Ver sacrum

[55] Das ist der Mai, der heut die Knospe sprengt!

Das ist der Lenz, der holde Liebesbote,

der jauchzend heut dem jungen Morgenrote

aus Blüten sich entgegendrängt!

Durch alle Bäume geht ein leises Rauschen,

und alle Ohren neigen sich und lauschen,

und alle Herzen fühlen warm und frei

und grüßen dich, o Blütenkönig Mai! –


Doch nicht ein Mai für Gras und Bäume bloß:

Ein andrer reißt, ersehnt mit tausend Schmerzen,

ein Frühling heut der Geister und der Herzen

sich aus dem Grund der Zeiten los.

Er grüßt uns auch mit Nachtigallenschlägen,

er streckt uns auch ein sprossend Reis entgegen:

Nun was sich jung und kräftig fühlt, herbei,

zum Opferdienst dem Geisterkönig Mai!


Zwar wissen wir, der Sommer ist es nicht,

noch Größres bleibt die künft'ge Zeit uns schuldig,

nach dem das Herz sich sehnet ungeduldig,

gleichwie das Auge nach dem Licht.

Doch kommt auch dies! Die Knospe muß ja reifen,

es muß der Kern die Hülle von sich streifen,

der Wille führt die Taten doch herbei:

Und immerdar ein Sommer folgt dem Mai! –


Auf seine Früchte deute dieser Kranz!

Voll junger Knospen, sprossender Gedanken,

soll er sich kühlend um die Schläfe ranken

des wundgetretnen Vaterlands;

ein Weihefrühling, wird er ausgesendet,

bis sich die Zeit, die nahende vollendet:

Drum was sich jung und kräftig fühlt, herbei!

Die Fahne weht! Euch alle ruft der Mai!


1844


Quelle:
Robert Eduard Prutz: Prosa und Lyrik, Leipzig 1961, S. 55-56.
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