94. Bedencke die kürtze dieses lebens

[160] Wie mancher mensche muss aus diesem leben scheiden/

Der noch nicht hat gewust/ was tod vnd leben ist!

Wie mancher muss/ der sich auf lange zeit vermisst/

Eh' er sich des versieht/ den todes rachen weiden!

Dis leben hie ist kurtz vnd hat sehr kurtze frewden/

Die man/ eh man sie recht genossen hat vergisst/

Ist gleich/ (in dieser zeit/ die vns verzeert vnd frisst/)

Das leid nicht kurtz/ das wir in solcher kürtze leiden.

Dis leben ist ein trawm ein wasser-schaum ein plitz/

Dis leben ist ein schall/ ein wasserfall/ ein sitz[160]

Des todes/ der in vns/ weil wir noch leben/ lebet.

Wer denn nu leben wil/ wenn er gestorben ist/

Der dencke stets an die sehr-kurtze lebens frist/

Durch diesen tod/ dem man vergebens wieder strebet.

Quelle:
Deutsche Literatur, Reihe Barock, Erg.-Bd., Leipzig 1939, S. 160-161.
Lizenz:
Kategorien: