geiste und warmem Gefühl fürs Schöne begabt, waren es zuerst Romane und Gedichte, welche den Funken höherer Bildung in ihre Seele warfen. Lafontaines Gefühlswelt ging zuerst wie eine Sonne in ihrem und ihrer Schwestern Gemüte auf; Matthisson, Salis, später Goethe, Schiller und andere nahmen Platz in dem erhellten Raume, aber sie alle erschienen mehr oder minder in dem Reflex des Lafontaineschen Lichtes, sowie die Welt überhaupt; und wir übrigen pflegten oft im Scherz zu sagen, daß bei Frau von Richler und ihren Schwestern nur die[321] Handlungen, Empfindungen, Gesinnungen als zulässig und gesetzmäßig betrachtet würden, welche mit Lafontaines Romanen übereinstimmten. Von Goethes Werken ging ihnen nichts über Werther und Tasso. – Don Karlos stand in ihrer Meinung viel höher als Wallenstein oder Tell – und das Unnatürliche oder Geisterhafte störte sie nur wenig, während sie irgend eine wahre Naturäußerung, z.B. im Götz von Berlichingen oder in Wallensteins Lager beleidigte. Von der bezauberten Rose von Schulze, die übrigens in der Welt ein sehr ephemeres Dasein hatte, waren sie auch bezaubert und die Schuld erfreute sich ihres ungemessensten Beifalls. Hingegen war es ihnen nicht möglich, an der Poesie der Psalmen das geringste Interesse zu fassen, und irgend ein ungewöhnlicher, echt orientalischer Ausdruck schreckte sie auf immer zurück, so wie sie auch Öhlenschlägers Werken durchaus keinen Geschmack abgewinnen konnten, eben weil einige grellere Worte darin vorkommen.

Aller dieser Dissonanzen ungeachtet, achteten und liebten wir einander herzlich, unsere Gesinnungen und Grundsätze begegneten sich einander nicht im Lafontaineschen, sondern im Lichte tüchtiger Menschheit, und so stand unsere gegenseitige Achtung und Freundschaft fest durch mehr als 30 Jahre. Gemeinschaftlich getragene Sorgen und Leiden, sowie gemeinsam genossene Freuden verbanden uns stets inniger, und es war ein wahrer Verlust für mich, als Frau v. Richler starb; aber es war ja nur der Anfang einer ununterbrochenen Kette ähnlicher Fälle. Schon seit einiger Zeit fühlte mein Schwager Kurländer (Franz) zunehmende Beschwerden eines Übels, das er sich selbst nicht erklären konnte oder wollte, das uns übrigen[322] aber zu unserer großen Besorgnis apoplektische Symptome zu haben schien. Zuweilen konnte er sich nicht mehr auf das besinnen, was er kurz zuvor getan oder gewollt hatte, zuweilen versagten ihm die Worte, um auszudrücken, was er beabsichtigte, und das Alltäglichste fiel ihm nicht ein. Beim Spiel, das er mit ebenso großem Eifer als Glück als seine Lieblingsbeschäftigung trieb, und das ihm – auf eine sonst ganz ungewöhnliche Weise den Zutritt in den Häusern der Großen und des höchsten Adels öffnete – verließ ihn manchmal die Besinnung, und er spielte so töricht, daß ihn seine Mitspielenden ermahnen mußten. Uns allen kamen diese Zustände bedenklich vor, wir baten und beschworen ihn, seinen Arzt zu befragen, aber der gute – dem Weltverkehr und den Zerstreuungen zu sehr ergebene Freund konnte sich nicht entschließen, vielleicht, ja wahrscheinlicherweise einen Ausspruch zu vernehmen, der ihn zum Zuhausebleiben, zum Zurückziehen, zu einer stillen Lebensweise verdammt haben würde, und so dauerten jene bedenklichen Symptome fort, und nahmen vielleicht durch die, eben um diese Zeit wieder ausbrechende Cholera einen bedenklicheren Charakter an. Denn das ist eine, sich jedem aufdringende Beobachtung, daß in den Epochen, wann diese Krankheit herrscht, in der Atmosphäre eine auffallende Veränderung vorgehen müsse, wovon schon die dichten, sonst in dieser Jahreszeit ungewöhnlichen Nebel, die bald ganz strahlenlosen und bald mit dem höchsten und dauerndsten, Krokusgelb gefärbten Sonnenuntergänge Zeugenschaft geben. Bald brach die Seuche mit Macht aus, und hatte wieder, wie schon die beiden ersten Male, gewisse Gegenden zu ihrem eigentlichen Herde ausersehen.[323] Zu unserm Unglück war es diesmal die Alservorstadt, und in dieser eigentlich der Umkreis des Platzes und Brunnens, wodurch denn auch wir mit in den verhängnisvollen Kreis gezogen wurden. Wirklich erkrankte zuerst eine sehr würdige Familienmutter, welche zu gleicher Zeit Vorsteherin einer Mädchenschule in unserm Hause war. Ihr folgten in kurzen Zwischenräumen ihre drei erwachsenen Kinder; das kleine Kind einer andern Mietspartei, und endlich eine hochbejahrte Frau, die, eine langjährige Freundin meiner verstorbenen Mutter, seit 24 Jahren bei uns gewohnt hatte. Es war eine schauderhafte Zeit damals. Kaum verging eine halbe Stunde, daß man nicht die Glöckchen des Chorknaben klingeln hörte, der den Priester mit den Sterbesakramenten zu irgend einem Kranken begleitete, oder daß in den Nachmittagsstunden ein Leichenzug durch die Straßen ging. – Später wurden, um das Entsetzen der übrigen Bewohner nicht zu vermehren, das Läuten auf der Gasse eingestellt und die Toten ohne Begleitung fortgebracht. Kein Tag verging, wo man nicht von dem Todesfall eines Bekannten in der Nachbarschaft hörte, die der vielen Unbekannten gar nicht zu rechnen. Bei uns allein hatte die Seuche sechs Opfer in einem Hause geholt. In einem andern gegenüber waren ihrer neun gestorben. Zwei sonderbare Bemerkungen hatte ich Gelegenheit zu machen, und ich denke, es wird nicht ganz überflüssig sein, wenn ich sie mitteile.

Alle sechs Personen, welche in kurzer Frist bei uns starben, wohnten auf einem Flügel des Hauses, und bedienten sich – nach der Bauart unsers Hauses, desselben heimlichen Gemaches in den beiden Stockwerken. Wir selbst und die Bewohner des rechten[324] Flügels hatten einen andern solchen Ort, und auf dieser Seite erkrankte niemand. – Auch hatte ich gleich von Anfang, als mir dieser Umstand aufgefallen war, meinen Leuten eingeschärft, sich niemals jenes Bedürfnisses wegen auf den linken Flügel zu begeben, und wir blieben alle gesund, obwohl sich hier und dort eine Neigung zur Diarrhöe gezeigt hatte.

Die zweite Bemerkung ist folgende: So lange die Cholera wütete, war es warm und trocken gewesen. An jenem Sonntag nachmittag, als unsere alte 90jährige Mitbewohnerin beerdigt werden sollte, brach um dieselbe Stunde ein heftiges Gewitter aus, mit Donner, Blitzen und Regen. Die Luft wurde merklich abgekühlt, und das zweite Kind jener Mietpartei, die schon eines an dieser Seuche verloren hatte und dessen Tod man stündlich erwartete, erholte sich gegen Mitternacht, bedurfte der Arznei, die man auf den äußersten Fall bereitet hatte, nicht mehr, besserte sich allmählich, genas endlich, und die Seuche ließ von diesem Tag an nach. Mich dünkt, diese beiden Bemerkungen zeigen wohl, wie oft durch Mangel an Beobachtung oder unvermeidliche Bedingungen die Seuche sich verbreiten kann und wie viel Einfluß die Luftbeschaffenheit darauf hat.

Allmählich reinigte sich die Luft, und gleichzeitig besserte sich die Gesundheit der Bewohner Wiens. Auf der Wieden war die Ansteckung ebenfalls sehr stark gewesen, und ich glaube, es wäre nicht unnützlich, einzelne Data über die Lokalitäten und deren Beschaffenheit, wo sich die Seuche am frühesten oder am stärksten gezeigt (wie z.B. im Jahre 1831 im Schottenviertel in der Stadt), über die Witterung, die Lufttemperatur usw. zu sammeln, und hieraus wenigstens[325] allgemeinere Beobachtungen und Ergebnisse zu notieren, die vielleicht doch einmal zu einigen Aufschlüssen über das furchtbare Rätsel führen könnten, an dessen tausend Schlössern die Natur- und Arzneikunde vergeblich seit beinahe dreißig Jahren in allen Weltteilen herumklimpert, ohne auch nur eines öffnen zu können.

Unser kränklicher Freund Kurländer war nun ernstlich und sehr bedenklich krank geworden. Eine Art Schlagfluß rührte ihn an einem warmen Juliusnachmittag, als er eben im Begriff stand, mit dem Dr. Bolza, mit welchem er schon früher eine Reise nach Paris und London gemacht, spazieren zu fahren. Von dem Augenblicke an ging sein Übel rasch vorwärts – und – sei es Delikatesse, sei es Abneigung gewesen, sich vor seinen Freundinnen in dem Zustand seiner Hülflosigkeit sehen zu lassen – weder ich noch seine Schwägerin (Maly Schechtern), noch selbst seine alte Freundin Gräfin Fekete wurden vorgelassen, und ich mußte mich begnügen, mich manchmal im Vorzimmer bei den Freunden, die ihn fleißig besuchten, wie z.B. eben jenem Dr. Bolza, nach seinem Befinden genauer zu erkundigen. Dr. Bolza erwies ihm wirklich kindliche Treue, und pflegte seiner Tag und Nacht, was Kurländer auch in seinem Testamente dankbar anerkannte.

Indessen während der letzten Hälfte des Julius und dem ganzen Augustmonat wechselte sein Zustand zwischen besser und schlimmer. – Es war die Rede vom Ausfahren, von nach Baden gehen, um die Trinkkur zu gebrauchen, wir hofften; – plötzlich verschwand der lichte Hoffnungsschimmer wieder, und wir mußten das Schlimmste fürchten.[326]

Wir waren indes, unserer Gewohnheit gemäß, nach Baden gezogen, und wohnten im Mayerschen Hause in Guttenbrunn, wo wir schon oft gewohnt hatten, und woselbst ich mich, das Cholerajahr 1831 ausgenommen, stets recht wohl befunden hatte. Auch diesmal würde mir der Aufenthalt gedeihlich und angenehm, gewesen sein, wenn nicht so manche trübe Vorfälle vorausgegangen wären und ihn begleitet hätten. Kurländers Krankheit bekümmerte uns alle, der Tod der B. Richler hatte mir sehr leid getan, es war eben wie der eine Gestalt aus der lieben Vergangenheit, in der ich so manche Freude genossen, so manchen Aufschwung des Geistes, so manchen Schmerz, so manche begeisternde Erhebung gefühlt, und deren Einwirkungen in dem trauten Freundeskreise, wozu die Richler gehörte, ausgebebt hatten. Auch Kurländer gehörte zu diesem Kreise, wir hatten vieles, Böses und Gutes, miteinander verlebt, wir hatten uns gegenseitig handeln gesehen, und unsere gegenseitige Achtung war dadurch – ich darf es wohl sagen – gewachsen. Nun war die eine geschieden, des andern Scheiden stand mir nahe bevor, und eben um diese Zeit erschreckte uns alle in Baden die Kunde von dem unglücklichen – und verfehlten Selbstmordsversuche des Schauspielers Raimund, der durch sein poetisches Talent, durch seine mimische Kunst einen europäischen Ruf mit Recht erworben hatte, und mit ebensoviel Recht um seiner Persönlichkeit, seines einfachen, wohlwollenden Charakters wegen allgemein geschätzt wurde. Nicht weit von Baden, auf seiner kleinen Besitzung zu Pernitz, in einem der lieblichen Täler des Schneeberges wohnend, wo er durch Wohltaten und Gutmütigkeit sich viele dankbare Herzen verpflichtet hatte, hatte er das[327] Unglück, eben wie er im Begriff stand, eine Reise nach Maria-Zell anzutreten, von einem Hunde gebissen zu werden, dessen Gesundheitszustand verdächtig war. Ein Mensch von kühlerer – von gefesselter Phantasie würde in diesem Augenblicke die Abreise aufgegeben, den Hund einsperren und genau beobachten lassen haben. Aber der Dichter fuhr nach Maria-Zell, – ließ den Hund zu Hause, und erfuhr bei seiner Rückkehr in Pottenstein, noch ehe er Pernitz erreichte, daß der Hund, der während der Zeit noch ein paar andere gebissen hatte, erschossen worden war. – Nun hatte des unglücklichen Dichters Phantasie volle Freiheit, sich allen Wahrscheinlichkeiten und Möglichkeiten einer verzweiflungsvollen Todesart zu überlassen – und – er faßte den furchtbaren Entschluß, allem diesen grauenhaften Elend durch Selbstmord zu entgehen.

Zu seiner Entschuldigung, ja ich möchte sagen zur Rechtfertigung und rührenden Ansicht dieses Entschlusses, will ich hier beifügen, was ich einige Monate nach Raimunds Tode von meiner Freundin, Fräulein Therese von Isenflamm, über ihn erzählen hörte. Raimund hatte (so erzählte Therese) von jeher eine entsetzliche Furcht vor dem Zustand der Wasserscheu gehabt, und mehr als einmal hatte er geäußert, daß man einen Menschen, der das Unglück gehabt hätte, von einem wütenden Hunde gebissen zu werden, auf der Stelle erschießen sollte, um andere Menschen vor ähnlichem Schicksale zu bewahren. Und nun traf den Unglücklichen gerade dies Los, vor dem er so sehr gebebt! Es ist mir also mehr als wahrscheinlich, daß der Unglückliche eine heilige Pflicht zu erfüllen wähnte, wenn er in sich selbst einen Gegenstand der Gefahr und des Verderbens für andere aus der Welt schaffte.[328]

War die Pistole, womit er sich in den Mund geschossen, schlecht geladen; – zitterte des Selbstmörders Hand, indem sie den furchtbaren Entschluß ausführen sollte? – in schrecklicher Verirrung blieb die Kugel oben in der Hirnschale stecken, und namenlose Leiden des zerrissenen Körpers wie des denkenden, selbstbewußten Geistes mochten nun für den Unglücklichen beginnen, bis nach drei entsetzlichen Tagen der letzte Augenblick, endlich von Gott gesandt, diesen Qualen ein Ende machte. Die näheren Umstände dieser grauenvollen Geschichte erfuhren wir sehr zuverlässig durch Dr. Rollett, den man sogleich nach Pottenstein zu dem Unglücklichen gerufen, und der ihn dann wieder besucht hatte. Auch brachte Rollett ein Blättchen Papier mit herüber von Pottenstein, auf welches Raimund nach der entsetzlichen Tat und wie er sich wahrscheinlicherweise seines Zustandes deutlich bewußt geworden war, mit Mühe die Worte gekritzelt hatte: Gott anbeten! – Mich dünkt, diese zwei Worte, in dieser Lage geschrieben, machen die schönste Schutzschrift für den, von Phantasie und Angst betäubten Selbstmörder aus, und werden, vereint mit so manchem Zuge seiner Gutmütigkeit, auch vor Gottes Thron, der Herzen und Nieren durchforscht – vor dem Thron des barmherzigen, liebenden Vaters aller, seine Sache am besten geführt haben. Und in ihnen fand ich auch eine Bestätigung meiner Ansicht von den Beweggründen, die den Verstorbenen zu der entsetzlichen Tat bestimmt hatten. Nach seinem Tode erhob sich noch ein hitziger Streit zwischen seiner zurückgelassenen Familie und unserm Dr. Rollett, der sich bei der Sektion des Verstorbenen der Hirnschale, in welcher die plattgedrückte Kugel noch stak, bemächtigt[329] hatte und sie im Interesse der Wissenschaft, wie er sich in seiner Antwort an die Behörde ausdrückte, in seinem Museum aufbewahren wollte. Was endlich entschieden und ob die Hirnschale zurückgegeben worden, weiß ich nicht.

Abermals aber fand ich hier bei des armen Raimunds Tode bestätigt, was ich oft im Laufe meines Lebens beobachtet hatte, daß nämlich, nicht eben allen, aber vielen Menschen am Ende ihres Lebens der Himmel gerade das Leiden, die Sorgen und Entbehrungen zusendet, vor denen sie sich von jeher am meisten gefürchtet hatten. Und ich fand die Bekräftigung einer Ansicht Fénélons in dieser Erfahrung, der sagt:

Souvent ce que nous offrons à Dieu n'est point ce qu'il veut le plus de nous. Ce qu'il veut le plus, c'est ce que nous voulons le moins lui donner, et que nous craignons qu'il ne nous demande. C'est cet Isaac, fils unique, bien aimé, qu'il veut qu'on immole sans compassion. – O wie oft habe ich diesen harten, aber wahren Ausspruch an vielen bewährt gefunden, denen Gottes Ratschluß gerade jenen Stand der Dinge oder jenes körperliche Leiden zusendet, das ihnen von jeher das Schwerste zu ertragen geschienen hatte. Es war eben cet Isaac ce fils bien aimé, der rücksichtslos geopfert werden mußte.

Kurländers letzte Stunden waren indes auch gekommen. Zwar hatte man ihm, wie oben gesagt worden, Hoffnung auf Besserung gemacht, ja, es war sogar eine Weile die Rede davon gewesen, daß er mit Bolza nach Baden kommen sollte; aber wahrscheinlich war dies nur zu seiner Beruhigung gesagt worden, oder es war eine plötzliche Verschlimmerung eingetreten – kurz, er starb am 6. September und hinterließ ein[330] Testament, in welchem er fast alle seine Freunde und Verwandten mit größern oder kleinern Andenken in Effekten oder in Geld bedachte, und so seiner Sitten Freundlichkeit dadurch bestätigte. Wirklich weiß ich wenig Menschen, die im Gewühl der großen Welt, unter lauter nichtigen Beschäftigungen, in Berührung mit so verschiedenartigen, meist hohlen, zerstreuungssüchtigen, überreichen, überstolzen, übermütigen Leuten, wie sie die haute volée und die Geldaristokratie häufig darbieten – (ohne daß ich diese Schilderung auf diese beiden Klassen ohne Ausnahme ausdehnen möchte, unter denen ich selbst viele Verehrungswerte kenne), so viel reinmenschliche Gefühle, so vielen Sinn für einfache Freuden, für Familienbande usw. bewahrt hätten, als unser unvergeßlicher Freund Kurländer. Trotz eines, in lauter Zerstreuungen hingebrachten Lebens war er davon nicht blasiert worden; jede neue Erscheinung, jede einfache Freude, sowie jede geräuschvolle Unterhaltung fand Anklang in seinem Herzen, er gab sich ihnen offen hin, und beobachtete nur mit einer Sorgfalt, von der ich nicht weiß, ob ich sie mehr seinem guten Herzen oder seiner Klugheit und Welterfahrung beimessen soll, jede Regel der Schicklichkeit, jede Rücksicht, jede Schonung gegen andere, so daß er ja niemals etwas tadelnd erwähnte, was in einem der vielen Häuser vorging, mit denen er in Beziehung stand, nie eine noch unverbürgte Neuigkeit verbreitete, keiner lieblosen Auslegung sein Gehör lieh und so bis an seinen Tod mitten im Gewühl der Welt das Kleinod seines bessern Ichs treu und fleckenlos erhielt. Uns allen, mit denen alte Freundschaft von Kindheit auf und später Verwandtschaftsbande ihn verbanden, bewahrte er diese Zuneigung bis an[331] seinen Tod, hinterließ Pichlern und meinen Enkeln ein kleines Legat in Geld, mir ein Etui mit Silberbestecken, und verordnete noch überdies, daß Herrn Korn, dem Hofschauspieler, einem vieljährigen Freund und Bekannten von uns allen, und mir jedem 500 fl. C.M. übergeben werden sollten, um Arme damit zu bedenken. Er dachte überhaupt sehr menschenfreundlich, und noch während seines Lebens waren viele Wohltaten von ihm durch meine Hände an verschämte Arme gelangt. So geschah es auch mit den 500 fl., aber es gab manche lächerliche und manche ärgerliche Auftritte, viel unbescheidenen Überlauf und manche Erfahrung tiefen Elends, bis diese Summe nach bestem Wissen und gehöriger Würdigung der Dürftigen verteilt war.

So war denn dieser Freund auch von uns geschieden, der durch mehr als 40 Jahre ein treuer Teilnehmer all unserer Leiden und Freuden gewesen war, von dem wir mit Sicherheit wußten, daß alles, was uns begegnete, antwortende Empfindungen in seiner treuen Brust wecken würde, der unsere kleinen häuslichen Feste froh mit uns beging, nie eines, und wenn es des kleinsten Kindes Geburtsfest war, versäumte, manche glänzende Einladung dahinten ließ, um nicht bei unserer häuslichen Freude zu fehlen, und sich durch kleine Geschenke, Aufmerksamkeiten und stets heitere Gefälligkeit Allen lieb und wert machte. Wer kann, wer soll uns einen solchen Freund ersetzen? – und zumal in höhern Jahren, wenn das Herz durch manche bittere Erfahrung scheu oder kalt gemacht, sich nur schwer an spätere Bekannte anzuschließen vermag.

Im November desselben Jahres befiel mich ein langes, und wenn auch nicht schmerzhaftes oder bedenkliches,[332] doch auf jeden Fall ein sehr unangenehmes Übelbefinden. Meine Nerven waren angegriffen; – Türkheim und Dr. Seeburger, unser nachbarlicher Arzt, zu dem wir immer zuerst unsere Zuflucht zu nehmen pflegten, weil der ältere Freund weiter entfernt von uns wohnte, gaben mir allerlei Arzneien, rieten mir, auszugehen, mich in der Luft zu bewegen; – es wollte nichts anschlagen, und wenn ich auch, einige Tage ausgenommen, die ich im Bette zubringen mußte, wohl nicht eigentlich krank war, fühlte ich doch, daß meine Gesundheit erschüttert worden, und allerlei störende Symptome und Empfindungen eingetreten waren. Eines Morgens, nachdem mir den Tag zuvor – zum erstenmal in meinem langen Leben – eine Blutentleerung, und zwar durch Egel, war gemacht worden, die auf meine Nerven beunruhigend und doch auch abspannend wirkte – erzählte mir B. Türkheim ohne alle Vorbereitung, daß in der vergangenen Nacht die alte Gräfin Chorinsky, die Witwe des Kammerpräsidenten, am Schlagfluß gestorben sei. Er wußte wohl nicht, und konnte es wahrscheinlich nicht wissen, daß wir Jugendfreundinnen, daß sie mir, obwohl unsere Lebensverhältnisse und Bahnen sehr divergierend gewesen, noch immer lieb und wert geblieben, wie ich sie denn wirklich noch den Sommer vorher, wo sie auf kurze Zeit zu Baden im Sauerhofe gewohnt, oft gesehen und gesprochen hatte. Wie ein elektrischer Schlag, der uns auf einmal in allen Gelenken lähmend trifft, – so erschütterte mich diese Kunde von dem so wenig geahnten Tode meiner Jugendfreundin, die ich erst ein paar Wochen vorher gesund und wohl gesehen und heiter verlassen hatte. Vielleicht trug der krankhafte Zustand, in welchem ich mich damals befand,[333] viel bei, ein Ereignis, das mich jederzeit betrübt haben würde, jetzt so erschütternd zu machen. Ich fühlte, wie meine Kraft gebrochen war, ich wollte in die Stadt gehen, – denn Türkheim drang immer auf Bewegung in freier Luft, – aber auf die Freiung gelangt, mußte ich in einen Wagen steigen und nach Hause fahren, denn meine Füße trugen mich nicht mehr, und dieser Zustand von Schwäche und Reizbarkeit dauerte mit wechselndem Besser- und Schlimmerbefinden gegen drei Monate.

Sophiens Tod (so hieß Gräfin Chorinsky) hatte heftig, wie schon gesagt, auf mich gewirkt; – unsere Jugend, alle trüben und frohen Ereignisse in jener und den nachfolgenden Lebensperioden – traten wieder hell vor meine Phantasie. Ihres verstorbenen Gemahls Bild, dieses vortrefflichen, in jeder Beziehung achtungswürdigen Mannes, stellte sich mir lebhaft dar, mit ihm alle jene jugendlichen Verhältnisse zwischen ihm, meinem Manne und meinem Bruder, deren Freund und Bruder er gewesen –, und eine tiefe Wehmut ergriff mich. Ich dichtete eine Strophe, die so hieß:


So bist du tot – und bist dahin gegangen,

Wo schon so viele deiner Lieben sind;

Wo Eltern, Schwestern, Brüder dich empfangen,

Und manches teure heißbeweinte Kind.

Und der Gemahl, die Liebe deiner Jugend –


Weiter kam ich nicht, und selbst diese kleine Anstrengung wurde mir zu einer erschöpfenden Aufregung, so wie sie aus einer eben solchen Aufregung entstanden war.

Endlich beruhigte sich auch dieser Sturm wieder, und allmählich besserte sich mein krankhafter Zustand im ganzen, ich fühlte meine Kräfte wiederkehren; aber ebenso bestimmt fühlte ich auch, daß ich mich[334] nicht mehr wie vorher auf meine Gesundheit verlassen könne, daß ich mich vor manchem, was ich sonst getan, gewagt hatte, in acht nehmen, und manche Vorsichtsmaßregel, die ich sonst als überflüssig, trotz meiner Jahre, hatte betrachten können, jetzt und künftig noch mehr beobachten werde müssen. Mit einem Worte: die Jugend und selbst das kräftige Alter war von dem Schwesterlein fein geschieden, und das höhere Alter mit seinen Beobachtungen, diätetischen Vorschriften und unzureichenden Kräften, die jeden Augenblick uns einen Dienst versagen und an unsere hohen Jahre erinnern, war nun auch für mich gekommen. Noch aber mußte ich Gott danken, daß die Veränderung so gemach, ohne große Erschütterung geschehen, und mir für ein stilleres Leben und Walten genugsame Heiterkeit und mit ihr die Ruhe gelassen hatte, dem Lebensende, das sich nun allmählich immer mehr zu nähern schien, und auf das jeder Verlust eines befreundeten Wesens mich mahnend hinwies, mit Ergebenheit, wo nicht mit frohem Gefühl entgegen zu sehen. Wer war mir nicht schon aller vorangegangen? Wie viel treue, liebende, heißbeweinte, mich ganz verstehende Seelen waren schon dort versammelt, wohin ich nun auch bald zu gehen überzeugt war und wo diese auch mich liebreich empfangen sollten? Dies ist eine sehr natürliche Betrachtung, die sehr geeignet ist, uns das Weggehen aus dieser Welt zu versüßen und die doch von so wenigen beherzigt wird.

Das Jahr 1836 war nun mit allen seinen trüben und einigen heitern Stunden vorübergegangen. Es hatte aber, ich möchte sagen, als Bodensatz aller Sorgen, Bitterkeiten und Schmerzen, die es mir gebracht, noch eine gar trübe Spur in meinem Innern zurückgelassen,[335] die mein Gemüt auf eine, vielleicht noch drückendere Weise belästigte, da ich zu niemanden um Hilfe oder auch nur Beruhigung mich wenden konnte, und das Übel, so wie es in mir von sich selbst entstanden war, nun auch bloß innerlich und bloß auch von mir selbst geheilt werden konnte.

Schon in meinen frühern Jahren, als ich kaum zwanzig Jahre oder wenig darüber zählte, hatten, wie sich der Leser dieser Blätter vielleicht noch erinnert, die Schriften mehrerer Franzosen und einiger Deutschen in jener sehr irreligiösen Zeit, die man die aufgeklärte nannte, einen ebenso mächtigen als verderblichen Eindruck auf mein Gemüt gemacht. Mein Gefühl war aufs tiefste verletzt, als die Gegenstände meiner bisherigen, kindlich frommen Verehrung nach und nach unter dem kalten, zersetzenden Licht allzukühner Forschungen zu schwanken anfingen und mir zu entschwinden drohten. So gewiß es ist, daß die Religion Sache des Glaubens, folglich des Gemüts ist, so wenig sich auf diesem Felde mit Beweisen und mathematischen Sicherheiten streiten läßt, um so gefährlicher sind solche Gesinnungen, Bücher, Gespräche für junge Gemüter, die das Täuschende vom Wahren, das Flüchtighingespiegelte vom Bleibenden nicht zu unterscheiden, und die tiefe Wahrheit des Satzes, den ich irgendwo gelesen, nicht zu erkennen vermögen, »daß das Resultat und der Eindruck des großen Ganzen um uns her Glaube an Gott ist, und der Zweifel nur aus einem sublimierten Teilchen aufsteigt«. Es ist daher ein Unglück, daß solche Bücher geschrieben worden sind und noch geschrieben werden, und es ist Pflicht jedes Erziehers, wie ich glaube, die ihm anvertrauten jungen Seelen von diesem Gifte so fern als möglich zu halten,[336] bis ihr Verstand reif genug ist, um durch die Nebel einer blendenden Sophistik den echten Kern der Wahrheit dennoch zu erkennen und an ihm festzuhalten. Wie oft mußte und muß ich noch eines Epigramms von Pfeffel – wenn ich nicht irre – gedenken, das unter der Regierung Kaiser Josefs II. in einem Journale erschienen, und so lautete:


Hans Affe steckt' einst einen Wald

Von Zedern nachts in Brand,

Und freute sich ganz ungemein,

Als er's so helle fand!

Seht, Brüder, seht, was ich vermag,

Ich – ich verwandle Nacht in Tag!


Die Brüder kamen allzumal,

Bewunderten den Glanz,

Und alle fingen an zu schrein:

Hoch lebe Bruder Hans!

Hans Affe ist des Nachruhms wert,

Er hat die Gegend aufgeklärt!


Wie viele Zedernwälder frommen Glaubens, der Ruhe im Leben und des Trostes im Tode sind auf die ebengesagte Weise durch die sogenannte Aufklärung niedergebrannt worden! und derjenige, der sich einmal aus diesem Brand gerettet, wird doch, wie im Evangelium steht, immer wie einer sein, der dem Feuer mit Not entkommen ist. Jene freudige Zuversicht, jene Sicherheit des für Wahrhaltens, die keinen Zweifel zuläßt, die nur durch Lehre und Beispiel eingeflößt und mit steter Wachsamkeit in jungen Seelen erhalten wird, ist für ihn doch schon erschüttert. Sehr weise und zweckmäßig gibt Hufeland den Eltern, vorzüglich den Müttern, den Rat, die religiösen Gefühle, Begriffe und Lehren so fest in die Seelen der Kinder zu pflanzen, daß sie sie gleich angebornen Ideen nie mehr abschütteln oder sich rauben lassen können.[337]

Ich selbst sollte in späten Jahren noch einmal diese bittere Erfahrung machen. Es war im Winter 1836 bis 1837, als durch die vielen pantheistischen Ideen, welche so häufig in den Schriften unserer jetzigen Philosophen und selbst der Dichter unserer Zeit gelehrt werden, zwar mein Glaube an einen persönlichen und selbständigen Gott nicht erschüttert wurde, der, von der Natur verschieden, das Schicksal der Welt nach seinen unveränderlichen Gesetzen lenkt und mit väterlicher Liebe überwacht; aber über die Beschaffenheit unserer Seelen, über die Fortdauer der Persönlichkeit nach dem Tode stieg doch dann und wann ein beunruhigender Zweifel auf, den ich, unerfahren in den eigentlichen Tiefen der Philosophie und Metaphysik, nicht in jedem Moment aufzulösen, und die irrenden Gedanken in die rechte Bahn zu weisen vermochte. Vielleicht konnte ich es auch in jener Periode weniger, weil meine Nerven durch die Kränklichkeit, die mich nun schon drei Monate gefangen hielt, angegriffen und aufgeregt waren, so daß jedes strenge Denken mich ermüdete. So schlich denn die trübe Zeit hin, trüb durch krankhafte Gefühle, durch die Erinnerungen an so manchen schmerzlichen Verlust, den ich im verflossenen Jahr erlitten, und trüb durch die unfreundlichste Witterung des ganzen Jahres, da im Dezember und Jänner die strenge Kälte mich an jedem Ausgang hinderte.


*


Ein Beichtvater ist nach meiner Ansicht für jedermann, der auf dem Wege des Heils weiterschreiten will, eine sehr wichtige Person, und zu wünschen wäre es, daß er – der Arzt der Seele – so wie der des Körpers[338] zu den nähern Bekannten, ja zu den Freunden des Hauses gehöre. Im alltäglichen Leben, bei gewöhnlichen Ereignissen, bei der Mahlzeit, bei angenehmen oder unangenehmen Vorfällen könnten diese beiden ihre Beobachtungen unvermerkt anstellen; um nicht erst dann, wenn ein moralisches oder physisches Übel ausbricht, im Beichtstuhl oder am Krankenbett davon unterrichtet werden zu müssen. Dann hätte der körperlich oder geistig Leidende nicht vonnöten, seine Krankheitsgeschichte zu erzählen und auf alle Symptome aufmerksam zu machen. Der Arzt hätte dann vielleicht schon längst den ersten Keim des Übels sich entfalten gesehen, ihm durch guten Rat entgegenzuwirken gesucht, und wenn dies nicht gefruchtet, sich doch imstand gesehen, das ausgebrochene Übel mit Kraft und vollkommener Kenntnis zu bekämpfen. Aber leider ist dieses wünschenswerte Verhältnis selten anzutreffen, und solcher geistiger wie leiblicher Ärzte, deren unfehlbare Diagnose, auf den ersten Blick die Natur des Übels und die Hilfsmittel dagegen erkennt, gibt es wenige. Mein unvergeßlicher P. Marcellian war ein solcher psychischer Arzt. Nach seinem Tode wählte ich dazu unsern damaligen Pfarrer P. Konstantin aus dem Minoritenorden, einen sehr frommen, sehr verständigen Mann, der auch meine Tochter getraut hatte, aber leider im Jahre 1831 als eines der ersten Opfer der Cholera gefallen war, und wenn er auch dem tiefgelehrten und gründlichen Menschenkenner Marcellian nicht gleich kam, verstand er es doch gut, meine geistigen Angelegenheiten zu leiten). Nach P. Konstantins Verlust versuchte ich es mit einigen sehr renomierten Beichtvätern in der Stadt, die man mir vorschlug. Aber teils die Entfernung derselben von meiner[339] Wohnung, die mir den nüchternen Besuch am Morgen beschwerlich machte, teils ihre Art, sich zu benehmen, sagten mir nicht zu, und so wählte ich endlich auf den Rat einer sehr verständigen Frau in unserer Nachbarschaft abermals einen Geistlichen aus unserer Pfarre, einen zwar noch ziemlich jungen, aber wohlunterrichteten, frommen Mann, dessen anständiges Betragen ihn sehr empfahl. Ihm hatte ich schon vor einiger Zeit die, von jenen pantheistischen Ansichten erregten, beunruhigenden Zweifel vertraut, er hatte mir recht verständige, aber allgemeine Ratschläge gegeben, weil er mich eben nicht so genau kannte, als ich es bei dem geistlichen Arzte für notwendig halte. Diese Ratschläge waren, wie gesagt, allgemein, daher für jeden Fall passend, aber für keinen einzelnen ganz auslangend, und so mußte ich meine innere Unruhe fort dulden, bis ich, nach dem Gebrauch, den ich seit der Lesung der Philothée von François de Sales angenommen hatte, alle Monate einmal, sofern es die Umstände gestatteten, zur Beicht und zum Tische des Herrn zu gehen, bei milder gewordener Witterung und gebesserter Gesundheit es vermöchte, dieser Gewohnheit zu folgen. Sobald dies geschehen konnte, führte ich es aus. Ich verrichtete meine Beichte mit aller möglichen Sammlung, empfing ebenso das heilige Abendmahl, und – (mag auch ein Spötter über dies Geständnis lächeln, ich weiß doch, daß wahrhaft fromme Seelen es glauben und sich daran erbauen werden) – und fühlte mich gleich darauf durch eine selige Ruhe erquickt. Nie – einzelne Augenblicke im Freien, in einer schönen Gegend zuweilen ausgenommen – hatte ich vor dieser Beichte eine so bestimmte Empfindung von der Gegenwart, der Nähe Gottes[340] gehabt, die mich wohltätig erhebend, selbst körperlich – möchte ich sagen – beseligend umfing. Dieses Gefühl kam mir von nun an, wenn ich still und gesammelt in meinem Zimmer beten konnte, oder auch einsam mich im Freien befand, oft wieder, und zuweilen dünkte es mich auch, in meinem Innern eine Stimme deutlich zu hören, deren Worte mir, je nachdem meine augenblickliche Lage war, Trost, Rat, Beruhigung, Kraft zusprachen. Natürlicherweise sprach ich mit niemanden davon, denn solche Erfahrungen werden in der Mitteilung leicht mißverstanden und dadurch entheiligt. Wenn aber der, der sie gemacht, schon längst in einer bessern Welt ist und seine Worte nicht so leicht mißdeutet werden können, möge er sie späteren Lesern zum Trost und Frommen hinterlassen.

Fénélon sagt über eine solche begnadigte Stimmung sehr schön, indem er vom Reiche Gottes in uns spricht:

Heureux qui a des yeux pour voir ce royaume. La chair et le sang n'en on point. La sagesse de l'homme animal est aveugle lá-dessus, et veut l'être. Ce que Dieu fait intérieurement lui est un songe. Pour voir les merveilles de ce royaume intérieure, il faut renaître, et pour renaître il faut mourir.

Bei meiner nächsten Beichte erzählte ich dem Geistlichen die erwünschte Veränderung, welche ohne mein Zutun durch Gottes Gnade sich seit der letzten Kommunion in mir entwickelt hatte. Er hörte mich mit Aufmerksamkeit und froher Teilnahme an, und gab mir eine Antwort, die mich tief im Innersten ergriff. »Unstreitig«, sagte er, »ist Ihnen wegen dieser Veränderung Glück zu wünschen. Solche Wirkungen der Gnade sind wohl zuweilen freies Geschenk der Gottheit,[341] zuweilen aber auch Vorbereitung und Befähigung, um ein kommendes großes Unglück besser zu ertragen.« Ich war tief bewegt. Die Möglichkeit, welche er in Aussicht stellte, erhob sich düster vor meinem Geiste, ich konnte nicht erraten, was es sein würde, das Gott über mich schicken wollte, und da ich mich des freien Gnadengeschenkes in demütigem Gefühl meiner vielen Schwächen nicht würdig glaubte, so war mir die andere Alternative – das kommende Unglück – das bei weitem wahrscheinlichere. Aber eben diese selig fromme Stimmung, die mich seit einigen Wochen beglückte, gab mir Unterwerfung, und in dieser Unterwerfung die Kraft, das, was Gott, mein liebender, mich segensvoll umgebender Vater schicken würde, geduldig zu erwarten und zu ertragen.

Von jetzt an sann ich oft über solche Gegenstände nach. Das Gebet und seine Erhörung, die sich oft in wunderbarer Schnelligkeit folgen, öfters aber durch lange Zeiten der Prüfung getrennt sind; die verschiedenen Stufen der religiösen Erkenntnisse bei verschiedenen Völkerschaften und in verschiedenen Zeitperioden; – die Allgemeinheit der Gotteserkenntnis bei den zahllosen und oft unbegreiflichen Nuancierungen dieser Begriffe unter den Völkern alter und neuer Zeit, wie Geschichte, Geographie und Reisebeschreibungen sie uns schildern, machten sehr oft den Vorwurf meines Nachdenkens und Grübelns aus. Besonders beschäftigte mich der Gedanke von der Allgegenwart Gottes, von seiner Bewußtnahme der unzähligen Bitten, Seufzer und Zumutungen, welche in jedem Augenblick, in allen den zahllosen Weltkörpern (denn es läßt sich seine Gegenwart und Fürsorge doch nicht mit vernünftiger Wahrscheinlichkeit auf unsern[342] kleinen Erdball, diesen Punkt im Unermeßlichen, einschränken) an ihn gerichtet werden. Wenn ich so dies alles durchdachte und allerlei Möglichkeiten aussann, blieb ich doch zuletzt mit dem Gefühle der höheren Wahrscheinlichkeit, Bibelgewißheit und passenden Auslegung bei der Idee stehen, daß unsere Gebete in dem Maße Erhörung verdienen und dieselbe auch erhalten würden, als unsere Gedanken und Empfindungen sich inniger und höher zu Gott erhöben, je mehr wir dem Ausspruch des Erlösers in seinen Abschiedsreden gemäß, wie das Rebschoß sein würden, das fest am Rebstock haftet, nur von ihm Leben und Nahrung empfängt, wenn es aber getrennt ist, verwelkt und stirbt. So müßten unsere Seelen mit Christo vereinigt sein, und in diese Stimmung unmittelbarer Nähe und festen Haftens an dem Erlöser müßten wir uns versetzen, wenn unser Gebet fruchtbringend sein, wenn es erhört zu werden hoffen dürfe.

Die Frucht dieses langen und aufrichtigen Forschens war ein Aufsatz, den – seit den sechs Jahren, als er geschrieben worden ist – niemand gesehen und gelesen hat, weil ich für ihn nirgends – am allerwenigsten in einem unserer, so vielen Frivolitäten gewidmeten Journale – einen passenden Platz wußte; von dem ich aber glaube, daß er mancher wahrhaft frommen und kindlichen Seele zum Troste dienen könne. Daher möge er, um so mehr, als diese Blätter aller Wahrscheinlichkeit nach erst nach meinem nicht mehr fernen Tode erscheinen werden, hier stehen:


Das Gebet und seine Erhörung.


Wie unter allen Völkern des Erdbodens, zu jeder Zeitperiode und bei jedem Kulturgrade (einige dumpf- und stumpfsinnige Menschenherden, die unglücklichen[343] Feuerländer vielleicht, aber auch nur vielleicht, ausgenommen) Spuren von religiösen Begriffen angetroffen worden sind, welche nur, eben nach dem Kulturstande, mehr oder minder entwickelt waren, so hat auch jedes Volk die Vorstellung von einem Verhältnis oder Zusammenhang mit dem, deutlicher oder undeutlicher gedachten göttlichen oder wenigstens übermenschlichen Wesen, das es verehrte, in sich getragen, und auf mannigfache Art angeschaut und ausgebildet. Daher die Spuren der Opfer bis in die dunkelste Ferne der alten Geschichte; die Opfer Kains und Abels, das Opfer Abrahams, Melchisedechs usw. – endlich die weitverbreiteten Opfer des Polytheismus auf dem ganzen, durch die Geschichte bekannten Erdenrunde, welche bald in Früchten oder anderen Erzeugnissen des Pflanzenreiches, bald und am häufigsten aus Tieren verschiedener Art bestanden, ja, nicht selten – selbst bei den Verehrern des einzigen Gottes, sich bis zu Menschenopfern verirrten, wovon eben das beschlossene, obgleich nicht vollzogene Opfer Abrahams ein Beleg ist, und anzeigt, daß die Idee, Menschen zu opfern, den Erzvätern nicht ganz fremd war, und sie wenigstens gewohnt sein mußten, Beispiele davon unter den umwohnenden Völkerschaften zu sehen.

Diese Opfer, was sollten sie anders, als – einerseits die Abhängigkeit und Nichtigkeit des Menschen im Verhältnis zu jenen unbegriffenen und mächtigen Wesen dartun – andererseits diese, durch einen sehr naheliegenden Anthropomorphismus gleich Königen, Fürsten, Gewaltigen der Erde dem Bittenden günstig stimmen und zur Erfüllung der Wünsche der Opfernden vermögen? Bei diesen Opferhandlungen wurden denn auch Bitten vorgetragen, und der Bittende mußte[344] in seinem Sinne überzeugt sein, daß die Gottheit ihn höre, und wahrscheinlich erhöre; daß sie gnädig auf sein Opfer blicke, kurz eine wirksame Notiz von ihm und seinem Tun nehme. Daß dies das Götzenbild, wenn eins auf dem Altar des Opfernden stand, an sich und aus sich nicht vermöge, – das hat wohl wenigstens die klügere Menge der Polytheisten eingesehen. Sie haben nicht bloß vernunftgemäß geschlossen, sondern wohl gewußt, daß jener Stein, jenes Stück Metall oder Holz, welches eine geschickte oder ungeschickte Hand zu einem Götzenbild geformt, nicht wirklich die mächtige Gottheit selbst, sondern nur eine Repräsentation derselben sei, eine Nachhilfe für des Menschen Erinnerung, um sich das unsichtbare Wesen leichter als gegenwärtig vorzustellen, um sich mit der demütigen Bitte an den sichtbaren Stellvertreter desselben zu wenden. Solche Verirrungen und Mißgriffe, wenn der, in seinen Hoffnungen getäuschte Bittsteller seinen Unmut an dem Bilde, als an einem der Gewährung mächtigen Wesen, auszulassen wagte, werden wohl zur selben Zeit mannigfach vorgefallen sein, und ereignen sich noch jetzt – leider nicht bei Götzendienern allein! – Aber sie können nicht zum Maßstabe der Erkenntnis und des Glaubens für den Polytheismus alter und neuer Zeit dienen. Vielmehr zeigt sich in allen Schriften, welche aus diesen Religionen hervorgegangen sind, sie mögen nun aus dem klassischen oder orientalischen Altertum stammen, daß die Menschen an selbstbestehende, mächtige, göttliche Wesen geglaubt, welche sie sich bald mehr, bald minder menschenähnlich gedacht, an Wesen, welche der Schönheitssinn der Griechen in verherrlichter Menschengestalt darstellte; die der Hindu in frommer Erhebung[345] zum Unbegreiflichen mit so vielen Köpfen, Armen und Attributen ausstattete, als sein grübelnder Geist von den Eigenschaften der Gottheit zu fassen und darzustellen vermochte, wobei freilich die Schönheit des Gebildes nicht in Betracht kam. Ebenso die übrigen Völker nach ihrer Art. – Nur der Israelit allein – das einzige Volk der alten Welt, bei dem die Vorsicht, die Vorstellung eines einzigen Gottes zu erwecken und diese in ihm festzuhalten und zu bewahren, beschlossen hatte – dieses Volk allein hatte keine Bilder, ja es wagte kaum den Namen seines höchsten Wesens auszusprechen; aber es erkannte allein unter allen, tief und innig, von Gott selbst belehrt, sein richtiges Verhältnis zu ihm: seine Abhängigkeit, aber auch den Schutz und die väterliche, wunderbare Leitung, welche es durch unmittelbare Offenbarungen oder durch die Belehrungen von Gott erweckter Männer erhalten.

Alle diese Völker nun in alter und neuer Zeit kommen mehr oder minder deutlich darin überein:

1. Daß ein mächtiges, wo nicht allmächtiges Wesen vorhanden sei, von welchem die Welt und die Menschen, die in ihr leben, hervorgebracht worden sind.

2. Daß dies noch immer in selbstbewußter Kraft an dieser seiner Schöpfung, an den Menschen und ihren Schicksalen teil nehme.

3. Daß man durch Bitten (Gebete) sich an dies Wesen wenden dürfe, müsse, um die Erfüllung seiner Wünsche zu erhalten, und auch wohl Gaben darbringen solle, um entweder das gütige sich geneigt zu machen oder das erzürnte zu versöhnen.

4. Daß dies höchste Wesen die Tugend belohne und das Laster bestrafe, zuweilen schon in diesem Leben,[346] sicher aber nach dem Tode in einem andern, das sich jede Religion auf eigne Weise gestaltete.

Demnach muß in jeder dieser Religionen auch der Begriff enthalten gewesen sein, oder sich in ihnen herausgebildet haben, daß das göttliche Wesen unsere Gebete hören könne und müsse, um sie zu erhören; daß, da diese Gebete meistens leise, wohl gar bloß innerlich ausgesprochen wurden, die Gottheit von dem, was in der Seele des Beters vorgeht, unterrichtet, daß sie folglich allwissend und allgegenwärtig sein müsse. Wenn gleich der krasse Anthropomorphismus der römischen und griechischen Götterlehre, indem er auf einer Seite dem Schönheitssinn schmeichelt, auf der andern die Götter zum Menschen herabzieht und ihnen die Schwächen und Vergehungen der Menschen zumutet, die Gottheit nur um Weniges über die Menschheit stellte, so haben doch auch Griechen und Römer ihre Gebete an, ihre Lobgesänge auf die Götter gehabt, mit denen sie dieselben bei festlichen Gelegenheiten feierten, und wovon sich in ihren Schriftstellern genug Überreste finden. Freilich stehen diese Lobgesänge, so viel dichterisches Verdienst sie auch besitzen, tief unter der erhabenen Poesie der Psalmen, – ebenso tief, als der Begriff, von ihren ehebrecherischen, diebischen, trunkenen Göttern unter dem Bilde steht, das Moses, die Propheten und Psalmisten von dem wahren Gott in sich trugen und dem Volke verkündeten.

Daß Griechen und Römer auch das stille, das Herzensgebet, kannten, verbürgt nebst vielen andern, die Stelle bei Seneca:

Sie vive cum hominibus, tamquam Deus videat, sic loquere cum Deo tamquam homines audiant; nämlich,[347] daß man nichts Unrechtes, andern oder sich Verderbliches von Gott erbitten solle.

Seneca hegt überhaupt sehr würdige, wenn auch für uns Christen, die Gott ihren Vater nennen dürfen und sollen, zu stolze, spröde Begriffe. Er sagt einmal, daß jenes Wesen, welches alles hervorgebracht hat, auch seiner Welt unveränderliche Gesetze gegeben hat, denen es selbst unterworfen ist.


Semel jussit, semper paret.


Ähnlicher Stellen trifft man genug bei andern römischen Schriftstellern, bei Cicero, Plinius, Livius usw. an. Alle beweisen, daß die gebildeteren, klügeren Alten an ein fortwährendes Verhältnis des Geschöpfs zum Schöpfer, und hauptsächlich daran geglaubt haben, daß die Gottheit von unsern Bedürfnissen Notiz nehme und durch Opfer und Gebete für unsere Wünsche günstig gestimmt werden könne.

Da nun die Allgemeinheit dieses Dafürhaltens: daß nämlich die Gottheit unsere Bitten jederzeit vernehme, wir mögen uns befinden, wo wir wollen, ja wir mögen unseren Gebeten Worte geben, oder sie nur in der Stille unsers Herzens, »wo der Geist«, wie Paulus sagt, »mit unaussprechlichen Seufzern für uns bittet1«, bilden, so folgt, wie mich dünkt, notwendig daraus, daß unsere Seelen – auf welche Weise? bleibt uns verborgen – in einem stetigen und innigen Verhältnis zu dem höchsten, allmächtigen, allwissenden und allgegenwärtigen Wesen sind, und gleichsam im Zusammenhange mit ihm stehen. St. Paulus sagt in der Apostelgeschichte Kap. 17: In ihm leben, weben und sind wir, wir sind seines Geschlechts. Ebenso erstreckt[348] sich diese Allgegenwart, Allwissenheit und Allerhaltung auf die ganze Natur, und wird passend durch solche Sprüche ausgedrückt: daß ohne Gottes Willen kein Sperling vom Dache fällt, daß die Haare unsers Hauptes gezählt sind, daß Gottes Odem alles erhält, und die Kreatur erschrickt und zu Staub wird, wenn er sein Angesicht abwendet, daß die Berge rauchen, wenn er sie anrührt, daß der junge Löwe seine Kost von Gott fordert usw. Am öftesten, am erhabensten und wahrsten ausgedrückt finden sich solche Begriffe in den Schriften des Volkes Gottes, welchem er auch die älteste Urkunde des Menschengeschlechts, wie sie Herder nennt, anvertraut hat. Aber auch in Profanschriftstellern und in heidnischen Religionsbüchern, wie z.B. im Zendavesta der Parsen sind solche schöne und erhabene Stellen zu finden. – Alles Beweise von den überall verbreiteten, von Gott selbst in die Geister der Menschen gelegten oder einst den ersten Geschlechtern geoffenbarten Wahrheiten.

Wir nähern uns, nach diesen vorausgeschickten Bemerkungen, Erfahrungen und geschichtlichen Notizen, die wohl niemand in Abrede stellen wird, dem eigentlichen Zielpunkte dieser Betrachtung, dem Gebete und seiner Erhörung. Wenn die Allgemeinheit des Gebetes und des Glaubens an seinen Erfolg erwiesen ist, so sucht der menschliche Geist, vermöge seines angebornen Hanges zur Erforschung der Wahrheit, dann auch die Weise wohl nicht zu ergründen, aber zu ahnen, auf welche er sich in den Augenblicken frommer Erhebung seinem Schöpfer wirklich nähern und hoffen kann, sein Gebet, wenn es würdig und den Ratschlüssen Gottes gemäß ist, erhört zu sehen. Hier fallen uns nun, wenn wir in dieser Richtung mit Aufrichtigkeit und[349] Ernst forschen, zuerst einige Bemerkungen in die Augen, an welchen wir vielleicht oft achtlos vorüber gegangen sind, die aber nach meiner Meinung sehr passende Hinweisungen auf diese Wahrheiten enthalten.

Wir finden nämlich zuerst in der jüdischen sowohl als in der auf sie gepflanzten christlichen Religion, als denjenigen, in welchen sich die reinsten Wahrheiten dieser Art geoffenbart haben, den Begriff der Liebe Gottes, sowohl seiner väterlichen für uns, als der kindlichen, die wir zu ihm haben sollen. Soweit mir die übrigen Religionen alter und neuer Zeit bekannt sind, findet sich diese Vorstellung vom höchsten Wesen in keiner von ihnen. Es ist die höchste Blüte der Offenbarungen Gottes, das herrlichste Vorrecht der Menschheit, und in ihm ist ihr Adel und ihre angeborne Würde aufs deutlichste und erhabendste ausgedrückt. Dasjenige Wesen, aus dem, durch das, in dem nicht nur wir Menschen, unser Erdball, sondern alle im ganzen Raum der Schöpfung zerstreuten Welten, alle Sonnensysteme mit ihren uns unbekannten Myriaden von Bewohnern ihren Ursprung und ihr Fortbestehen haben, dieses Wesen, welches allmächtig, allgegenwärtig, allwissend, ewig und unveränderlich ist, hat uns Würmern im Erdenstaube nicht bloß erlaubt, es hat uns befohlen, es zu lieben; es fordert unsere Liebe, es läßt sich Vater von uns nennen, und nennt sich in bezug auf uns selbst so.

Das erste Gebot, welches er im Dekalog den Menschen unmittelbar gab, enthält diesen Begriff: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus ganzem Gemüte, aus ganzem Herzen und aus allen deinen Kräften. Es ist hier nicht die Rede von einzelnen Erhebungen der Seele zu Gott. Nein! Unser ganzes Wesen,[350] all unsere Kräfte müssen, solange unser Dasein währt, ihm gehören, mit ihm sich einigen, in Liebe an ihm hangen, wir müssen eins mit ihm sein. Dasselbe und Ähnliches sagte der Erlöser seinen Jüngern in jener feierlichen Abschiedsstunde, wo er das letztemal vor seinem nahen Tode mit ihnen beisammen war: Ihr sollt eins sein mit mir, wie ich eins mit dem Vater bin. Er bedient sich des Gleichnisses von der Rebe und dem Schößling, der nur lebt, solange er an der Rebe haftet, aber verdorren muß, sobald er abgeschnitten wird. Er sagt ihnen später: Ich bin bei euch heute und alle Tage bis ans Ende der Welt. Er sagt ferner: Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.

Alles dies sind Andeutungen, und mehr als Andeutungen, es sind Aussprüche, welche uns klar sagen: daß zwischen der Gottheit und unsern Seelen ein bleibender, reeller, wirklicher Zusammenhang besteht, und daß Stellen, wie jene vom Rebschößling, nicht bloß auf die Pflicht, uns in unserer Handlungsweise nicht von Gottes Vorschriften zu entfernen, sondern als auf eine wesentliche Verbindung hindeutend, zu verstehen sind. Wie dieser Zusammenhang bestehe, können wir nicht erraten, nicht einmal vermuten, aber so viel können wir glauben, daß ein brünstiges, herzinniges Gebet uns der Gottheit in solchen Augenblicken näher bringe, daß wir uns gleichsam in ihren Bereich stellen, daß die sonst lockere Verbindung sich fester gestalte, und daß wir die Wirkungen derselben in unserm Innersten spüren. Dann fallen die Schlacken irdischer Begehrlichkeiten, Bedürfnisse und Leidenschaften von unsern gereinigten Seelen ab, und diese kehren für kurze Zeit in den Zustand ursprünglicher Einheit mit Gott zurück. Leider[351] sind diese Stimmungen ebenso kurz als selten; indessen sie sind da, und ihre Einwirkungen erstrecken sich, selbst wenn sie vorübergegangen sind und den Eindrücken des gewöhnlichen Lebens Platz gemacht haben, auf viele folgende Stunden, wo ein stiller Frieden, eine beglückende Heiterkeit in unsern Seelen herrscht. Wir fühlen uns dann eins mit dem höchsten Wesen, und der Heiland ist bei uns, unter uns, darauf können wir uns verlassen, weil er selbst es gesagt hat.

Sehr natürlich hat die Kirche darum bei den meisten ihrer Gebete eine Anrufung Gottes vor allen Bitten angeordnet, damit der Mensch durch eine lebhafte und anhaltende Erhebung des Gemütes sich gleichsam von der Erde entferne und in unmittelbarer Gegenwart Gottes fühle. So beginnt die Kirche viele Gebete mit der Formel: Herr! merk auf meine Hilfe, eile, Herr, mir beizustehen; so beginnt das erhabenste und zugleich einfachste aller Gebete mit den Worten: »Vater unser! der du bist in dem Himmel, geheiligt werde dein Name, zukomme uns dein Reich!« hierauf folgen erst die eigentlichen Bitten. Wir sollen uns nämlich die Gegenwart Gottes lebhaft vorstellen, ihn in unserer Nähe, uns hörend, auf uns merkend, denken; wir sollen diese Gedanken kräftig festhalten, dann werden wir fühlen, daß Gott um uns, bei uns, in uns ist, wie die heilige Theresia ihm im Innersten ihres Herzens eine Kapelle errichtete, in welcher sie ihn stets fand, wenn sie ihn suchte, ihm ihre Anliegen vortrug, und gewiß meistens erhört ward, weil dies erhabene, geläuterte Gemüt gewiß nur um wirklich Heilsames bat.

Vielleicht wird mancher Leser dieser Blätter diese Ansichten Mystizismus nennen. Ich selbst habe nur unbestimmte Begriffe von dem, was man so zu nennen[352] pflegt, und glaube, daß in dieser Unwissenheit die beste Verteidigung gegen jene Anschuldigung, wenn es eine sein soll, zu finden sei. Was ich deutlich, mit klarem Bewußtsein, und mit dem Vorbedacht, mich von keiner Illusion hinreißen zu lassen, erfahren und empfunden habe, muß doch wohl ein natürliches und gewöhnliches Ereignis sein, das aber nur deswegen selten angetroffen wird, weil es selten beachtet wird, weil die Menschen, wenn sie beten, großenteils zerstreut, ohne innere Sammlung, ohne lebhafte Empfindung von der Gegenwart Gottes sind. Und so sage ich, daß ein wahrer Beter das Bewußtsein dieser Gegenwart klar und unwidersprechlich haben, und sich dessen mit einer innerlichen Zufriedenheit, welche kein anderer irdischer Zustand zu geben vermag, erfreuen wird.

Gott ist überall, er ist um uns, er ist in allen Räumen der Erde, in allen Räumen der Gestirne; er hält und trägt jedes Leben, daß es nicht, wenn er sein Angesicht abwendet, wie der 104. Psalm sagt, in Staub zerfalle. Er ist in jedem geschaffenen Ding, und folglich auch in uns, und hier ist es eigentlich, wo wir seine Gegenwart am heiligsten und innigsten erfahren und spüren sollten. Wenn wir also zu ihm beten wollen, müssen wir, wie oben gesagt worden, unser Gemüt anregen, wir müssen uns Gottes Gegenwart lebhaft vorstellen, uns gleichsam in seiner Nähe fühlen, fühlen, daß wir mit ihm vereinigt, daß wir das Rebschoß sind, das noch an der Rebe selbst haftet. Dann werden wir andächtig beten, und dann dürfen wir auch hoffen, erhört zu werden, wenn wir, wie jener weise Heide sagt, so gebetet haben, daß uns die Menschen hören durften, nämlich ganz den Pflichten des Christentums gemäß.[353]

Was die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit einer solchen geheimnisvollen, aber von allen wahren Betern deutlich empfundenen Vereinigung der menschlichen Seele mit dem höchsten Wesen betrifft, so wird es in unsern Tagen, wo die wunderbaren Erscheinungen des Magnetismus uns An- und Aussichten in der Seelenerfahrungskunde eröffnet haben, die weit jenseits alles dessen liegen, was man noch vor 70, 80 Jahren für möglich hielt, und die doch wahrlich von zu vielen und zu glaubwürdigen Menschen bestätigt sind, um, wie manche es möchten, ganz ins Reich der Träume verwiesen zu werden, – es wird, sage ich, in unsern Tagen wohl nicht befremdend erscheinen, wenn ein alles umfassender Zusammenhang in der Geisterwelt angenommen wird; wenn wir es wagen, zu glauben, daß das höchste Wesen, dem wir und alle Geister ihren Ursprung danken, das selbst Geist, unbegreiflich, aber allmächtig, allwissend und allgegenwärtig ist, mit in diesen Zusammenhang gehöre, ja, daß dieser Zusammenhang eigentlich von ihm ausgehe und mittelst desselben alles umfaßt, was nur Schöpfung heißt. Er hat uns ja einen, nicht aus der Acht zu lassenden Wink darüber in dem Gebote gegeben, daß wir hier auf Erden für einander beten, die Seelen der Verstorbenen in unser Gebet einschließen und hoffen sollen, daß unsere vorangegangenen Mitbrüder ebenfalls vor Gottes Thron für uns beten, damit ein allgemeines geistiges Band die Gemeinschaft der Heiligen auf dieser Erde, im Himmel und unter der Erde umfasse. So laßt uns denn mit innerlicher Erhebung, mit frommem Glauben zu Gott dem Allgegenwärtigen beten, und sicher darauf rechnen, daß dies Gebet Erhörung finden werde – so, daß wir entweder den Gegenstand unserer Bitte erreichen[354] oder, falls dies Erreichen für jetzt nicht in den Plan der göttlichen Ratschlüsse passen sollte, doch sicher eine Erhebung, Beruhigung und Läuterung unsers Innern erfahren, welche uns zu bessern, folgsamern und folglich glücklichern Kindern Gottes machen wird.


*


Das Neujahr 1837 war vorüber. Im vergangenen hatte ich, wie diese Blätter zeigen, viel Unangenehmes erlebt, werte Freunde durch den Tod verloren, und hätte sogar bald meinen innern Frieden durch unselige philosophische Spekulationen eingebüßt, wenn Gottes Gnade mich nicht gerettet hätte. Ich hatte also alle Ursache, mit trübem Blick auf dasselbe zurückzusehen, aber es sollte sich bald so gestalten, als ob das kommende Jahr noch viel Schlimmeres bringen würde – und so kam es denn auch!

Die Cholera hatte sich zwar aus unserm Umkreis entfernt, aber das zweite minder bösartige, aber nicht minder lästige Übel, das uns nun schon nebst der Cholera ein paarmal besucht hatte, die Grippe, zeigte sich wieder, und viele meiner Bekannten litten daran. Mich hatte es diesmal verschont, aber meine Tochter wurde davon befallen, und die Krankheit gestaltete sich so bedenklich, daß durch einige Tage der Arzt fürchtete, es könne in einen Typhus ausarten. Ich lasse jeden Menschen urteilen, wie mir bei diesem Ausspruch, der mein einziges Kind, die Mutter dreier unversorgter Waisen, in Lebensgefahr erklärte, zumute war! Ich sah das Unglück immer näher und näher heranschreiten, und mir blieben keine Waffen dagegen, als Ergebung und Standhaftigkeit. Die Vorsicht fügte es väterlich anders. Dr. Seeburger hatte richtig gesehen,[355] aber auch ein passendes Mittel gefunden. Durch eine Reaktion im Magen, mittelst Ipecacuanha, wurde dem Übel eine andere Richtung gegeben, es folgten Erbrechungen, und die Krankheit war gehoben. Zu unserer unaussprechlichen Freude besserte sich die Kranke schnell, nur warf auch diesmal, wie im Jahre 1825 zu Prag, der Krankheitsstoff sich auf den Fuß, erregte Geschwulst und Schmerzen und hinderte die Genesende noch längere Zeit im Gehen.

Doch auch diese furchtbare Periode ging vorüber, wir freuten uns der teuren erhaltenen Tochter, da erkrankte, nur damit die Kette von Unannehmlichkeiten und Sorgen, die seit einiger Zeit mein Leben beschwerte, nicht abreiße, eine mir sehr werte Freundin, Frau von Neumann, deren diese Blätter in Verbindung mit dem Zayschen Hause öfters Erwähnung gemacht haben, bedeutend an eben der unseligen Grippe. Marianne (so hieß Frau von Neumann) war seit mehreren Jahren Witwe und lebte in sehr knappen Umständen, die bei ihren hohen Jahren und zunehmender Kränklichkeit ihr Leben sehr unangenehm machten. Sie hatte ihren Gemahl, einen angesehenen Gardeoffizier, der ein sehr würdiger, aber in Rücksicht der Geistesbildung ihr durchaus nicht ebenbürtiger Mann war, nicht bloß treu und innig geliebt, sie hatte sich mit all ihrem Verstande und ihren ausgezeichneten Kenntnissen ihm willig untergeordnet; ein Betragen, das bei dieser Frau, deren Charakter von Natur eher heftig und bestimmt war, doppelt schätzbar erscheinen mußte. Sie war es auch, deren häusliches Verhältnis nebst dem meinigen der unglücklichen Luise Brachmann, als sie viele Jahre früher nach Wien gekommen und durch mich mit Mariannen bekannt geworden war, soviel Erstaunen[356] verursachte, daß man nämlich eine Schriftstellerin, eine Dichterin sein, und doch in einem sehr glücklichen häuslichen Verhältnisse mit einem sonst verehrungswürdigen, aber nicht eben dichterischen oder genialen Manne leben könne. Das hatte Luise Mühe zu glauben, und Pichler, den sie öfters sah und sprach, weil sie während ihres Aufenthaltes in Wien viel bei uns war, erschien ihr immer als etwas Wunderbares. Ich weiß aber nicht, ob das Wunderbare für sie darin lag, daß eine Dichterin sich recht wohl und glücklich an der Seite eines geistreichen, gebildeten Geschäftsmannes fühlen könne, oder daß der Geschäftsmann sich nicht als Gemahl einer Schriftstellerin höchst unglücklich finden müsse? Fast schien es mir, als wäre es diese letztere Ansicht, was dem herzensguten, aber verschrobenen Mädchen so unglaublich bei uns und somit auch bei Mariannen vorkam.

Diesen schätzbaren Mann hatte Marianne, wie gesagt, vor einigen Jahren verloren, und in ihrer beschränkten Lage, so ganz vereinsamt, kränklich, von der lebenslustigen und lebensvollen Welt durch diese Umstände, noch mehr aber durch den rasch fortschreitenden Gang des Zeitgeistes geschieden, kam sie sich selbst, wie sie es noch in einem recht hübschen Gedicht ausdrückte: wie ein abgeschiedener Geist vor, der entfremdet und verstummt die jetzige Welt anstaunt, in der er sich so wenig heimisch fühlt. Einigermaßen erkannte ich schon damals die Wahrheit dieser Anschauung, bald sollte ich durch einen gleichen Verlust die volle bittere Erkenntnis erhalten, daß man wie ein abgeschiedener Geist sich mitten unter Anderslebenden, Andersdenkenden, Andersfühlenden finden könne.[357]

In ihrer Krankheit, welche eine Folge der Grippe und sehr bedeutend war, besuchte ich Mariannen zuweilen, was aber durch die große Entfernung (sie wohnte in der Marokkanergasse neben dem Rennweg) mir sehr erschwert wurde. Einmal sprach sie sehr ernst, aber zugleich heiter und ruhig von ihrem wahrscheinlich nicht fernen Tode, und trug mir mancherlei auf, was sie in diesem Falle gern von mir getan wissen wollte; von Schriften, die ich übernehmen sollte usw. Auch erzählte sie mir mit ebensoviel Klarheit als Umständlichkeit, trotz ihres leidenden Zustandes, eine Anekdote aus ihrem frühern Leben, wo es ihr gelungen war, durch Geistesgegenwart, Klugheit und genaue Kenntnis der französischen Sprache, während der zweiten Invasion 1809 ihren Mann und seine Kameraden von dem strengen Spruche, als französische Kriegsgefangene betrachtet und daher nach Frankreich abgeführt zu werden, zu erretten. Die Erzählung war lang, Marianne war bedeutend dadurch angeregt, und ich trachtete, soviel ich vermochte, sie zu beruhigen.

Ihr körperliches Befinden schien mir nicht bedenklich, und ich verließ sie voll guter Hoffnung, sie nächstens außer dem Bette zu finden. Zu meinem großen Schrecken wurde ich 6–8 Tage darnach eines Morgens mit der Nachricht geweckt, daß Frau von Neumann plötzlich sehr schlecht geworden sei, und ich eilen müsse, wenn ich sie noch sehen wollte.

Ich war ungemein über diese Nachricht erschrocken, um so mehr, als ich, meinen Beobachtungen bei meinem letzten Besuche zufolge, sie bereits auf dem Wege der Besserung glaubte. Sogleich fuhr ich hinüber zu ihr, aber der erste Blick auf ihre ganz veränderten Züge zeigte mir, daß hier der letzte Augenblick nahe sei. –[358] Wirklich hatte ich, die ich schon öfters bei Sterbenden gewesen, eine solche bis zur Unkenntlichkeit gehende Veränderung der Physiognomie noch nie gesehen. Doch verbarg ich meine peinliche Überraschung, und da Marianne mit jener Seelenkraft, die sie schon in vielen Lagen ihres Lebens gezeigt, sich auch jetzt ermannte, und ruhig mit mir über ganz gleichgültige Dinge, wie z.B. über den Roman: Marco Visconti sprach, von dem sie behauptete, daß sowohl die Anstrengung, welche ihr die, ihr nicht ganz geläufige italienische Sprache als auch der ergreifende Inhalt verursacht, wohl schuld an der Verschlimmerung ihres Zustandes sein möchte, wagte ich es nicht, meine Besorgnisse zu äußern, weil ich sie, die mir mit ihrer Lage nicht ganz bekannt schien, nicht erschrecken wollte. Beim Fortgehen indessen schien es mir doch, als sagte der Druck ihrer Hand und ihr Blick: es ist ein Abschied fürs Leben! Und so war es auch; um 1 Uhr ungefähr verließ ich sie, um 8 Uhr abends war sie verschieden. Ihr sowohl als unserm guten Kurländer habe ich in kleinen Aufsätzen, welche im »Telegraphen«, wenn ich nicht irre, abgedruckt wurden, ein herzliches Lebewohl nachgerufen; – möchte ich sagen dürfen: Ein baldiges Wiedersehen! nicht mit ihnen allein, sondern mit so vielen, die ich früher und später so schmerzlich, so unersetzlich verloren!

Der Sommer dieses Jahres brachte unstetes, kühles Wetter, und erst gegen Anfang des Augusts wurde es warm, dann aber auch sehr heiß, und während dieser warmen Tage fand unsere Abreise nach Baden statt.


*


Hier beginnt nun die traurigste Epoche meines Lebens, eine Zeit der Prüfung, des Leidens, wie sie[359] keine frühere Periode brachte und hoffentlich keine spätere bringen wird.

Pichler fühlte sich, sowie die Hitze eintrat und zu nahm, nicht so wohl, und hauptsächlich nicht so heiter und gleichmütig als sonst. Er wollte es nicht Wort haben, wenn man ihn darüber befragte. Er behauptete, gesund und ganz so wie sonst zu sein und wir, die ihn zunächst umgaben, fanden doch eine große Veränderung in seiner Laune, in seinem ganzen Benehmen. Dessen ungeachtet nahm er freundlich an allem teil, was uns anging, und beschäftigte sich, wie schon früher, sehr ernstlich, sehr angelegentlich mit seines Enkels Studien, der nun schon in die Gymnasialklassen eingetreten war, für den er mit unverdrossener Mühe Lehrer gesucht, die Studien überwacht, bei jeder Prüfung zugegen gewesen war und, besonders während der Ferien, den Knaben, der gute Fortschritte machte, mitunter selbst unterrichtet hatte. So geschah es auch dies Jahr, und Pichler hing, wie wir alle, mit großer Liebe an dem hoffnungsvollen Kinde, das damals zwölf Jahre alt war.

Sehr angenehm war uns allen die gleichzeitige Anwesenheit unsers vieljährigen, treuen und schätzbaren Freundes, des Regierungsrates von Perger, mit dem ich in meiner frühern Jugend schon bekannt gewesen, und der uns allen seit dieser Zeit, das heißt seit einem halben Jahrhundert, in Freud und Leid treu zur Seite gestanden hatte. Daß er und Pichler seit vielen Jahren Kollegen waren, verband uns noch fester, und so verbreitete denn Pergers fast jedes Jahr mit uns gleichzeitige Anwesenheit in Baden viel Angenehmes über diesen Aufenthalt. Seit ein paar Jahren traf es sich auch, daß ein anderer Jugendbekannter, Baron Jacquin,[360] Baden zu gleicher Zeit mit uns besuchte. Seit der Naturforschergesellschaft waren wir einander wieder genähert worden, und auch in dem unglücklichen Jahr 1837 waren die Jacquinschen in Baden und wohnten sehr nahe von uns im Sauerhofe, wir wieder in der Landschaft. Ich habe schon erwähnt, daß Pichlers Stimmung und Befinden uns verändert vorkam, obgleich sich eigentlich nichts namhaft machen ließ, was ihm fehlte. Er selbst schob es auf die damals sehr drückende Hitze, und wir hätten es alle gern geglaubt, wenn nicht die Veränderung gar zu auffallend gewesen wäre. Er, der sonst mit einer wahrhaft stoischen Gleichgültigkeit sein Ameublement, sein Bette, seine häuslichen Bedürfnisse und Umgebungen betrachtet hatte, fand jetzt auf einmal fast an allem etwas auszusetzen, bald war ihm sein Bette zu niedrig, bald ein Sessel zu hoch, eine Decke zu warm, ein Kleidungsstück zu kühl usw. Wir alle fühlten uns beunruhigt und geängstigt durch diese Reizbarkeit an dem sonst so ruhigen, ja, ich darf sagen, weisen Manne, der stets jedem Dinge, belebt oder unbelebt, seine richtige Stelle und Würdigung anzuweisen gewohnt war. So dauerte unsere Besorgnis einige Tage fort, solange nämlich die Hitze währte. Wie es aber in unserm Klima so oft geschieht, mit einem heftigen Wind trat plötzliche Kühle ein; wir gingen nach Tische in den Sauerhofgarten, weil es zu einem weiten Gang zu stürmisch war, und hier mag wohl der erste Grund zu der nachfolgenden Verkühlung gelegt worden sein. Bald darauf fühlte sich Pichler von Schmerzen im Unterleibe und den damit verbundenen Unbequemlichkeiten belästigt, aber noch war keine Rede von einem eigentlichen Kranksein. Wir gingen in den Mittagsstunden spazieren, und ich brachte,[361] so wie jedes Jahr, wenn Jacquin in unserer Nähe wohnte, zuweilen mit meinem Enkel, der große Freude an der Naturkunde hatte, einen Abend in diesem Kreise zu, wo mikroskopische Versuche usw. uns, und besonders den Knaben, sehr ergötzten, und unser alter Freund Perger, eben auch ein ehemaliger Schulkamerad von Baron Jacquin, dann auch nie fehlte.

Pichlers Zustand verschlimmerte sich nicht, wir hofften, es sollte glücklich vorübergehen, und ich nahm eine Einladung der Baronin Doblhof an, den Abend bei ihr in Weikersdorf zuzubringen. In der Mittagsstunde besuchte uns B. Jacquin, und hielt sich etwas länger auf, um mein Fernrohr von Plößl, das ich ihm zeigte, zu richten. Kaum war er fort, als Pichler, dessen Schweigsamkeit und gespannte Haltung mir schon während Jacquins Anwesenheit aufgefallen war, die erschreckende Kunde mitteilt, daß ihn sein altes Übel, jener furchtbare Krampf im Unterleibe, befallen habe. Das war also die Lösung aller dieser beunruhigenden Erscheinungen in Pichlers Befinden und Benehmen seit ungefähr vierzehn Tagen. Das alte, so sehr gefürchtete Übel hatte sich wieder eingestellt, nachdem es seit acht Jahren verschwunden und jede Gefahr beseitigt geschienen hatte! Vermutlich waren alle früheren Erscheinungen nur Vorbereitungen dazu gewesen, die wir leider nicht zu deuten und ihnen zuvorzukommen verstanden, sondern das Übel nur für eine gewöhnliche Erkältung gehalten hatten.

Es war am 30. August, einer Mittwoche; – ach, alles steht mir noch so hell und schmerzlich vor dem Geiste! Es versteht sich, daß Pichler sich sogleich zu Bette legte; warme Umschläge und alles, was früher für solche Fälle war verordnet worden, gebraucht, und[362] nach Dr. Habel geschickt wurde. Ängstlich harrten wir seines Ausspruchs, er lautete nicht so schlimm, als ich gefürchtet. Es war wohl ein Krampf eingetreten, aber er war nicht so heftig als sonst, und erregte deswegen auch keine so großen Besorgnisse. Vier bis fünf Tage währte das so, da erkrankte plötzlich der Sohn meiner Tochter, und zwar auf eine Art, die ernstliche Befürchtungen einflößte. Nun waren unsere Sorgen geteilt und mithin verdoppelt. Bei Pichler ging das Übel einen stillern Gang, bei August hingegen schien es sich mit jedem Tag zu steigern, und der gute Großvater, der den Knaben zärtlich liebte, der, wie schon gesagt worden, den regsten Anteil an seinen Studien, seiner Geistesentwicklung nahm, fühlte eine nachteilige Einwirkung von der Sorge für den geliebten Enkel in seinem eignen Leiden; obwohl wir ihm mit großer Vorsicht und nicht geringer Mühe den bedeutendsten Teil unserer Befürchtungen verbargen. Jetzt trat bei August ein heftiges Nasenbluten ein, und als ich eines Nachmittags von einem kleinen Spaziergang mit den beiden Mädchen, des Kranken Schwestern, zurückkam, fand ich diesen in seinen Gesichtszügen so verändert, so entstellt, möchte ich sagen, daß mich eine unsägliche Angst ergriff. Wirklich stieg die Gefahr auch mit jedem Tage. Dr. Habel verlangte, daß noch ein Arzt beigezogen würde, und da wir alles seiner Einsicht überließen, auf welche wir mit Recht großes Vertrauen setzten, so brachte er uns Herrn Dr. Wolff, Leibarzt des Erzherzogs Karl, der sich damals in Baden befand, und beide untersuchten nun die beiden Kranken, Pichler und den Knaben. Ihr Ausspruch lautete sehr entmutigend. Pichlers Zustand behaupteten sie nicht ergründen und daher nichts Entscheidendes vornehmen[363] zu können, weil er sich diesmal wie die früheren Male standhaft jeder chirurgischen Untersuchung, wobei Instrumente anzuwenden notwendig gewesen wäre, widersetzte, und dies durchaus nicht zugeben zu wollen erklärte. Beide Ärzte wußten daher nichts Bestimmtes zu verordnen, und nur Palliative konnten angewendet werden. Bei August war die Entscheidung noch angstvoller. – Dr. Wolff erklärte die Krankheit geradezu für ein Nervenfieber, und mir, nach so vielen Erfahrungen, welche ich seit Jahren gemacht, klang dieser Spruch wie ein Todesurteil.–Es war mir, als sei der hoffnungsvolle, liebenswürdige Knabe bereits verloren. Dr. Wolff sah meinen Schrecken, er suchte mich freundlich und teilnehmend zu beruhigen. Glauben Sie denn, daß wir kein Nervenfieber kurieren können? fragte er mich mit gütigem Ton. Ach, mir war eine solche Kur immer wie ein Glückswurf vorgekommen, nie aber wie ein Erfolg, auf den man mit einiger Wahrscheinlichkeit zählen konnte. Zugleich empfahlen uns die beiden Ärzte, den Knaben am folgenden Tage beichten und versehen zu lassen. Mit dieser Gewißheit, mit diesem tödlichen Bewußtsein im Herzen, mußten wir, die Tochter und ich, zum Vater zurückkehren, und ihm von dem, was die Ärzte ausgesprochen, was auf morgen beschlossen war, alles verhehlen, was ihn zu sehr beunruhigen konnte; denn beunruhigt war der liebende, seinen Kindern und besonders dem vielversprechenden Knaben anhängliche Vater und Großvater ohnedies durch das, was ihm bei einem innigen Zusammenleben in einer Haushaltung zu verbergen unmöglich war; und ich glaube nicht zu irren, wenn ich sage, daß die Sorge um dies geliebte Kind viel beitrug, Pichlers Krankheit zu vermehren und die Katastrophe zu beschleunigen.[364]

Nach Dr. Habels Wunsch, der sich in dieser traurigen Periode als ebenso geschickter Arzt wie als teilnehmender Freund erwies, wurde nach Wien zu Baron Türkheim und Dr. Seeburger geschickt, um ihre Meinung in diesem wichtigen Fall zu vernehmen. Der erste war von Wien abwesend, Dr. Seeburger kam den folgenden Tag abends nach Baden, nachdem morgens die heilige Zeremonie in größter Stille, damit der Großvater nichts davon erfahre, vollzogen worden war, wobei der Knabe mit großer Anstrengung, aber vollkommener Fassung seine Andacht zu unser aller Erbauung verrichtet hatte. Diese Fassung war umsomehr als eine Kraftäußerung seines Willens zu bewundern, da er vorher und darnach in Phantasien gelegen, und nachdem die Zeremonie vorüber war, geäußert hatte, daß er nun etwas Großes überstanden habe.

Dr. Seeburger untersuchte beide Kranke. Bei Pichler lautete sein Ausspruch ungewiß über den Stand der Krankheit wie der des Dr. Wolff. – So viel aber konnte ich wohl aus allem entnehmen, daß der Zustand höchst bedenklich sei, und ich von dieser Seite viel zu fürchten habe. Über August aber sprachen sich beim Weggehen beide Doktoren so entschieden ungünstig aus, daß Seeburger uns mit dem leidigen Trost verließ: Solange das Leben währt, bleibe ja noch immer Hoffnung. Beim Souper aber, das sie in demselben Hause, wo wir wohnten, bei Graf Csaky einnahmen, erklärten sie vor den Bedienten, durch die wir es nach einiger Zeit erfuhren, ganz unumwunden, daß der Knabe noch diese Nacht sterben werde.

Aber Gott, unser aller Vater, hatte unsern Schmerz gnädig angesehen und uns nicht ganz zu vernichten beschlossen. Auf eine Arznei, welche Habel verordnet[365] hatte, schlief August in der Nacht einige Zeit, am andern Tage brach der Friesel aus. Er wurde auf Habels Befehl, nicht ohne Anstrengung und unter treuer, eigenhändiger Mitwirkung seines gütigen Arztes, in ein laues Bad gebracht, dann warm zugedeckt ins Bette gelegt, mit dem Bedeuten, sich nicht zu regen, keinen Arm oder Fuß aus der Decke zu strecken; – und der zwölfjährige Knabe, der sich jetzt übrigens völlig bewußt war, gehorchte mit der Folgsamkeit eines Kindes und der Willenskraft eines Mannes. Auch erntete er, und durch ihn wir, die schöne Frucht dieser Anstrengung; denn sein Zustand fing an, sich, wiewohl langsam, zu bessern.

Aber noch war die Gefahr nicht beseitigt, und obwohl wir zu hoffen anfangen durften, hielt uns Dr. Habel immer noch mit zweifelhaften Äußerungen viele Tage in ängstlicher Ungewißheit.

Auch mein geliebter Pichler erfreute sich noch der bessern Nachrichten von dem teuern Enkel, aber in seinem eignen Zustande wollte durchaus keine günstigere Wendung eintreten. Er selbst bemerkte dies wohl, und sah, vielleicht klarer, als er aus Schonung für Frau und Tochter zu erkennen geben wollte, das Bedenkliche seiner Lage nur zu wohl ein. Denn sein Geist behielt durch diese ganze Zeit vollkommene Herrschaft über sein Krankheitsgefühl, und Lesen, Vorlesenhören, ja selbst Geschäftsarbeiten füllten die Stunden des Tages. Täglich bekam er ein Paket mit Kanzleischriften zum Bearbeiten oder Unterzeichnen, nebst Zeitungen aus Wien; Rottecks Geschichte las ich ihm vor, und wenn unser Freund Perger kam, arbeitete er oft mit ihm in seinen Kanzleiangelegenheiten. So ging es vom 11. an, an dem August gebeichtet hatte, bis[366] zum 16., einem Samstag, meinem letzten ganz glücklichen Tag auf dieser Erde, dem letzten einer einundvierzigjährigen Ehe! Gott hatte mich lange dies seltene Glück genießen lassen. – Ich darf wohl trauern, aber nicht murren, daß er es mir endlich entzog.

Pichler war den Tag über leidend, aber wenigstens nicht sichtbar schlimmer wie schon seit drei Wochen, und ganz klar und kräftig im Geiste. Abends, als ich allein bei ihm war, weiß Gott, welches Vorgefühl ihn aufgeregt haben mochte! rief er mich zu sich, und fing nun an mit dem liebevollsten Tone, aber auch mit einer so ruhigen Fassung von seinem möglich nahen Tode und den Anstalten und Maßregeln, welche für mich und die Kinder in diesem Falle nötig sein würden, zu sprechen, als beträfe es einen ganz fremden Menschen. Und je mehr ich den wahrhaft christlichen Weisen in dem Manne verehren mußte, der so mit seinem Weibe von dem eignen Tode sprach, je schmerzlicher und angstvoller preßte mir der Gedanke an den, möglich sehr nahen Verlust eines solchen Lebensgefährten das Herz zusammen. Doch faßte ich mich und bemühte mich, indem ich diese ganze Rede nur als eine im voraus zu nehmende, wohlüberlegte Maßregel für einen einst eintretenden Fall zu betrachten schien, ihm in diesem Sinn zu antworten, und ihn auch mit den Maßregeln bekannt zu machen, die ich selbst für meinen Todesfall bereits genommen. So sprachen wir ernst, aber ruhig über unser beiderseitig wahrscheinlich baldiges Lebensende, bis Freund Perger eintrat und ich den Herren den Tisch mit den Amtspapieren usw. zurechtrückte, worauf sie ihre Geschäftsarbeit gemeinschaftlich begannen.

Ich bin mit Vorbedacht etwas weitläufiger, als vielleicht gerade nötig war, um anschaulich zu machen:[367] erstens, welch ein herrliches Gemüt Pichler besaß, und dann, wie wenig ich darauf vorbereitet war, ihn, der wohl bedenklich, aber durchaus nicht lebensgefährlich krank schien, so schnell und plötzlich zu verlieren.

Unsere Wohnung in Baden war geräumig und hübsch, auch wohl mit Öfen und Vorfenstern versehen, wir waren also, selbst wenn die Krankheiten unserer Lieben uns tief in den Herbst hier halten sollten, von dieser Seite ohne Sorge. Aber wir wünschten die beiden Mädchen aus der Nähe des schwer und ansteckend kranken Bruders zu entfernen und hatten hierzu keinen Raum. – Da ergab sich aus dem Übel selbst die Abhilfe. Bei August wurden Umschläge von aromatischen Kräutern und Bisampulver für nötig erachtet. Alles dies, aber besonders der Bisam, verbreitete einen heftigen Geruch im Hause, und da der Bisamgeruch vielen Personen unleidlich, ja schädlich ist, so suchte ein Fräulein, das die Wohnung neben uns hatte, sich eine andere, und verließ das Haus. Wir bedauerten die Ungelegenheit, welche ihr dies verursachen mußte, von Herzen; machten ihr auch unsere besten Entschuldigungen, freuten uns aber sehr, durch diesen Zufall ein Zimmer für die Mädchen und eine Küche im ersten Stock zu erhalten, weil unsere bisherige im Erdgeschoß, und daher bei zwei gefährlich Kranken höchst unbequem zu benützen war. Wenn alles gesund ist, mag es in einem größern Haushalt sein Angenehmes mit sich bringen, die Küche etwas weiter von sich zu haben, in kleineren Familien aber, besonders bei Kranken, tritt die Unbequemlichkeit einer so gelegenen Küche gar sehr hervor, und wir hatten auch deshalb gleich im Anfang von Pichlers Kranksein eine Wärterin genommen, um die Dienstboten zu unterstützen.[368]

Schon seitdem die Wärterin angenommen war, schlief ich nicht mehr in Pichlers Zimmer, sondern dicht daneben im Tafelsaale, und an der andern Seite hatten jetzt die beiden Mädchen ihr Schlafgemach. Pichler brauchte jede Nacht drei- bis viermal fremde Hilfe, die sein Zustand unumgänglich nötig machte, und ich durfte seit meiner letzten Krankheit im vorhergegangenen Winter nicht nachts das Bett verlassen, wenn ich nicht völlig angekleidet war. Das machte nun meine Anwesenheit im Krankenzimmer überflüssig, ja hindernd, und Pichler fühlte sich erleichtert, wenn er sich bewußt war, seine alternde Lebensgefährtin nicht so oft im Schlafe stören zu müssen; zudem konnten wir uns auf die Wärterin vollkommen verlassen. Meine Nächte waren daher, bis auf die bangen Stunden, die meine Sorge für zwei geliebte Kranke mich wach erhielt, ziemlich ruhig.

In der Nacht jenes Samstags, an dem Pichler das unvergeßliche Gespräch mit mir geführt hatte, hörte ich ihn noch mit ganz natürlicher Stimme und klarer Besinnung mit seiner Wärterin und dem Bedienten sprechen und ihnen Befehle erteilen, weil er am nächsten Sonntag einen Besuch aus Wien erwartete. Dann schlief er wieder ein, und ich ebenfalls. – Um halb 7 Uhr morgens wurde heftig an meiner Türe gepocht, und ich hörte auch rufen. So schnell als möglich kleidete ich mich an, eilte in Pichlers Zimmer und fand ihn, ohne Bewußtsein, vom Schlage gerührt, sterbend.

Wozu soll ich meine Empfindungen, die furchtbare Erschütterung erwähnen oder beschreiben, die dieser Anblick mir verursachte? Wer Gefühl für Leiden solcher Art hat, wird mich auch ohne Schilderung begreifen[369] und es sich selbst sagen; wer dies Gefühl nicht in sich trägt, dem kann es nicht begreiflich gemacht werden.

Um Arzt und Geistlichen wurde augenblicklich geschickt. – Sie kamen zu spät. Er war verschieden, und der Gefährte meines ganzen Lebens hatte mich verlassen! Alles, was ich damals deutlich empfand, war der heiße Wunsch: Er möchte mich mit sich nehmen, er möchte mich nicht ohne ihn in dieser Welt zurücklassen!

Gott hatte es anders beschlossen. Ich durfte nicht mit ihm zugleich die Reise nach jenen Auen des Friedens antreten, ich sollte mich unter mannigfachen Sorgen, Trübseligkeiten und viel drückendern Lebensbedingungen, der Vater im Himmel weiß wie lange? hier auf Erden herumtreiben, wo mir zwar in meiner Tochter und ihren drei Kindern viele Freuden erblühen, wo ich aber doch Pichlers Liebe, seinen Schutz, seinen Rat, seine nie fehlende Teilnahme, seine höchstverständige, auf lange Erfahrung gestützte und von dem mildesten, menschenfreundlichsten Sinne geleitete Belehrung und Zurechtweisung fürder aufs schmerzlichste entbehren muß. Wohl kann ich seitdem den Vers auf mich anwenden, den ich späterhin auf einem Kupferstiche fand, wo eine Nonne, im Kreuzgang stehend, über einen Gottesacker in eine blühende Landschaft hinausblickend, sagt:


Alles knospt und treibt und blühet,

Aber meine Welt ist tot.


Diese Worte ergriffen mich tief, wie ich sie das erstemal las, und ich kann wohl sagen, daß ich sie seitdem im stillen zu meiner Devise gemacht. Und es war ja nicht Pichler allein, welcher aus meiner Welt geschieden[370] war. Die Leser dieser Blätter haben, besonders in den letzten Jahren, so viele schnell aufeinander folgende Todesfälle mir werter Personen in denselben aufgezeichnet gefunden, daß sie leicht zu der Überzeugung gelangt sein werden, meine Welt, d.i. die Menschen, die mit mir gelebt, die meine Jugend, mein reiferes Alter gesehen, die so manches ernste, so manches trübe, so manches heitere Ereignis mit mir erlebt, die einerlei oder wenigstens eine ähnliche Geistesrichtung und Geistesbildung mit mir gehabt, die folglich meine Ansichten teilten, und mir gleichgestimmt in Leid und Freud, im Urteil über Menschen und Dinge, im Geschmack an Literatur und Kunst usw. entgegenkamen, diese Menschen waren nicht mehr da. Eine neue Welt hatte sich, besonders seit 1830, um uns herum gestaltet, das kennt und fühlt jedermann, und der gewaltige Umschwung, den alle Lebensbedingungen genommen haben, wird in Rede und Schrift überall abgehandelt. Diese Umstaltungen dringen bis ins Innerste des Haushalts, wirken auf die Erziehung der Kinder, auf die Stellung der Eltern gegen diese, auf die Stellung der Herrschaft gegen das Gesinde, verändern den Tageslauf und die Stundeneinteilung, kurz, sehr betagte Menschen sollen gleichsam einen neuen Lebenslauf lernen. Wohl hat schon vor 2000 Jahren der römische Dichter den Alten als laudator temporis acti, se puero, censor, castigatorque minorum geschildert, und ich will gern zugestehen, daß meine Jahre einigen Teil an diesem Fremdfühlen in der jetzigen Welt haben mögen; aber ich weiß doch recht gut, daß weder mein Vater, der im Jahre 1798 mit 68 Jahren, noch meine Mutter, welche 1815 mit 75 Jahren starben, einen andern wesentlichen Unterschied in der Lebensweise, in der Denkart ihrer[371] Umgebungen gefunden haben, als den der notwendige Gegensatz der Jugend und des Alters hervorbringt. Meine Mutter führte bis an ihren Tod ein ziemlich gleichförmiges Leben und erlebte in dem Benehmen und den Gesinnungen der jüngern Welt nichts Befremdendes, nichts, was ihr sehr verschieden von ihrer eigenen Jugend vorkommen konnte. So war es nicht bei mir und bei allen jenen, welche mit mir tief in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts hineinlebten, das die Welt in politischen, literarischen und soziellen Begriffen ganz verwandelt hat.

In bezug auf alle diese gewaltigen Veränderungen kann man es der, damals beinahe 70jährigen Matrone wohl nicht verdenken, wenn sie nach dem Verlust des treuen, geliebten Lebensgefährten, mit dem sie 41 Jahre Hand in Hand gewandelt, sich mehr als sonst eine Witwe in früherer Zeit vereinsamt fühlte. Hierzu trat noch das Individuelle, Beschwerliche unserer häuslichen Lage. Nicht an meinem gewöhnlichen Wohnort, nicht imstande, mir alle Erleichterungen, Bedürfnisse, Auskünfte usw. zu verschaffen, welche bei einer solchen Katastrophe jeder Familie unumgänglich notwendig werden, mußten alle die vielen schmerzlichen und peinlichen Geschäfte mit viel größerer Mühe getan werden, und alle lasteten nun auf mir allein; denn meine Tochter durfte und wollte ich in diesen Tagen nicht mit neuen Sorgen und Kümmernissen beladen. Ihres Sohnes Krankheit hatte sich zwar ein wenig besser gestaltet, dennoch schwebte der Tod mit breiten Flügeln noch über des Kindes Haupte, und die Mutter war unentbehrlich an seinem Krankenlager. Sie schlief durch viele Nächte beinahe gar nicht. – Wenn sie in mein Zimmer kam, und einige Augenblicke ruhte,[372] fielen ihr die Augen beinahe gewaltsam zu, ihre Erschöpfung war sichtbar. Ich mußte noch für ihre Gesundheit zittern, und so konnte und wollte ich keine Hilfe von ihr erwarten. Alle die anstrengenden und innerlich aufregenden Besorgungen, wie sie bei geliebten Toten nötig sind, lagen daher mir allein ob. Wohl besuchte uns Fräul. Luise von Gärtner sogleich, und übernahm gütig die Anstalten für unsere Traueranzüge, B. Lago unterstützte mich bei manchen schriftlichen Abfassungen, am meisten aber leistete uns Freund Perger, der damals zu unserm Glücke in Baden war, und der nicht diesmal allein, sondern jederzeit, wenn es trüb am Horizonte unsers Hauses oder eines andern seiner Freunde aussah, sogleich erschien, und Trost, Rat, Hilfe brachte, sofern es in seiner Macht stand. Er besuchte uns, er stand uns mit Rat und Tat bei und suchte später so viel zu unserer Aufheiterung beizutragen, als er konnte und wir zu empfangen fähig waren. Ich konnte es diesem treuen Freunde, der seinem Kollegen leider nach einem halben Jahre in die Ewigkeit folgte, während seines Lebens nicht genug danken, was er bei frühern Gelegenheiten und namentlich in dieser schweren Periode für mich und die Meinen getan. Mein Dank und mein treues Andenken folgt ihm in jene bessere Welt.

Am 19. September war die Beerdigung. Mehrere Freunde und Freundinnen, vor allem viele Kollegen und durch Dienstverhältnisse Pichlern befreundete Männer kamen aus Wien dazu heraus. Der Leichenzug war feierlich und ansehnlich, und die Teilnahme, welche die Bewohner Badens dem Verstorbenen und auch uns zollten, bewies, daß sie sich dankbar des vielen Guten erinnerten, welches ihnen durch Pichlers Vermittlung[373] zugeflossen war; auch sagte eine unserer Bekannten, welche die Verdienste kannte, die der Verklärte sich um Baden erworben: er sei in seinem Lande gestorben.

Er war nun tot; seine Gestalt aus unserer Mitte, aus der Welt verschwunden. Nirgends konnten wir ihr mehr begegnen, sie nirgends finden als in unsern Herzen. Seine liebevolle Sorge für uns, sein Trost, sein verständiger Rat, die Beruhigung, die für mich darin lag, mit jeder Angelegenheit, jedem Geschäft zu ihm flüchten und einer redlichen verständigen Auskunft oder Belehrung aus seinem Munde sicher sein zu können; dieses so wohltätige Verhältnis hatte nun aufgehört, und wir fühlten uns sehr verlassen; um so mehr, als Augusts Zustand noch immer bedenklich blieb, und der Arzt durchaus die Gefahr noch nicht für beseitigt erklären wollte. Eine große Erleichterung war es uns in dieser Epoche, daß er den Mädchen den freien Zutritt zu ihrem kranken Bruder erlaubte, nachdem sie durch einige Wochen getrennt gewesen, und uns aus dieser Trennung manche Beschwerlichkeiten erwachsen waren. Aber nun trat eine neue Sorge ein. Die Mädchen wußten natürlicherweise um den Tod des Großvaters, dem Knaben war er aus begreiflichen Ursachen verborgen geblieben, und es kam nun darauf an, ihn in dieser für ihn heilsamen Unwissenheit zu lassen. Die Dienstboten waren verläßlich, wir konnten hoffen, daß sie das Geheimnis vor dem Knaben bewahren würden. Aber die Schwestern? Zwei Kinder von 10 und 6 Jahren, die eine Sache, welche sie so nahe betraf, welche sozusagen in ihr ganzes kindliches und häusliches Leben verwebt war, mit keinem Worte berühren, ja, wenn Bruder die Rede auf den Großpapa bringen würde,[374] sich in Wort und Tat so geschickt benehmen sollten, daß der Kranke keinen Verdacht schöpfen konnte? Das war eine schwierige Aufgabe, die uns mit großer Angst wegen des schädlichen Einflusses erfüllte, den ein unvorsichtiges Wort auf den noch sehr schwachen Kranken, der seinen Großvater herzlich liebte, haben könnte. Wir selbst beobachteten die Vorsicht, so oft wir ins Krankenzimmer traten, die Trauerkleider, welche wir außer dem Hause trugen, abzulegen.

Aber die guten, herzlieben Kinder waren von ihrer Mutter so verständig erzogen, und hatten selbst so viel Einsicht, daß es ihnen nicht schwer ward, Gewalt über ihre Zunge auszuüben, und während 4–5 Wochen, solange nämlich unser Aufenthalt in Baden Augusts wegen währte, der sich nur langsam erholte und dessen Krankheit allerlei wechselnde Symptome zeigte, mit keinem Blick, keinem Worte zu verraten, daß sein Großvater, um den er so oft fragte, und sich damit beschäftigte, wie denn der noch stets kranke und so große, schwere Papa in den Wagen und nach Wien geschafft werden würde? nicht mehr lebte. Wenn man bedenkt, wie schwer es oft Erwachsenen fällt, sich in solchen Fällen nie zu verraten, so muß man die Kinder bewundern, welchen die Liebe zum Bruder und der Gehorsam gegen die Mutter eine solche Herrschaft über sich selbst gab.

Nach und nach kehrten die wenigen Bekannten, welche den Aufenthalt in Baden noch mit uns teilten, nach Wien zurück, und es wurde immer stiller um uns. Nur unser treuer Perger hielt bei uns aus und besuchte uns täglich, brachte unter andern den Kindern die »Flinserln« von Seidl mit und veranlaßte sie, einiges davon auswendig zu lernen, was die Kinder allerliebst[375] rezitierten, so z.B. Fanny: den Laundler und alle drei zusammen eine Szene, wo zwei Bauern vor dem Amtmann erscheinen, und sich so albern benehmen, daß ihnen der Amtmann rät, beim nächsten Jahrmarkt sich Verstand zu kaufen. Auch hatte diese, die überhaupt Anlage zur Poesie zeigte, eine Art kleiner Komödie geschrieben, die Bezug auf ein unter ihnen gewöhnliches Spiel hatte, und die die beiden Mädchen ebenfalls mit Lebendigkeit und Sinn vortrugen. Das waren nun die einzigen lichten Punkte in unserer trüben Einsamkeit, außer einigen freundlichen Besuchen, die freilich im Oktober in dem menschenleer gewordenen Baden immer seltener wurden. Bald war die Gräfin Csaky, die ich vor einigen Jahren in Wien kennen gelernt und zuweilen besucht hatte, die einzige Bekannte, welche für uns in Baden existierte und diese Frau, mit der ich früher keinen genaueren Umgang hatte, erwies uns nun in unserer traurigen Lage manche Gefälligkeit, für die ich ihr ewig dankbar sein werde. Sie besuchte uns, sie setzte sich an Augusts Bette, brachte ihm Spielzeug, spielte mit ihm, versorgte ihn mit Backwerk, das sie für ihn von Wien kommen ließ, und zeigte dadurch, daß sie in ihrem schönen Herzen durch eignes Unglück (sie hatte von 4 oder 5 Kindern nur einen Sohn übrig behalten) mit dem anderer, wenn sie auch nicht unter ihre nächsten Freunde gehörten, Teilnahme zu fühlen gelernt habe. Auch Dr. Habel, unser Arzt, erwies sich dem guten und geistvollen Knaben gefällig. Er blieb oft lange an seinem Bette und unterhielt sich mit ihm über dessen Lieblingsfach, die Naturkunde.

Ganz besonders traurig, ja schaurig möchte ich sagen, war es meiner Tochter und mir abends in dem großen Tafelzimmer, einer Art Saal, wo wir sonst in behaglicher[376] Vereinigung mit den Unsrigen und einigen Freunden, nicht dies Jahr allein, sondern auch in früheren so oft gesessen und uns mit Plaudern, Spielen, Lesen unterhalten hatten. – Nun war das Haupt des Hauses tot, der einzige Sohn meiner Tochter kaum noch dem Schrecken des Todes entronnen; die Schwestern waren bei ihm, die Dienstleute ebenfalls dort oder anderwärts beschäftigt. Wenn wir beide Verlassene so in der Dämmerung das weite Gemach, das ein paar auf den Tisch gestellte Kerzen kaum zu erhellen vermochten, an den langen Herbstabenden durchschritten, o wie einsam, von aller Freude geschieden, dünkten wir uns! Es war eine sehr trübe, vielleicht die trübste Epoche meines langen Lebens.

Aber es geht auf dieser Erde alles vorüber, das Beste wie das Schlimmste. Nichts hat Halt, nichts Bestand. So waren einundvierzig glückliche Jahre, welchen es zwar an düstern Stunden, Tagen, Wochen nicht gefehlt, vorübergegangen, so hatten wir die Schreckenstage von Pichlers Tode und Augusts großer Gefahr überstanden, und so entschwanden denn auch die düstern Tage des Oktobermonats, und der Zeitpunkt, daß wir den Schauplatz so vieler Leidensszenen verlassen und nach Wien zurückkehren sollten, war mit Ende dieses Monats gekommen.

Erst in Wien, wohin ihn an der Seite seiner Mutter sein Arzt und unser gütiger Freund Dr. Habel begleitete, erfuhr der Knabe, daß sein Großvater bereits seit sechs Wochen tot war. Es erschütterte ihn sehr; – aber die mildernde Kraft, die selbst in der bloßen Vorstellung dieses längeren Zwischenraumes lag, die Schwäche, welche des kaum Hergestellten Empfindungen und Gedanken noch gleichsam mit einem[377] Schleier umhüllte, und endlich die jugendliche Beweglichkeit nahmen dem Eindruck, wie schmerzlich er auch war, seine schadenbringende Macht. Auch dieser gefürchtete Moment ging vorüber. August erholte sich allmählich; seine Jugendkraft, seine Gesundheit, seine geistige Tätigkeit erreichten nicht allein wieder den Grad, den sie vor der Krankheit hatten, sie entwickelten sich vermehrt, kräftiger, dauernder als zuvor. – Er ward vom Knaben zum hochaufschießenden, blühenden Jünglinge, der sich durch seine Tüchtigkeit die Liebe seiner Kameraden, das Wohlwollen seiner Lehrer, die Achtung aller erwirbt, die mit ihm genauer bekannt sind.

Er also und seine beiden Schwestern machten von nun an die einzige Freude und Erheiterung meines Lebens aus. Wir zogen uns von vielen frühern Bekanntschaften zurück, vermieteten, weil große Einschränkungen gebieterisch notwendig gemacht worden waren, die Hälfte unserer Wohnung, dankten von fünf Dienstboten drei ab, und suchten nun unserm vereinsamten Leben durch die Kinder Gehalt und Zufriedenheit zu geben.

Gedichtet im eigentlichen Sinne habe ich nichts mehr. Herausgegeben aber einen Band: Zerstreute Blätter, nämlich kleine Aufsätze, Betrachtungen, Bemerkungen über allerlei Vorfälle des Tages, bei dem Verlust teurer Freunde usw., welche längst geschrieben oder auch wohl hier und dort in Zeitschriften erschienen waren. Später wurde ich durch ein zufälliges Ereignis auf die Idee der Zeitbilder gebracht. Wir erhielten nämlich zum Ansehen für die Kinder verschiedene neuere und ältere Kupferstiche, und unter den letzteren die einst wohlbekannten Cris de Vienne – Darstellungen von Personen aus den untern Ständen,[378] welche allerlei auf den Gassen zum Verkauf ausrufen oder ihre Tätigkeit öffentlich feilbieten. Der Anblick dieser Gestalten, dieser Trachten rief mir die Erinnerungen meiner Jugend zurück. Ich sprach darüber mit Herrn von Graffen, dessen in diesen Blättern schon erwähnt wurde, und der sich gerade gegenwärtig befand. Er faßte den Gedanken auf, die Zeit, in der diese Blätter gezeichnet und herausgegeben wurden, im Gegensatze zu der jetzigen zu schildern. Er glaubte, ich könnte dies wohl unternehmen, da ich mich jener Perioden noch lebhaft erinnere. Dieser Vorschlag gefiel mir; aber nicht so wollte ich ihn ausführen, wie ihn wohl Herr von Graffen gemeint haben mochte, der eine Art von Memoiren dabei im Sinne hatte und vermutlich glaubte, ich sollte in eigner Person erzählen, wie es damals gewesen, wie es in meiner Eltern, in meiner Freunde Haus zugegangen usw. Das aber war den gegenwärtigen Blättern vorbehalten; ich zog es daher vor, eine Familiengeschichte zu fingieren, worin drei verschiedene Generationen nach und nach auftreten und als Repräsentanten der Sitten, Ansichten, Denk- und Handlungsweisen nicht bloß das Zeitalter der Kaiserin Maria Theresia, sondern auch die Periode von ihrem Tode bis zu Ende des ersten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts und endlich unsere jetzige Welt charakterisieren sollten. Dichtung kann ich dieses Werk nicht nennen; es waren zusammengetragene Beobachtungen, Erinnerungen, Schilderungen wirklich erlebter Schicksale, persönlich gekannter Menschen. Die Zeiten und ihre Gestalt waren die Hauptsache, der Roman nur der Einkleidung wegen da, und es war mir stets unlieb, wenn, falls die Rede auf dies letzte Erzeugnis meiner Feder kam, davon als von einem Roman gesprochen[379] wurde. Aber Romane sind jetzt so entschieden die Lieblingslektüre aller halb- und ganzmüssigen Menschen, daß dieser Charakter an einem Unterhaltungsbuche zuerst aufgesucht und eifrig festgehalten wird. Er ist auch leichter zu erfassen, dahingegen das Tiefercharakteristische, das Gepräge, welches Begebenheiten, Ansichten, die Kulturstufe usw. einer Zeitperiode und den in derselben lebenden Menschen aufdrücken, von den meisten gar nicht beachtet und daher auch nicht gewürdigt wird. Die Erzählung, das, was geschieht, ist ihnen die Hauptsache.

Dies also ist und wird aller Wahrscheinlichkeit nach mein letztes Werk bleiben. Ich fühle sehr bestimmt die Abnahme geistiger Lebensfrische und geistiger Kraft. Mein Gedächtnis, so getreu in Aufbewahrung alter Erinnerungen aus meiner Jugend, ja aus meiner Kindheit, verläßt mich jetzt zuweilen in Beziehungen auf die jüngste Vergangenheit, und ich habe von hochbetagten Menschen öfters dieselbe Klage äußern gehört. Ein alter General, den ich kannte, nannte das sein junges und altes Gedächtnis – und während sich ihm das junge treu bewährte, wenn es sich um Szenen aus seinem Jünglings- und Mannesalter handelte, konnte er sich oft der Vorfälle der letzten Tage nicht entsinnen. Es ist also dieses eine sehr gewöhnliche Erscheinung, ebenso wie die Abnahme der Gesichtsschärfe und des feinen Gehörs, und gehört so häufig mit zu den Beschwerden der höhern Jahre, daß derjenige, der sich darüber beklagen wollte, die Antwort verdiente, die ein alter, aber noch sehr lebenslustiger Mann einem gab, der sich über die Unannehmlichkeiten des hohen Alters beklagte: »Wer nicht alt werden will, muß sich jung erschießen lassen.« In dieser Überzeugung ertrage[380] ich denn mit Gottes Hilfe, so geduldig als ich kann, die Abnahme meines Gehörs, die mich schon seit vielen Jahren von einer meiner liebsten Unterhaltungen, dem Genuß des Theaters, und sehr oft auch von aller Teilnahme am gesellschaftlichen Gespräch ausschließt, wenn dies nicht unmittelbar an mich gerichtet und mit lauter Stimme geführt wird. Gar manche Entbehrung, gar manche trübe Stunde sind die unausbleiblichen Folgen dieser Altersgebrechen, sind es um so mehr, als eben auch das Alter und die fortschreitende Abnahme der körperlichen Kräfte mich an so vielem hindert, was ich sonst und noch vor wenigen Jahren unternehmen konnte, wie an weiteren Spaziergängen, öfteren Besuchen meiner Bekannten in der Stadt usw. Dazu kommt noch die veränderte Richtung des geselligen Tones, der Tagesordnung und der Denk- und Lebensweise der jüngeren Generation überhaupt.

Vor Zeiten versammelte man sich gegen 7 Uhr abends, die Frauen saßen am runden Tisch mit ihren Handarbeiten, die Herren saßen dazwischen oder daneben, und ein allgemeines Gespräch, dem der Herren meist höhere Geistesbildung einen bedeutenden Inhalt gab, während die lebhafteren Gefühle der Frauen ihm Frische und Wechsel erteilten, vereinigte die ganze Gesellschaft. Sehr gebildete, ja gelehrte Männer verschmähten es nicht, in diesen Kreisen oft und gern zu erscheinen, und solcher Kreise gab es im höheren Mittelstande viele. Meine Wohnung z.B. in der Vorstadt, die seit mehr als vierzig Jahren dieselbe ist, schien, nicht bloß in früherer Zeit oder solange mir die hübsche Tochter noch im Hause lebte, sondern viel später, bis zur Julirevolution, welche in unser ganzes politisches[381] und soziales Leben einen gewaltigen Umschwung gebracht hat, nie so entlegen und schwer zu erreichen, wie man es jetzt findet und oft zur Entschuldigung des langen Wegbleibens sagt. Viele und bedeutende, einheimische sowohl als fremde gebildete Männer, Gelehrte, Künstler kamen oft zu mir, und ich traf diese und ihnen ähnliche auch in den Häusern meiner Freundinnen. Jetzt ist das alles anders geworden. Nicht bloß die elegante Welt, auch viele aus der gebildeten Mittelklasse haben eine veränderte Tagesordnung angenommen. Von 2 bis 6 Uhr nachmittags wird in den verschiedenen Familien verschiedentlich zu Mittag gegessen, und es gehört große Aufmerksamkeit dazu, um sich die Stunden, wo man in diesem oder jenem Hause zu Tische geht, wenn man Besuch dort machen will, zu merken. Eine Visitenrunde in mehreren Häusern, wie man sie sonst nach Tische oft zu machen pflegte, läßt sich nun kaum ausführen, weil man in dieser Familie eben zu Tische geht, in einer andern schon speist, in der dritten oder vierten die Damen noch an der Toilette findet, um sich zum Diner anzukleiden. Eine Folge dieses späten und ungleichen Tafelns ist dann auch die Gewohnheit, die Nachmittagsvisiten auf den eigentlichen Abend zu verschieben, auf jene Zeit zwischen 6–9 Uhr, welche sonst der Geselligkeit, einem ruhigen und heitern Beisammensein gewidmet war. Nun ist dies die Zeit des Kommens und Gehens, wo jede Stunde der Kreis aus andern Mitgliedern besteht, wo nur flüchtige Gespräche über die Tagesneuigkeiten, Witterung usw. mit jedem Ankommenden und daher sehr oft Wiederholungen stattfinden. Erst später, um die Stunde ungefähr, wo man sich sonst zurückzuziehen und nach Hause zu gehen gewohnt war,[382] tritt der bunte Schwarm vergnügungsmüder, von Theater, von zahllosen Besuchen, von unbedeutenden und ewig wechselnden Gesprächen übersättigter Gäste ein, und es ist nicht zu wundern, wenn dann die Unterhaltung gerade so schal, das ganze Benehmen gerade so frivol, ungenügend und seinen wenigen Gehalt von Äußerlichkeiten, von Gemälden, Statuetten oder andern Colifichets, die in den Zimmern zur Schau gestellt sind, entlehnend, ausfüllt, wie es gemeiniglich ist. Diese Gehaltlosigkeit ist es, welche den Namen Salon in der literarischen Welt so in Verruf gebracht hat, daß die geistreicheren Männer, die tüchtigeren Köpfe einen Ekel davor bekommen haben und lieber auf der Treppe umkehren, als einen solchen Salon betreten wollen. Hierzu kommt noch das stets mehr überhandnehmende Tabakrauchen, ohne welches der größte Teil der Männer jetzt nicht mehr leben und das er doch in Gegenwart der Frauen oder in dem unseligen Salon nicht verüben kann; sowie die zahllosen Kaffee- und Gasthäuser mit allen Raffinements des Luxus und Komforts versehen, welche diesen Tabakrauchern die angenehmsten Möglichkeiten darbieten, diesem Gelüst nachzuhängen und zugleich allen Rücksichten von Höflichkeit und Verbindlichkeit ledig zu sein, denn im Gast- und Kaffeehaus zehrt man für sein Geld und geniert sich wegen niemand. Ob die feinere Sitte, ob das Familienleben, ob Sparsamkeit und Ordnungsliebe dabei gewinnen? Das mögen gelehrte Herren, Statistiker, Pädagogen usw. entscheiden.

Genug! Für mich geht aus dem allen hervor, daß die jetzige Welt sich auf eine solche Art aus der vorigen entwickelt hat, daß sie nicht mehr für mich oder ich eigentlich nicht mehr für sie passe. Hinter ihrem[383] raschen Vorwärtseilen auf einer ganz neuen Bahn muß das langsame Alter zurückbleiben, und mit unangenehmer Überraschung gewahrt es nach dem Verlauf weniger Jahre den ungeheuern Abstand zwischen Einst und Jetzt, – wie alles ringsumher, vom Kleinsten bis zum Größten, sich anders, ja meist ganz entgegengesetzt gestaltet hat, so daß keine frühere Angewöhnung, keine Ansicht von Leben und Literatur, keine Vorliebe oder Ungunst, keine Geschmacksrichtung von ehemals mehr in der Gegenwart rechte Geltung finden kann, und die letzten 10 bis 12 Jahre hierin einen größeren Umschwung erzeugt haben, als sonst 50 oder 60 Jahre nicht bewirkten. Jeder, der jetzt sein 50. oder 60. Lebensjahr zurückgelegt hat, muß das einsehen und zugestehen. Wer redet jetzt noch von Wieland, Herder, Klopstock? was ist aus der hohen Verehrung geworden, die die gebildete Welt noch vor 20 Jahren für das klassische Altertum hatte? was aus dem kindlichen Vertrauen in die Aussprüche bewährter Autoritäten überhaupt, und was ersetzt die Beruhigung, die man einst daraus schöpfte? usw. Nein, es ist gewiß, das Vergangene, das, was vor 20 bis 30 und noch mehr, was vor 50 bis 60 Jahren in Literatur, Lebensweise, Ansicht, Gewohnheit usw. gegolten hatte, wird mit siegender Gewalt hinausgedrückt aus der Gegenwart, und eine neue Ära beginnt, deren Einfluß sich vom Kleinsten bis zum Größten fühlbar macht.

So weiche denn das Vergangene, und was dieser Vergangenheit angehört, dem Impuls, den die Jetztzeit mit so entschiedener Macht gibt, ziehe sich von der fremdgewordenen Welt zurück; – und wohl! den altgewordenen Personen, die, sowie ich, durch Gottes Güte ein schönes, beglückendes Asyl in ihrem Hause[384] durch Kinder und Kindeskinder finden. Nur hier hören die unangenehmen Berührungen der stiefgewordenen Welt auf, und selbst hier muß das Alter sich bescheiden und zugeben lernen, da auch die es zunächst Umringenden ebenfalls dem Neuen, dem Fortschreitenden angehören und angehören müssen.

1

Paulus an die Römer. V. 26. Kap. 8.

Quelle:
Pichler, Caroline: Denkwürdigkeiten aus meinem Leben. 2 Bände, Band 2, München 1914, S. 385.
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