Abendlied

[352] Die ihr mit dem Odem linde

Jedes Blümchen küßt und grüßt,

Sagt mir, laue Abendwinde,

Wo ihr jetzt mein Mädchen küßt?


Ob im Spiegel eines Quelles

Sich ihr klares Bildnis malt,

Oder ob das Antlitz helles

Abendrot ihr überstrahlt?
[352]

Ob sie Nachtigallen grüßen,

Wo sie froh durch Büsche eilt,

Oder neue Blumen sprießen,

Wo ihr sanfter Fußtritt weilt?


Flattert zu ihr, laue Winde,

Sagt ihr, daß ich harre schon;

Ihr zum Führer tragt geschwinde

Mit euch meines Liedes Ton.


Durch die blauen Lüfte webet

Abenddämm'rung, ruhig, mild,

Und vom Stern der Liebe bebet

Sanfter Schimmer aufs Gefild'.


Nur wo mich ihr Arm umfasset,

Lächelt mir der schöne Stern,

Und sein hellster Glanz erblasset,

O Geliebte, bist du fern.


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 352-353.
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