Des fremden Kindes heiliger Christ

[24] Es lauft ein fremdes Kind

Am Abend vor Weihnachten

Durch eine Stadt geschwind,

Die Lichter zu betrachten,

Die angezündet sind.


Es steht vor jedem Haus

Und sieht die hellen Räume,

Die drinnen schaun heraus,

Die lampenvollen Bäume;

Weh wird's ihm überaus.


Das Kindlein weint und spricht:

»Ein jedes Kind hat heute

Ein Bäumchen und ein Licht

Und hat dran seine Freude,

Nur bloß ich armes nicht.


An der Geschwister Hand

Als ich daheim gesessen,

Hat es mir auch gebrannt;

Doch hier bin ich vergessen

In diesem fremden Land.


Läßt mich denn niemand ein

Und gönnt mir auch ein Fleckchen?[24]

In all den Häuserreih'n

Ist denn für mich kein Eckchen,

Und wär' es noch so klein?


Läßt mich denn niemand ein?

Ich will ja selbst nichts haben,

Ich will ja nur am Schein

Der fremden Weihnachtsgaben

Mich laben ganz allein.«


Es klopft an Thür und Thor,

An Fenster und an Laden;

Doch niemand tritt hervor,

Das Kindlein einzuladen,

Sie haben drin kein Ohr.


Ein jeder Vater lenkt

Den Sinn auf seine Kinder;

Die Mutter sie beschenkt,

Denkt sonst nichts mehr noch minder;

Ans Kindlein niemand denkt.


»O, lieber heil'ger Christ!

Nicht Mutter und nicht Vater

Hab' ich, wenn du's nicht bist;

O, sei du mein Berater,

Weil man mich hier vergißt!«


Das Kindlein reibt die Hand,

Sie ist von Frost erstarret;

Es kriecht in sein Gewand,

Und in dem Gäßlein harret,

Den Blick hinaus gewandt.


Da kommt mit einem Licht

Durchs Gäßlein hergewallet

Im weißen Kleide schlicht

Ein ander Kind; – wie schallet

Es lieblich, da es spricht:


»Ich bin der heil'ge Christ,

War auch ein Kind vordessen,[25]

Wie du ein Kindlein bist;

Ich will dich nicht vergessen,

Wenn alles dich vergißt.


Ich bin mit meinem Wort

Bei allen gleichermaßen;

Ich biete meinen Hort

So gut hier auf den Straßen

Wie in den Zimmern dort.


Ich will dir deinen Baum,

Fremd Kind, hier lassen schimmern

Auf diesem offnen Raum,

So schön, daß die in Zimmern

So schön sein sollen kaum.«


Da deutet mit der Hand

Christkindlein auf zum Himmel,

Und droben leuchtend stand

Ein Baum voll Sterngewimmel

Vielästig ausgespannt.


So fern und doch so nah',

Wie funkelten die Kerzen!

Wie ward dem Kindlein da,

Dem fremden, still zu Herzen,

Das seinen Christbaum sah!


Es ward ihm wie ein Traum;

Da langten hergebogen

Englein herab vom Baum

Zum Kindlein, das sie zogen

Hinauf zum lichten Raum.


Das fremde Kindlein ist,

Zur Heimat nun gekehret

Bei seinem heil'gen Christ;

Und was hier wird bescheret,

Es dorten leicht vergißt.

Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 2, Leipzig und Wien [1897], S. 24-26.
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