Achtzehntes Kapitel

[395] Zu Hause und im tiefen, festen Schlaf wie in voller Sicherheit im Schoß der Menschheit, der ungezählten Millionen ihresgleichen, wie in voller Sicherheit vor dieser Menschheit, diesen ungezählten Millionen.

Da lagen sie und schliefen, nicht wie sie auf Bildern und in schönen Märchen gemalt werden, die Kinder, die im wilden Walde verlorengingen und von den Rotkehlchen mit Baumblättern zugedeckt wurden: diese zwei Kinder, die im wilden Walde der Welt verlorengegangen waren, hatten es nicht so gut gehabt.

Ihr Zurückschleichen in das Haus hatte niemand gemerkt, und sie hatten es auch ganz verstohlen und auf den Fußspitzen fertiggebracht, und der Knabe hatte auf den Treppen seine und seines Schwesterchens Schuhe in der Hand getragen. In der Dunkelheit hatte in der leeren, schrecklichen Kammer der Bruder umhergetastet auf dem Boden und dann geflüstert: »Nun ist es gut. Sie haben es noch nicht weggeholt; und gestohlen hat es auch keiner. Da sie uns nicht auf dem Kirchhofe bei Mama haben lassen wollen, so haben wir zum Glück noch ihr Bett. Nun decke ich dich wieder mit meiner Jacke zu und wärme dich an mir – fürchte dich nur nicht –, ich fürchte mich gar nicht. Morgen früh schaffe ich uns des Großpapas Degen schon wieder, und dann – dann – ja bloß bis morgen früh mußt du nicht weinen und dich fürchten,[395] Paulchen; – bis morgen früh müssen wir ruhig schlafen und an die Mama denken, die es auch immer am liebsten hatte, daß wir fest einschliefen, wenn es uns nicht zum besten ging.«

Im ruhigen, tiefen Schlaf! Im Kinderschlaf im Kehricht der Welt, unter den Lumpen, Knochen und beim alten Eisen, der Knabe, auch ohne daß der Degen seines Großvaters, das Schwert mit den Zeichen von so manchen verlorenen Schlachten, der Degen des guten, hoffnungsreichen, phantastischen Leutnants Hegewisch zu seinem Schutz und Trost bei ihm lag!

Keines von beiden merkte es, als die vier zu ihrem Bett traten, als ihrer Mutter letzte persönliche Freundin mit der Lampe des Doktors da unten, dem viel zuviel Musik in Deutschland gemacht wurde, sich über sie beugte und der Lichtschein über sie hin fiel.

Ihr – der Kinder – Atem ging ganz ruhig, viel ruhiger als der der vier Lauscher.

»O Gott, Gottchen, Gottchen«, schluchzte Rotkäppchen. »Ganz so, wie mich meine Mutter ganz gewiß auch manch liebes Mal hat liegen sehen.«

Frau Wendeline war neben dem Strohsack niedergekniet, um dem jüngsten Geschöpf die Haare aus der Stirn zu streichen. Wer sie beim »Sortieren« des Inhalts ihrer Säcke in ihrem Keller hatte knien sehen, durfte wohl von neuem bestätigen, daß man ein und dasselbe auf recht verschiedene Art und Weise verrichten kann.

Die beiden Männer standen wortlos und regungslos, und erst nach einer ziemlichen Weile sagte Herr Schmied aus Jüterbog: »Das ist gewiß so etwas wie eine Beruhigung, aber – wie nun weiter? Wir können sie hier nicht lassen. Verwöhnt und nervenschwach sind sie nicht und werden nicht umkommen von einem jähen Auffahren; aber – aber wer von euch will's auf sich nehmen und sie wecken?«

Das war nun doch, eine Frage, die so gar keiner Antwort zu bedürfen schien, daß es fast lächerlich war, sie zu stellen; aber doch war sie allen bis in die tiefste Seele hinein getan, und keiner von ihnen hatte einen Zweifel an ihrer Berechtigung.[396]

Die Mutter Cruse zog die Hand zurück, mit der sie eben die Jacke des Knaben beiden Kindern besser übergedeckt hatte. Das Rotkäppchen hielt die Hand unwillkürlich vor die Flamme in der Lampe des Doktor Berg. Hofrat Brokenkorb, der doch am wenigsten bei der Frage in Betracht kam, trat doch am scheuesten zurück. Der Wechsel zwischen Licht und Schatten, den das Fräulein durch ihre Bewegung auf den geschlossenen Augenlidern der beiden Kleinen hervorgerufen hatte, half ihnen glücklicherweise aus der Verlegenheit.

Das kleine Mädchen fing ängstlich an, in seinem Erschöpfungsschlaf zu wimmern, und der Bruder fuhr auf mit offenen Augen und mit einem Griff nach der Seite des Strohsacks, wo in der vorigen Nacht der Degen von Bau, Kolding und Fridericia, mit dem er durch so viele Tage und Nächte den Todeskampf seiner Mutter und dann sein Schwesterchen bewachte, gelegen hatte. Blinzelnd vor dem Licht und Schatten und verwirrt durch die Gesichter und Gestalten um sich her, saß er aufrecht; und während er die Schwester mit dem linken Arm umfaßte und an sich zog, hob er den rechten Ellbogen vor das eigene Gesicht, wie um einen Schlag abzuwehren, und die Faust, bereit, sofort selber zuzuschlagen.

Aber jetzt hatte ihn schon die Mutter Cruse im Arme, und die letzte Freundin seiner Mama schluchzte zwischen Lachen und Weinen:

»Erschrick dich nicht, Wölfchen! Bloß lauter gute Freunde, Junge. Aber Bengel, wie haben wir euch gesucht? Na, armer Tropf, kennst mich wohl noch immer nicht, daß du mich so dumm anstierst?«

Vor solchem Lärm erwachte selbstverständlich auch die kleine Paula völlig, und zwar mit lautem Geschrei; da aber gab das Rotkäppchen rasch die Lampe des Doktor Berg dem ersten besten und also diesmal dem Hofrat Dr. Brokenkorb in die Hand: »Halten Sie sie nur einen einzigen Augenblick!«

Und schon hatte sie wirklich »beide Hände voll«, hatte die kleine Paula von der Matratze aufgehoben, hielt sie an die Brust gedrückt und tanzte mit ihr in dem Zimmer umher: »Mein Püppchen![397] Mein Herzchen! Nicht weinen – nicht erschrecken! Glaubtest doch wohl wirklich nicht, daß ich nichts mehr von dir wissen wollte, wenn deine Mama so oft mein einziger Schutz gewesen ist, wenn die ganze Welt mir auf den Hacken war? Nicht weinen, Herzchen! Kennst mich doch? Nimm nur die Händchen von den Augen, lauter gute Freunde rundum! Glaubtest doch hoffentlich, daß es mir das Herz abstieß, als ich heute morgen euch nur verstohlen aus der Bodenluke nachsehen konnte? Und der Heilige Christ ist ja auch vor der Tür; und was wünschst du dir diesmal zum Weihnachten? Einen schönen Baum mit Lichtern und Zuckerwerk und vergoldeten Äpfeln und Nüssen und so viele Puppen und buntes Spielwerk, als es nur in der ganzen weiten Welt gibt! Wozu gibt es denn die vielen Onkel und Tanten in der Welt? Guck nur – dies da ist die Mutter – die Tante Cruse aus dem alten Eisen, und der Herr hier – brauchst dich nicht zu fürchten vor seinem Bart und seiner schwarzen Nase und seinem einen Auge – und seinen Namen habe ich immer noch nicht recht verstehen können – dieser Herr hier gleichfalls aus dem alten Eisen. Und hier der Allerfeinste und Allerbeste, der Herr Hofrat Brokenkorb, deiner seligen Mama allerliebster Freund. Ja wundere dich nur, wie viele Leute es in der Welt gibt, die euch seit heute nachmittag plötzlich gesucht haben, als hinge ihre eigene ewige Seligkeit davon ab, daß sie euch fänden...!«

»Jetzt beruhigen Sie sich endlich, Sie närrische Person, und verschüchtern Sie uns das arme Wurm nicht noch mehr!« rief endlich die Frau Wendeline, aber durchaus nicht zornig. Und dann stellte sie den Jungen, an beiden Schultern ihn haltend, vor den braven Peter Uhusen hin und sagte: »Ja, dies ist der junge Ritter, der mit dem Schwert seiner Ahnen heute morgen zu mir kam. Der Erbe des Leutnants Hegewisch, der gute Junge, dem das Schicksal die letzte Waffe aus der Hand schlug und zu dem alten Eisen warf, um ihn zu seinen Freunden im alten Eisen zu bringen und zu verhelfen! Ich glaube, das wäre ein Bursch und später ein Gesell für Sie Schmied von Jüterbog. Wenn Sie ihn haben wollen, so nehmen Sie ihn, Uhusen; wenn nicht, nun, so[398] lassen Sie ihn mir, vielleicht mache ich auch bei den alten Lumpen und Knochen einen Mann für diese eisernen Zeiten aus ihm.«

