Des Glockentürmers Töchterlein

[351] Mein hochgebornes Schätzelein,

Des Glockentürmers Töchterlein,

Mahnt mich bei Nacht und Tage

Mit jedem Glockenschlage:

»Gedenke mein! gedenke mein!«


Mein hochgebornes Schätzelein,

Des Glockentürmers Töchterlein,

Rufet zu jeder Stunde

Mich mit der Glocken Munde:

»Ich harre dein, ich harre dein.«


Mein hochgebornes Schätzelein,

Des Glockentürmers Töchterlein,

Es stellt die Uhr mit Glücke

Bald vor und bald zurücke,

Wie es uns mag gelegen sein.


Mein hochgebornes Schätzelein,

Wie sollt' es nicht hochgeboren sein?

Der Vater war hochgeboren,

Die Mutter, hocherkoren,

Hat hoch geboren ihr Töchterlein.


Mein hochgebornes Schätzelein

Ist nicht hochmütig, und das ist fein;

Es kommt wohl hin und wieder

Von seiner Höh' hernieder

Zu mir gestiegen im Mondenschein.
[351]

Mein hochgebornes Schätzelein

Sprach gestern: »Der alte Turm fällt ein,

Man merkt es an seinem Wanken

Ich will in Lüften nicht schwanken,

Will dein zu ebner Erde sein.«


Quelle:
Friedrich Rückert: Werke, Band 1, Leipzig und Wien [1897], S. 351-352.
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