5. Kapitel
Ankunft in Belize

[75] Einmal wären wir fast auf ein Felsenriff gelaufen. Der Lotse hatte es im letzten Moment noch an der Brandung erkannt. Wir fuhren jetzt so dicht an den Inselgruppen vorbei, daß wir die Palmenwälder darauf mit bloßem Auge sehen konnten. Wir verspürten deutlich einen Landgeruch.

Der Steuermann setzte, wohl dem Lotsen zu Ehren, seine beste Mütze auf. Sie fiel ihm aber über Bord. Darüber verstimmt geriet[75] er wieder mit dem Bootsmann in Streit, weil der den außenbords am Heck hängenden Rettungsring schon wegnahm.

Abends wurde der Anker klar gemacht. Diese Nacht gab's wenig Schlaf. Fortwährend wurden wir zum Brassen herausgerufen, und wenn wir uns danach eben todmüde in Kleidern in die Kojen geworfen hatten, schreckte uns schon wieder das gellende »Bout ship!« des Kapitäns oder Steuermanns auf. Die Ankerlaternen und andere Instrumente wurden hervorgeholt und eins der Boote seeklar gemacht. Beide Wachen sollten aufbleiben, weil wir bald vor Anker gehen würden. Es war ein rastloses Durcheinanderrennen, Schimpfen und Fluchen. Ein paarmal schielte ich für einen Moment von meiner Arbeit weg und bemerkte einige Lichter von anderen Schiffen auf dem Wasser. Aber ich wurde von allen Seiten zur Arbeit angetrieben und konnte leider nicht länger danach ausschauen. Bald mußte ich dem Bootsmann beim Brassen helfen, bald dem Kapitän etwas aus der Kajüte holen; es herrschte eine allgemeine Aufregung. Auf einmal, als ich mich gerade in der Kajüte befand, vernahm ich ein donnerndes Gepolter, bei dem das ganze Schiff erzitterte. Das war der fallende Anker. An Deck eilend, sah ich am Horizont eine Kette von Lichtern – Belize!

Wir waren am Ziel unserer Reise angekommen, aber die Blicke der Matrosen und die Ferngläser der Achtergäste hafteten nicht lange auf dem Lichtersaum vor uns. Alle waren von den vorangegangenen Strapazen erschöpft und nur von dem einzigen Wunsch nach Ruhe erfüllt. Ich erbot mich freiwillig, bis zum Morgen die Wache zu halten, und war sehr glücklich, als ich die Erlaubnis dazu erhielt.

Nie werde ich das glückliche Gefühl vergessen, das mich beseelte, als ich nun auf Wache auf dem Achterdeck auf und ab schritt. Alle außer mir schliefen den Lohn für die Arbeit der letzten Stunden, und ich war allein mit meinen Gedanken in der köstlichen, kühlen Nachduft, musterte ungestört mit Steuermanns Fernglas die fremde Küste. Es war bei der starken Dunkelheit allerdings kaum mehr als mit bloßem Auge zu sehen, aber meine Phantasie malte in die schwarzen Schatten allerlei seltsame Dinge und abenteuerliche Gestalten. Mit dem anbrechenden Morgen wurde das Bild deutlicher, bis ich schließlich dichte Palmenwälder erkennen und etwa hundert weiße Häuser zählen konnte. Ich war in unglaubliche Spannung versetzt und konnte die Stunde nicht erwarten, wo ich das alles aus der Nähe sehen sollte.[76]

In weitem Umkreis um uns herum lagen verschiedene andere Schiffe. Mit Verwunderung beobachtete ich, wie sich unsere Lage zu den Schiffen und zum Lande fortwährend veränderte, bis ich die Ursache dieser Erscheinung herausfand. Die Ankerkette hielt das Schiff nur vorn am Bug fest, und mit der Änderung der Windrichtung wurde dasselbe um diesen festen Punkt im Kreise getrieben. – Inzwischen hatte sich Joseph, unser Lotse, zu mir gesellt, und ich bestürmte ihn in meinem gebrochenen Englisch mit endlosen Fragen.

Wenn mein Bruder jetzt gehört hätte, daß ich mich zuallererst danach erkundigte, ob es viel Schlangen in Belize gäbe, hätte er sich wohl freuen müssen; denn nur in seinem Interesse stellte ich diese Frage, die mir bejahend beantwortet wurde. Ich sah und hörte so viel Neues, daß ich, obgleich ich die ganze Nacht durchgearbeitet hatte, noch absolut keine Müdigkeit empfand, auch nicht, nachdem ich um acht Uhr die anderen mit dem üblichen Seemannsvers geweckt hatte:


Rise Quartier

Ist Seemannsmanier,

Dem Rudersmann tut verlangen,

Das Ruder zu verfangen.


Zum Frühstück, merkwürdig abgepaßt, stellte sich ein Boot ein, dem ein bleicher, junger Engländer mit sommersprossigem Gesicht entstieg, während etwa zehn Neger im Boot zurückblieben. Ich konnte nicht erfahren, was die Ursache seines Besuches war. Vielleicht nur Neugierde oder Appetit. Jedenfalls wurde der Ausländer mit übergroßer Höflichkeit empfangen und mit dem wenigen Besten bewirtet, was die »Elli« an Eßbarem und Trinkbarem besaß. Neidvoll sah ich zu, wie der Sommersprossige beim Abschied noch zwei Zigarren vom Kapitän erhielt.

Bald darauf ließen wir ein Boot zu Wasser. Gustav und Willy, die Glücklichen, mußten den Alten an Land rudern. Ich folgte dem Boot die ziemlich weite Strecke zum Land mit sehnsüchtigen Blicken.

Als die drei am Nachmittag zurückkamen, brachten sie große Büschel Bananen, Ananas, eine Menge Neuigkeiten und, was die Hauptsache war, Briefe aus der Heimat mit. Ich las wohl zehnmal hintereinander mit größter Aufmerksamkeit und Freude einen[77] Brief von den Eltern, einen anderen von meinem Freund Fischer und eine Karte vom Verein ehemaliger Tolleraner.

Die Bananen schmeckten vorzüglich. Sie erinnerten im Geschmack ein wenig an unsere Kirschen, ich vertilgte eine unheimliche Menge davon, obgleich mich der lächelnd zusehende Lotse vor allzu reichlichem Genuß dringend warnte. Zu Mittag herrschte eine tolle Gluthitze, aber ich fühlte mich mopsvergnügt. Ich war ja so froh und die Natur um mich herum von so bestrickender Schönheit. Ein wolkenloser, kobaltblauer Himmel spannte sich über die klare, durchsichtige Meeresfläche, die sich in jenem leuchtenden Smaragdgrün darbot, das mir früher auf Gemälden so unwahrscheinlich vorgekommen war. Gegen diesen hellen Grund nahmen sich die verschiedenen Schiffe und Boote auf der Reede und die sauberen weißen Häuschen an Land wie Spielsachen aus.

Alle größeren Schiffe hatten gleichzeitig mit uns um acht Uhr morgens die Nationalflagge gehißt, ein schwedischer und ein norwegischer Dampfer, drei mexikanische Transport-Kriegsschiffe mit Schonertakelage und verschiedene kleinere Frachtdampfer.

Es war kein Wunder, daß ich am anderen Morgen die Zeit verschlief.

Als ich erwachte, erblickte ich eine Menge Neger an Deck, die mit dem Öffnen der Luken beschäftigt waren. Längsseits lag ein großer Kahn, in dem ebenfalls Neger hantierten.

Nun gab es wieder viel Arbeit. Der Ballast mußte gelöscht, das heißt in mehrere Kähne verladen werden. Es war nicht leicht, in der ungewohnten Mittagsglut zu arbeiten und die schweren Winden zu drehen. Um den brennenden Durst zu stillen, stellte uns der Koch einen Kessel mit ganz dünnem Teewasser hin. Das bewirkte aber nur, daß wir noch mehr in Schweiß gerieten. Allen war es anzusehen, wie schwer ihnen die Arbeit fiel. Auch Bootsmann und Steuermann mußten mitarbeiten. Einmal trat der Bootsmann von der Winsche beiseite, zog sein Hemd aus und rang es mit den Händen aus. Die Neger, die die Hitze gewohnt waren, arbeiteten sehr eifrig und vollführten dabei einen Mordsspektakel. Es waren meist große, starkgebaute Gestalten.

Es dauerte nicht lange, so kam ein Bumbootsmann an Bord. In seinem Boot erblickten wir Frischbrot und Frischfleisch, Früchte und Tabak. Als Kajütsjunge hatte ich keinen weiten Weg zu des Kapitäns Kognakflasche, und da ich sehr bald merkte, daß die[78] Eingeborenen eine mächtige Vorliebe für Feuerwasser hatten, kam ich sehr billig in den Besitz von Früchten und Tabak.

Am Nachmittag lief ein deutscher Dreimastschoner in die Bucht ein und ging in unserer Nähe vor Anker. Kapitän Pommer und der Steuermann, die das Schiff mit Fernglasern beobachteten, entdeckten zu ihrer Freude, daß es ebenfalls ein Ostfriese, und zwar aus Papenburg war. Der Kapitän des Schoners, ein Verwandter unseres Kapitäns, hatte seine Frau und drei Kinder an Bord.

Ich hatte am selben Tag noch eine lebhafte Unterredung mit dem Koch, den ich mit allen Mitteln überreden wollte, mit mir von der »Elli« zu fliehen. Er hatte sich nämlich schon oft über das schlechte Leben an Bord beklagt, und ich hatte ihn nach Möglichkeit in seiner Unzufriedenheit bestärkt, bis er zuletzt selbst einmal die Fluchtidee anregte. Er schien jedoch zu ängstlich, um zu einem festen Entschluß zu kommen. Bei mir stand es fest, daß ich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit Reißaus nehmen würde. Ich traf bereits die ersten Vorbereitungen, indem ich mir bei einem der Schwarzen ein Messer bestellte.

Schließlich gelang es mir doch, den Koch für meinen Plan zu gewinnen. Wir verabredeten eines Tages, daß wir in der Nacht um zwölf, wenn Jahn die Wache hatte, in einem Boot entfliehen wollten, das wir von einem Eingeborenen zu bekommen hofften. Obgleich wir Jahn nicht trauten, rechneten wir doch mit seiner Gewohnheit, seine Wachzeiten schlafend zu verbringen. Ich verständigte einen der Neger von unserem Plan und versprach ihm eine Taschenuhr und eine Geldbelohnung, wenn er uns in der Nacht mit einem Boot abholen würde. Er sagte zu. Ich glühte in froher Erwartung und packte sogleich meine Sachen zusammen. Schlafen ging ich nicht, sondern steckte mir einen Priem in den Mund und ging spähend an Deck auf und ab, während der Koch bis zwölf Uhr schlafen wollte.

Aber kein Boot ließ sich blicken. Enttäuscht teilte ich das dem Koch mit, als ich ihn um zwölf Uhr weckte. Er meinte, das Boot könnte noch immer kommen und versprach, mich dann schnell zu wecken.

Ich mochte wohl eben eingeschlafen sein, als mich der Koch mit den Worten: »Es ist da!« aufrüttelte. Wie elektrisiert sprang ich mit einem Satz aus der Koje und lief an Deck. Auf der dunklen Wasserfläche kreuzte tatsächlich ein Segelboot, fuhr aber vorüber, ohne uns zu beachten.[79]

Am anderen Morgen sah ich den bewußten Neger wieder und machte ihm Vorwürfe. Er antwortete achselzuckend: »I had no time!«

Da es schien, daß wir keinen Eingeborenen gewinnen würden, beschlossen wir, bei unserem ersten Urlaub zu entweichen.

Ich delektierte mich an einer Menge Bananen. Auch Mangos hatte man mir gebracht, große Früchte, einer Eierpflaume nicht unähnlich, die merkwürdiger-, aber höchst angenehmerweise unter anderem auch nach Terpentin schmecken.

Umsonst lieferten die Schwarzen diese Naturerzeugnisse übrigens nicht, sondern sie ließen sich mit Geld, Kleidungsstücken, Schnaps und dergleichen recht vorteilhaft bezahlen. Und wir gaben alles hin, was nur einigermaßen entbehrlich.


Denn was nützt dem Seemann das Geld,

Wenn's ihm schließlich ins Wasser fällt. –


Der Koch gab sogar den Stolz seiner seemännischen Ausrüstung, ein Paar ideale, fettüberhauchte Seestiefel für sechs Schilling und diese sechs Schilling dann für Bananen, Ananas und so weiter hin. Am dritten Belizer Tag ungefähr kam ein Dutzend Leichterboote heran mit der neuen Ladung für die »Elli«. Es sah reizend aus, wie diese großen Segelboote in toller Wettfahrt – denn jedes wollte zuerst seine Ladung loswerden – auf uns zuschossen und, erst zehn Meter vor uns scharf beidrehend, das Segel laut klappernd fallen ließen. Sie brachten große Stücke Farbholz, die nach Europa bestimmt waren.

Nachdem die Fahrzeuge an der Schiffswand gut befestigt waren, hängten wir zwei Stellings über die Reling, auf die sich je zwei Matrosen von uns stellten. Dann begann das Einladen des Blauholzes ungefähr in folgender Weise: Die Neger im Boot reichten die schweren Hölzer den beiden Leuten auf der untersten Stelling. Diese gaben sie denen auf der obersten Stelling. Dann wurden sie von zwei an Deck stehenden Matrosen abgenommen und auf eine vor der Luke aufgestellte Waage gelegt, die vom Steuermann und dem schwarzen Stewidor kontrolliert wurde. War dann eine Tonne zusammengekommen, so wurde das Holz in den Schiffsraum hinuntergeworfen, wo muskulöse, nackte Neger es kunstgerecht verstauten.

Die Stücke waren sehr schwer, und es war anstrengend, damit zu hantieren, zumal Steuermann und Bootsmann unaufhörlich zur[80] Eile antrieben. Außerdem war das Holz sehr splittrig, und da es färbte, waren unsere Arme in kurzer Zeit über und über blau.

Man hatte uns vor Skorpionen und anderen gefährlichen Tieren gewarnt, die in der Tat massenhaft in dem Blauholz vorkamen. Es gelang mir gleich anfangs, einen Skorpion zu fangen, den ich in Spiritus aufbewahren wollte. Da ich keinen Spiritus besaß, bat ich Kapitän Pommer um etwas Kognak.

Der traute mir aber betreffs der Verwendung des Schnapses nicht recht und zog es deshalb vor, das Tier selbst in Kognak zu setzen und es mir bis zum Ende der Reise aufzubewahren.

Währenddessen vergaß ich nicht, das Feuer der Unzufriedenheit im Gemüt des Kochs zur lodernden Flamme zu schüren.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 6: Mein Leben bis zum Kriege, Zürich 1994, S. 75-81.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Mein Leben bis zum Kriege
Mein Leben bis zum Kriege.
Mein Leben bis zum Kriege
Mein Leben bis zum Kriege. Autobiographie
Joachim Ringelnatz: Die schönsten Gedichte /Mein Leben bis zum Kriege

Buchempfehlung

Anonym

Historia von D. Johann Fausten

Historia von D. Johann Fausten

1587 erscheint anonym im Verlag des Frankfurter Druckers Johann Spies die Geschichte von Johann Georg Faust, die die Hauptquelle der späteren Faustdichtung werden wird.

94 Seiten, 6.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier. Neun Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Dass das gelungen ist, zeigt Michael Holzingers Auswahl von neun Meistererzählungen aus der sogenannten Biedermeierzeit.

434 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon