114. Agathokles an Phocion.

[79] Nikomedien, im Mai 305.


Die letzte Stunde naht, und mit vollem Bewußtseyn, in der Fülle der Jugend und Gesundheit, gehe ich ihr entgegen. Es ist seltsam, es ist ganz anders, wenn in des Greisen verwelktem Körper sich längst Alles zur Auflösung neigt, und die letzte Stunde nur der letzte Tod ist;1 anders, wenn eine Krankheit die künstliche Maschine zerstört, oder gewaltsam zerrüttet, und in peinlichen Gefühlen, oder dumpfer Betäubung der letzte Augenblick ein Leben endet, das diesen Namen nicht mehr verdient. Morgen um diese Zeit bin ich todt! Das konnte ich mir, das müssen sich viele tausend Menschen sehr oft denken, denn wer weiß, wie lange ihm zu leben[79] bestimmt ist; aber im gewöhnlichen Leben mischt sich die Vorstellung der Ungewißheit und die tägliche Erfahrung des Gegentheils mächtig zu diesem Gedanken, und er verliert sich in ein dunkles Vielleicht, das nur bei dem Ernsteren eine lebhaftere Betrachtung des Todes, und den Entschluß erzeugt, stets wachsam und vorbereitet zu seyn.

Ich weiß aber bestimmt, daß morgen um diese Zeit meine letzte Stunde bereits vorüber, und der dunkle Vorhang aufgezogen seyn wird, der die Geheimnisse der Geisterwelt vor unsern Blicken verhüllt. Morgen um diese Zeit ist dieser Körper, in dem ich jetzt noch denke, handle, als eine starre, kalte Masse zu nichts gut, als in dem Schooß der Erde in seine Elemente zurückzukehren. Agathokles ist nicht mehr. Sein Wirken hat aufgehört, kein Freundesauge erblickt ihn mehr, kein Ohr vernimmt den Ton seiner Stimme.

Und der Geist? – Mit Entsetzen wendet sich in diesen ernsten Augenblicken die schaudernde Seele von dem Gedanken der Vernichtung hinweg, hinweg von allen spitzfindigen Systemen der Philosophie, und umfaßt mit Innigkeit und kindlichem Glauben die trostvollen Verkündigungen der Religion. Ja, ich werde leben! Noch sehe ich die Bedingungen meines künftigen Seyns nicht ein. Wir stehen aber vor der geschlossenen Pforte, und quälen und mühen uns ab, Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten zu ersinnen; wie es aber seyn wird, ob der Blindgeborne sich eine richtige Vorstellung von den Farben hat machen können, die, wenn sein Auge geöffnet wird, mit der Wahrheit übereinstimmt? Das ist eine Frage, die der menschliche Verstand beinahe mit Gewißheit verneinen kann. Alles, was wir mit großem Rechte erwarten[80] können, ist, daß es dem, dessen Wille redlich war, besser gehen muß, als hier.

Und war mein Wille redlich? – Ja, er war es. Dies Zeugniß gibt dem Sterbenden sein Gewissen, und in diesen furchtbaren Augenblicken fällt jede Maske, auch die der Selbsttäuschung. Ich habe eine große Idee im Herzen getragen, ich habe ihrer Verwirklichung Alles aufgeopfert, was Menschen theuer ist. Habe ich geirrt, so trage ich die Schuld der Menschheit. Aber ich habe nicht blos mein, ich habe noch eines andern – über Alles edeln Wesens Glück auf jenem ernsten Altar geschtachtet – das Glück meines Weibes! – Durfte ich das? – O barmherziger Gott! Wenn ich das nicht durfte! – Wenn jene Idee dieses Opfers nicht werth war! Wenn – mein Geist verliert sich in Zweifel und Unruhe, und ist in solchen Augenblicken der Verzweiflung nahe – aber leuchtend und siegreich erhebt sich der Gedanke wieder: Mein Wille war gut, und wie der Leitstern den Schiffer in stürmischen Nächten, führt er mich aus Angst und Dunkel heraus in lichte Klarheit und stillen Frieden.

Mein Zeitliches ist besorgt. Ich habe an Constantin geschrieben, und ihm noch ein Mal mein Weib und meine Kinder empfohlen, wenn er einst das Ziel erreicht, zu dem er rasch hinstrebt. Mein Grab ist die erste Stufe, von der er sich mächtig aufwärts schwingt – so habe ich wohl ein Riecht, seinen Schutz anzusprechen.

Tiridates und Calpurnia, die edlen Freunde, deren Liebe ich so viel verdanke, haben mir thätige Hülfe versprochen, sie haben sich angeboten, meine Wittwe, meine Waisen mit sich in ihr Reich zu nehmen, wenn ich es wünschte, wenn ich sie dort vielleicht sicherer glaubte.[81] Aber Theophania sehnet sich, den Rest ihrer Tage unter Christen, an der Seite einer langgeprüften Freundin, die sie vor Jahren hat kennen lernen, zuzubringen? Welchen Schutz kann ihr auch ein bundesverwandter König gewähren, wenn es dem blutigen Galerius einfiele, seine Wuth und Rache auch auf sie auszudehnen? Ist wohl Bundesgenosse mehr, als ein tönender Name für Unterthan? So wird sie in Apamäa nicht weniger sicher seyn, als in Ecbatana; sie ist seinen Augen entrückt, das ist alle Sicherheit, die sie hoffen kann.

Ich habe sie noch ein Mal gesprochen, und meine Kinder noch ein Mal gesegnet. Nächtlich und furchtbar, und dennoch, so unaussprechlich theuer kehrt die Erinnerung an diese heilige Stunde nur zu oft in meine Seele zurück. Zu oft! denn ich soll ruhig seyn, ich soll, durch keine irdische Bande mehr gefesselt, nur der Vorbereitung auf die große Zukunft leben. Aber das Herz behauptet mit unwiderstehlicher Kraft sein Recht. Ich liebe, Phocion! jetzt an der Schwelle der Ewigkeit liebe ich stärker als je, denn höher als je steht das Bild meines Weibes vor mir!

Gestern ward es mir vergönnt, sie zu sehen. Mit hochschlagendem Herzen trat ich den Weg an. Im Atrium erblickte ich von Weitem die Königin, aber sie floh bei meinem Anblicke in's Innere des Hauses. Ich folgte langsam mit heimlichem Beben, da öffnete sich die Thüre, und Theophania, bleich, zitternd, in fürchterlicher Bewegung, sank schreiend an meine Brust. Calpurnia entfloh zum zweiten Mal schluchzend, und ließ mich mit der Ohnmächtigen allein. Meine Liebe, meine Stimme brachte sie zu sich selbst, und nun begann eine Scene, deren Erinnerung[82] noch in jener Welt mein Herz zerreißen wird, wenn anders dort unsre Empfindungen den irdischen gleichen.

Selbst tiefgebeugt, selbst von dem Anblicke Alles dessen, was ich so heiß liebte, und so bald verlassen sollte, verwundet, mußte ich Stärke für sie und mich haben, ich mußte ihr Trost zusprechen, ich mußte sie zur Ergebung bereiten. Es gelang doch. O der ernste Wille ist allmächtig, er ist der Gott in unserer Brust! Und, Phocion! bei dieser reinen Seele, bei diesem kindlichen Glauben an Gottes weise Fügung, bei diesem heiligen Streben nach dem Guten, um des Guten willen, war es nicht so schwer, als ich fürchtete. Sie begriff mich, sie faßte sich, sie war fähig, ihre Gedanken von sich selbst hinweg auf etwas Andres zu richten, und wieder jene schöne Gluth zu empfinden, die oft in unvergeßlichen Stunden, wenn Constantin und ich mit ihr von unsern Planen sprachen, ihre Seele begeistert hatte. Sie war nicht blos Gattin und liebendes Weib, sie war Christin im erhabensten Sinn des Worts. Ach, sterben für ein Ideal – für einen großen, Menschen beglückenden, Plan – es ist schwer, es ist groß, wenn man Geliebte zurückläßt! Aber leben, leben ohne dich – rief sie, indem sie mich heftig umschlang – das ist weit schwerer, es ist unaufhörlicher Tod! Ich fühlte die Wahrheit dieser Klage, und dieser Ausdruck der Liebe und des Schmerzens überwältigte mich, ich hielt meine Thränen nicht zurück. Sie sah sie fließen. Jetzt umfaßte sie mich noch inniger, und bei dem herben Schmerz der Trennung, bei dem Bewußtseyn, wie elend wir Beide ohne einander seyn würden, beschwor sie mich, ihr eine Bitte zu gewähren, die sie schon[83] lange im Herzen trüge, die allein es ihr möglich gemacht habe, ihr Leid zu ertragen. Ich versprach es ihr unbedingt; denn was konnte dies reine Gemüth wohl verlangen, was nicht mit der Tugend übereinstimmte? Schüchtern und behutsam, in leisen aber kühnen Muthmaßungen über die Möglichkeit des Zusammenhangs im Geisterreiche über den Zustand nach dem Tode, über die Macht der Sympathie, entwickelte sie zu meinem Erstaunen ein schönes seltsames System, das aus christlichen und platonischen Ideen zusammengesetzt, mich durch seine Consequenz überraschte, und in mir zugleich die süßesten Hoffnungen erregte, deren Wahrscheinlichkeit ich nichts entgegen zu setzen wußte, als den Mangel an solchen Erfahrungen. Nun drang sie mit heißer Liebe in mich, ich sollte ihr versprechen, wenn es möglich wäre, ihr sichtbar zu erscheinen, oder falls dies außer den Grenzen meiner Macht wäre, sie doch nie zu verlassen, und um sie und unsre Kinder zu schweben, damit sie den süßen Trost genieße, meine Gegenwart zu ahnen, und vielleicht in jenen leisen Einwirkungen, wie aufmerksame Fromme sie wohl kennen, gewahr zu werden. Ihre Schwärmerei riß mich hin, es war mir in diesem Augenblicke mehr als möglich, es war mir beinahe gewiß, daß wir uns einander so nahe bleiben könnten – und – noch ist der hohe Zauber dieser Hoffnungen nicht entkräftet, und weder Philosophie noch Religion erheben sich siegreich gegen sie. So laß sie mich halten und pflegen. Morgen um diese Zeit ist Alles klar.

Ich hatte meinem Weibe den heiligen Schwur gethan; aber ich sollte auch das Abendmahl mit ihr zugleich zur Besieglung dieses Bundes empfangen. Dies, hoffte sie,[84] würde mein Versprechen unwiderruflich, und für die Geisterwelt bindend machen. Ich versprach ihr auch dies – o was hätte ich diesem so liebenden, durch mich so tief verwundeten Herzen versagen können! Nun ganz zufrieden, ganz gefaßt ließ sie unsre Kinder bringen. Sie legte mir das jüngste, das ich noch nicht gesehen hatte, in die Arme, ich sollte es segnen. Welch' ein Augenblick für das Vaterherz! Dies Kind, das in der Geburt schon verwaiset war, jener hoffnungsvolle Knabe, dessen Erziehung der süßeste Wunsch meines Herzens gewesen war, dieses Weib, an deren Seite zu leben, seit meiner Kindheit mir die höchste Stufe irdischer Seligkeit geschienen hatte – und nun Alles – Alles das verlassen und aufgeben zu müssen!

Es erhob sich ein Sturm in meiner Seele; aber Ein Blick auf mein Weib, das still und ergeben das Kind am Mutterbusen hielt, auf dies Gesicht, im das ich den Frieden zurückgeführt hatte, gab mir Kraft, ihn nicht wieder zu zerstören. Jetzt trat Apelles ein, er reichte uns das Abendmahl. Vielleicht war es seit seiner Einsetzung nicht mit mehr Wehmuth und Rührung empfangen worden! Auch hier schied der Liebende von Geliebten in Erwartung eines nahen gewissen Todes.

Als ich aufstand, fiel mein Blick auf die Wasseruhr. Die letzte glückliche Stunde auf Erden war vorüber. Der Offizier trat ein, und jetzt war meine und Theophaniens Standhaftigkeit dahin. Mit einer krampfhaften Heftigkeit umschlangen wir uns und wünschten und dachten Eins an des Andern Brust zu vergehen. Ich drückte die Kinder an mein Herz, es schien mir unmöglich, mich loszureißen, das Verhängniß gebot – der Centurio kam zum zweiten[85] Mal – Theophania sank mit einem lauten Schrei in Ohnmacht, ich legte sie in die Arme ihrer herbei geeilten Sclavinnen, und floh.

Im Atrium fand ich mich wieder schluchzend an eine Säule gelehnt, als eine bekannte Stimme mich beim Namen rief. Es war die Königin, auf dem ernsten Wege zum Tode erschien sie mir noch ein Mal. Sie winkte den Zeugen, sich zu entfernen, sie trat auf mich zu, schlug ihre Arme um mich, und gestand mir, daß sie mich von dem ersten Augenblicke unserer Bekanntschaft an geliebt, daß sie mich jedem andern Manne vorgezogen habe, und daß ich ihr noch jetzt über Alles in der Welt theuer sey. Welcher Moment, zu welchem Geständniß! So war ich bestimmt, zwei der edelsten Herzen zu brechen! Und warum sagte sie mir das? Warum goß sie diesen bittern Tropfen noch in die Schale, die ohnedies so voll war? Das hätte Theophania nicht vermocht. Sie hätte ihr Geheimniß mit in's Grab genommen, wenn seine Enthüllung dem Freunde so schmerzlich seyn mußte.

Aber ich habe ihr verziehen, ich ehre ihre Vorzüge, und danke ihr die Liebe und Sorge für mein theures unglückliches Weib, gleichviel aus welcher Quelle sie fließen mag.

Und so ist mein Tagwerk vollendet. Mit Scheu, aber dennoch mit Zuversicht nahe ich mich dem Throne des allsehenden Richters. Unendlich ist unsre Schwäche, aber auch seine Güte ist unendlich, und wenn auf der richtenden Wage die schimmerndsten Tugenden in nichtigen Staub zerflattern, und so mancher geheime Gedanke in schrecklicher Blöße vor uns stehen, und wider mich zeugen wird – dann flüchtet der zagende Sohn des Staubes zu dem erbarmenden Vaterherzen; denn von dem Blut, das auf[86] Golgatha strömte, floß auch ein Tropfen der Entsühnung für mich. Das ist unser Erbtheil – wir sind Erlöste!

Nun lebe wohl, theurer Phocion! Wenn du diese Tafel in deiner Hand halten wirst, ruht meine Hülle längst im Schooße der Erde, und die Verwesung verzehrt die Gestalt, unter welcher dein Freund, dein Schüler, dir erschien. Aber, er stirbt dir nicht! Auch jenseits wird ihn dein Andenken begleiten, und der Dank für so manche mir geweihte Stunde, so manche Lehre, und so manches wirksamere Beispiel wird in jener Welt vielleicht noch reiner und stärker gegen dich entglühen. Am offenen Grabe laß ihn mich dir noch ein Mal wiederholen, mein Lehrer, mein zweiter Vater! und sey versichert, wenn es die Vorsicht erlaubt, und die furchtbaren Gesetze der Geisterwelt, so wird nicht Theophania allein ein Zeichen meines Daseyns erhalten.

Es ist Mitternacht. Die kleine Lampe, die mir leuchtete, erlischt – so erlischt bald mein Leben. Ich gehe zur Ruhe, der Schlaf behauptet seine Rechte auf den erschöpften Körper – morgen schläft er einen unweckbaren. Leb' wohl.

Fußnoten

1 Mors non ultima venit, quae rapit ultima mors est.

Seneca.


Quelle:
Caroline Pichler: Agathokles. Erstes bis Sechstes Bändchen, Schriften, Band 36, Stuttgart 1828, S. 79-87.
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