Der Knabe blickte von einem zum andern. Man sah es ihm an, daß er bereits völlig wieder bei sich war und ein ruhiges Wort hören und verstehen konnte. Es war durchaus nicht nötig, daß Rotkäppchen mit seiner Schwester auf dem linken Arm ihm die rechte Hand auf die Schulter legte und ihn fragte: »Bist du auch ganz wach, Wolf, und kannst fassen, was die Herrschaften über dich abmachen wollen?«

»Den Degen deines Großvaters hebe ich dir auf, bis du erwachsen bist, mein Sohn«, sagte Uhusen ruhig. »Mutter Cruse, ich glaube, für den Augenblick wird die Hauptfrage sein, wohin wir die beiden für den Rest dieser Nacht bringen. Hier lassen möchte ich sie unter keinen Umständen.«

»Das Kind zu mir ins Bett in meinem Keller; den Jungen nehmen Sie mit in Ihr Wirtshaus«, rief die Mutter Cruse. »Das ist wohl das einfachste.«

»Zu mir, zu mir!« stammelte Albin Brokenkorb. »Beide Kleinen, beide Kinder zu mir!«

»Eine seltsame Bereicherung deiner Raritätensammlungen, alter Freund«, brummte Uhusen, aber nicht ohne Weichheit der Stimme. »Recht hübsch von dir; aber sieh dir die Sache lieber doch erst morgen früh bei ruhigerm Blut und bei Tageslicht an. Was ist Ihr Rat, Fräulein Rotkäppchen?«

»Weshalb fragen Sie mich, Herr? Da den Jungen müssen Sie fragen. Er hat sein Leben bis heute so ziemlich allein machen müssen und wird also auch über das Nächste am besten für sich und hier seine Schwester entscheiden können.«

Peter Uhusen nickte zustimmend.

»So höre, mein Kind«, wendete er sich an den Knaben, und zwar ganz so, als rede er mit einem Erwachsenen. »Wir sind alle gute Freunde von deiner Mutter gewesen und wollen nun alle unser Bestes für dich und deine Schwester tun. Dein lieber Großvater, der tapfere Leutnant Wolf Hegewisch, hat mich und den Herrn da, den Herrn Doktor Brokenkorb, gradeso auf die Schulter[399] geklopft, wie ich dich jetzt darauf klopfe, und ich möchte ihm gern seine Wohltaten vergelten, die er mir getan hat, als ich noch ein Knabe war. Und vor allen Dingen möchte ich mit dir reden können, wie er mit uns zu reden verstand. Mit seinem Degen, welchen du dieser Dame heute morgen brachtest in deiner Not, sind wir seit unserer Jugend vertraut, und ich kenne vielleicht noch mehr Geschichten, die an ihm haften, als wie du. Nun ist das aber für uns alle hier die größte und beste und liebste Geschichte, daß wir durch dies Stück altes Eisen euch, deine Schwester und dich und – deine arme Mutter, unsere liebe Jugendfreundin, aufgefunden haben in dieser Welt, wo man im Getümmel und Gedränge so leicht voneinanderkommt. Als dieser Herr und ich Jungen waren, ist deine Mutter wie unsere kleine Schwester gewesen. Nachher haben wir uns voneinander verloren, aber im guten Gedächtnis behalten; und weil dem so ist, guck, mein Junge, deshalb will jeder sein Teil von euch haben. Ich bin nun nichts weiter als ein invalider Soldat, wie dein Großvater war; und gehst du mit mir, so gehst du an einen harten Arbeitstisch. Der Herr hier, der Herr Hofrat, ist nicht Soldat gewesen; doch eine schlimme Schlacht hat er heute auch mitgeliefert und – hoffentlich mit gewonnen. Folgst du ihm, so kannst du es vielleicht noch zu viel Gutem und Schönem auf Erden bringen, und wahrscheinlich auf nicht allzu beschwerlichen Wegen. Bergan geht es freilich bei uns beiden! Aber wie gesagt: auf Rosen wirst du bei mir gar nicht gebettet, und der Herr da ist ein angesehener Mann. Ich rate dir also, gehe mit ihm. Die Dame wird für deine kleine Schwester sorgen. Du hast mich verstanden? Wir haben ja gehört, wie du das Schwert geführt hast seit dem Sonntag bis zu dieser Stunde; nun sage uns, was du jetzt für das beste hältst?«

Mit scharfen, hellen Augen sah der Knabe an dem Schmied von Jüterbog empor, dann schluchzte er: »Ich ginge mit Ihnen in alles Elend und käme doch schon wieder raus. Aber wo meine Schwester bleibt, bleibe ich. Das habe ich der Mama versprochen.«

»Natürlich!« rief die Mutter Cruse. »Nehmen Sie es mir nicht[400] übel, Uhusen; aber seit ich Sie kenne, haben Sie nicht soviel überflüssige Worte geredet wie eben. Zu der Frau Direktorin Cruse in das alte Eisen! So nehmen Sie doch endlich Ihrem Hofrätchen die Lampe wieder ab, Jungfer Leichtsinn. Geben Sie das Kind dem Herrn aus Wien, liebes Rotkäppchen. Du gehst mit mir, alter kleiner, braver Kerl. Dein närrischer Säbel liegt zwar bei dem Herrn Hofrat, aber mir hast du ihn heute morgen zugetragen, und mir gehörst du zu. Wenigstens für diese erste Nacht. Meine Herren, abgesehen von allem andern, halte ich es eben des nächsten Morgens wegen für das Rechte, daß wir das Zusammengehörige so nahe als möglich beieinanderhalten.«

Es war so. Die letzte Zeit hindurch hatte niemand über die beiden Kinder hinweg an die schaurige schwarze Kiste da draußen in der regnichten, kalten Herbstnacht unter dem freien Himmel an der großen Grube gedacht. Und Rotkäppchen erinnerte sich auch jetzt noch nicht ihrer wieder; denn wer um die Gruppe mit dem Licht, das sie dem Herrn Hofrat auf Wunsch von Frau Wendeline wieder abgenommen hatte, tanzte, war das Rotkäppchen. Und in Anbetracht, daß Erdwines Sarg wirklich noch unverscharrt in dem leisen Regen der Vorwinternacht draußen an der offenen Armengruft stand, war das freilich unpassend. Aber von den Anwesenden am Strohsack der armen Frau Erdwine Wermuth fand sich keiner berufen, dies herauszufinden. Auch die Mutter Cruse nicht; denn die wickelte jetzt ihren schönen Mantel, welchen sie vorhin an jener Grube über den Hofrat Dr. Brokenkorb gebreitet hatte, um das Kind auf dem Arme des langen Peters und hatte nicht die geringste Zeit, »ihre Gefühle durch irgendeinen Wortschwall durchzusieben«. Und was ihren Mantel anbetraf, so war ihr augenblicklich doch schon ohne ihn warm genug und derselbe übrigens auch sonst nichts weiter als eine Nummer aus ihrer Lebenstheatergarderobe.

»So, Wolfram Wermuth«, sagte sie, »jetzt nimmst du den Herrn Hofrat bei der Hand und führst ihn vorsichtig auf der Treppe. Du kennst sie ja am genauesten und weißt, wo ihr Halunken sie am meister, zum Wackeln gebracht habt und wo das[401] Geländer ganz fehlt. Und jetzt fort. Geh voran, Mädchen, und leuchte. Folgen Sie ihr mit dem Kinde, Uhusen, und du, Wolf, nimm dich mit dem Herrn Hofrat in acht. Ich mache den Beschluß.«

Sie stiegen in der angegebenen Reihenfolge nieder und hatten Grund, auf ihre Füße zu achten. Die Frau Wendeline aber blieb als die letzte noch einen letzten Augenblick auf der Schwelle des schauerlichen, jetzt in die volle Nacht versinkenden leeren Zimmers und sah zurück in die Finsternis. Noch einmal streifte ein Lichtschein von der Lampe in der Hand Rotkäppchens das letzte Lager von Erdwine Hegewisch, und die große alte Frau in der Tür schüttelte sich leise und strich sich mit der Hand über die Stirn und murmelte finster: »Jawohl, alte Komödiantin – ein fein Memento für deine schlaflosen Nächte in deinem Keller diesen Winter durch!«

Sie schüttelte aber auch die schauerlichen Bilder, die sich mit diesem Umblick für sie verknüpften, ab mit ihrer gewohnten stolzen Handbewegung und stieg den andern nach, und zwar jetzt nicht mehr durch ein stilles, menschenleeres Haus. Es hatte sich das Gerücht von ihnen nun doch durch alle Stockwerke verbreitet, und sie fanden einen erklecklichen Teil der Bevölkerung auf ihrem Wege. Aber die Leute flüsterten bei ihrem Vorüberschreiten nur leise miteinander und betrugen sich sehr höflich und anständig.

Nur Doktor Berg, der auch aus seiner Tür sah, stammelte mit schwerer Zunge lachend: »Nun beim Zeus, Brokenkorb, das wäre ja wirklich einmal etwas Neues, von dem man in den Zimmern der Damen erzählen könnte. Aber Sie haben recht, Kollege, daß Sie sich persönlich des Skandals annehmen. Er ist in der Tat riesig, und Sie können sich darauf verlassen: ich habe das Meinige getan und werde es ferner tun, diese Sache in die Mäuler der Leute zu bringen.«

›Großer Gott, auch das!‹ ächzte der Hofrat in der Tiefe seiner Seele.

»Ich helfe den Herrschaften nur in ihren Wagen, dann liefere ich Ihnen Ihr Licht wieder ab, Dokterchen«, rief das Rotkäppchen.[402] »Ja, bringen Sie mir das Ding nur in die Zeitungen, und zwar ohne alle Musik! Und meinen Namen dürfen Sie dreist voll ausdrucken.«

Sie standen nun wieder in der Gasse, und der Kutscher nahm seinen Gäulen wieder die regenfeuchten Decken ab.

»Jetzt, gnädige Frau, rasch hinein in die Equipage«, rief das Fräulein. »Herr Unbekannt gibt Ihnen am besten das Kind nun auf den Schoß. Hinein mit dir, Wölfchen. Und Sie, Hofrätchen, erlauben Sie, daß ich Ihnen helfe! Gott sei Dank, Gott sei Dank! Glauben werden es mir die Herrschaften nicht, aber einen Tausendmarkschein nähme ich nicht, wenn ich dafür die zwei Krabben noch immer da oben auf ihrer Mutter Strohsack wissen müßte. Oh, Gott im Himmel sei Dank und vergelte Ihnen alles, was Sie – uns heute Gutes getan haben, wenn wir uns nicht wiedersehen.«

»Steigen Sie endlich ein, bestes Kind«, rief der Schmied von Jüterbog sehr gröblich im Ton, aber dazu im Ausdruck mit einer Höflichkeit, die er nicht an jede beliebige Fürstin, Gräfin oder Kommerzienrätin gewendet haben würde.

»Ich?« fragte das Rotkäppchen, die Lampe des Doktor Berg mit der Hand vor dem Wehen der Nachtluft schützend. »Das ist doch wohl Ihr Ernst nicht, Herr Unbekannt? Wer von Ihnen könnte mir denn ein Nachtquartier bieten?«

»Ich«, sagte die Mutter Cruse aus dem Wagenfester.

»Bei Ihrem alten Eisen?« lachte, die Tränen oder die Regentropfen aus den Augen wischend, die arme Kleine. »Nein, nein, noch nicht. Und dann – Sie haben ja schon die Kinder! Wenn Sie die in Sicherheit halten wollen, dann haben Sie schon Ihr Tun genug, gnädige Frau; und ich bin vollständig über. Aber wenn ich Ihnen vielleicht noch einmal meine Tanzschuhe bringen sollte –«

Der Schmied von Jüterbog zog das arme Geschöpf an sich und fragte es: »Findest du bis morgen zu essen und einen trocknen Winkel?«

Und Rotkäppchen antwortete, aber sehr leise: »Ja, Herr, ich, danke Ihnen; aber wiedersehen möchte ich Sie wirklich noch einmal[403] mit Ihrer schwarzen Nase, Ihrem einen Auge, Ihrer einen Hand und Ihren guten, dummen Redensarten. Natürlich find ich schon ein Unterkommen für diesmal.«

Die Schultern hebend, fügte sie hinzu: »Nur nicht zuviel Musik, zuviel Musik im Deutschen Reich!«

Und der schwarze Peter, Herr Schmied aus Jüterbog, stieg zögernd den andern nach in den Wagen und sah noch vom Fenster des fortrollenden Wagens aus, wie das schöne Mädchen auf der Türschwelle stand und sich die Tränen oder die Regentropfen aus den Augen wischte. Dann blies der Wind das Licht aus.

Quelle:
Wilhelm Raabe: Ausgewählte Werke in sechs Bänden. Band 6, Berlin und Weimar 1964–1966, S. 395-404.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Im alten Eisen
Im Alten Eisen; Eine Erzahlung
Sämtliche Werke: Raabe, Wilhelm, Bd.16 : Pfisters Mühle; Unruhige Gäste; Im alten Eisen: Bd 16 (Raabe, Samtliche Werke)

Buchempfehlung

Anonym

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Tai I Gin Hua Dsung Dschi. Das Geheimnis der Goldenen Blüte

Das chinesische Lebensbuch über das Geheimnis der Goldenen Blüte wird seit dem achten Jahrhundert mündlich überliefert. Diese Ausgabe folgt der Übersetzung von Richard Wilhelm.

50 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon