Als der Gestorbene zurückkam.

[45] Es war mitten in einer Sommernacht. Vor mir lag der breite Weg zwischen den finsteren Waldbäumen in einem weißen Band, denn es schien der Vollmond darauf. Dort und hier stand von einem hohen Tannenwipfel der schwarze, zackige Schatten mitten in die Straße herein; hier und dort lag querüber ein schwarzer Balken, welchen die Füße des einsamen Wan) derers mühelos durchbrachen, denn es war wieder nichts, als der Schatten eines hoch über den Wald aufstrebenden Stammes. Wo Lichtungen und Büsche waren, schwebten in stillen Bogen Leuchtwürmchen; zu hören war kein Lüftchen und kein Wasserrauschen, meine Schritte gingen gleichmäßig wie eine Pendeluhr, und in meinem Haupte erzählte die Erinnerung Geschichten aus der Vergangenheit?

Hier auf dieser Waldstraße mußte ja die Stelle bald kommen, oder war ich an ihr schon vorüber, wo mein Jugendfreund Johann Würtel verunglückte? Der Köhlerhansel; wie er genannt wurde; an einer dieser steilen Berglehnen hat ihn beim Holzriefen ein abgleitender Baumstrunk totgestoßen.

Denke einmal nach, Leser, ob du nicht etwa einen Jugendfreund und Gedankenspielgenossen gehabt hast, mit[46] dessen Hilfe du die Welt erschaffen hättest, wenn sie nicht schon in aller Breite um euch dagelegen wäre! Da die Hauptsache aber einmal geschehen war, so mußtet ihr euch mit Reformen begnügen und eine Weltordnung aufstellen, die alles Elend und Unrecht von dieser Erde verbannt haben würde, die auch sehr leicht durchführbar gewesen wäre, wenn die Leute nur gewollt und eueren großen Absichten nicht schnurgerade entgegengearbeitet hätten. Sie wollten nicht, daher mußtet ihr endlich alle Pläne fallen lassen und euch selbst durch das Elend Unrecht winden, so gut es ging.

So auch war es mit meinem Freunde Johann und mir. Es gäbe auf der Welt heute keinen Armen und Kranken, keine Bösewichter, keine Gewalttaten und Kriege mehr, wenn es damals nach unserem Willen gegangen wäre. Besonders mit allen Religionszwistigkeiten hätten wir auf das reinste aufgeräumt. Denn – um es nur recht zu sagen – der Köhlerhansel, so jung an Jahren und so weltlustig er gewesen sein mochte, war ein Gottes) gelehrter. Anfangs pflegte er vor allem die heilige Dichtung. So verfaßte er ein Weihnachtsspiel, welches er mir wiederholt vorlas. Es war in Strophen abgeteilt, jede Strophe schloß mit den Worten: »Ehre sei Gott dem Vater und dem Sohn, und dem heiligen Geist im Hexenthron.« Als ich ihn einmal darüber zur Rede stellte, was er eigentlich mit seinem »Hexenthron« sagen wolle, war der Hansel geradezu empört über meine »langen und doch so unzulänglichen Ohrwaschel«, die statt »höchsten Thron« »Hexenthron« hören konnten. über diesen Punkt aufgeklärt, fand ich nun die Dichtung tadellos.

Einen ganzen Winter über schrieben wir uns gegenseitig[47] Briefe philosophischen Inhalts, worin ich mehr in das Sentimentale, er mehr in das Theoretische schlug. Er grübelte, wenn die stillen Gluten seines Meilers und vielleicht auch die seines Herzens nichts zu tun gaben, über der Bibel und anderen heiligen Schriften, und vielfach konnte man ihn bei diesem Lesen und Grübeln den Kopf schütteln sehen: Es ist nicht in Ordnung, und es ist nicht in Ordnung. Einmal sagte er mir so dreist, daß ich erschrak: »Peter! Sünder! Heide! Bruder! Unser Glauben ist ganz höllisch verfahren. Wenn Gott nicht gar so gütig wäre, er müßte uns auslachen.«

Ich wußte aber nicht recht, wie er das meinte, und er sagte damals auch nichts weiter. Allmählich aber kamen wir doch ins Spintisieren, und weil uns dabei Gedanken und Ideen anflogen, die uns ob ihrer Großartigkeit und Gottheiligkeit selber überraschten, so beschlossen wir, daß ich mein Handwerk liegen und stehen lassen, zu ihm in den Wald kommen sollte, und daß wir beide zusammen eine neue Religion gründen wollten. Einstweilen kamen wir nur am Sonntag nachmittags zusammen in der Köhlerhütte, um die Hauptgrundsätze aufzustellen. Dabei besserte der Johann sein Gewand aus; ich half ihm nicht dabei, obzwar ich es besser verstanden hätte, denn mir, dem Schneider, war das eine Werktagsarbeit, und die war auch nach unseren Satzungen an Sonn- und Feiertagen verboten. Hingegen erinnere ich mich, daß wir uns während der Religionsgründung einmal gegenseitig die Haare schnitten, und daß ich dem Johann mit dem Schermesser die jungen Bartsprossen wegkratzen mußte, wobei es etwas Blut gab, was aber für Religions) gründer gar nicht uneben stand.[48]

Derlei Spielereien kamen uns aber teuer zu stehen. Anstatt daß wir eine neue brauchbare Religion zustande brachten; verloren wir – wie das schon zu gehen pflegt – die Gläubigkeit bei der alten, und eines schönen Tages warfen wir die Frage auf, ob es denn wirklich einen Gott gäbe und ob es mit der Unsterblichkeit der menschlichen Seele wohl seine Richtigkeit hätte? Es war damals nämlich Brauch geworden, daß Leute, um sich den Anschein tieferer Bildung zu geben, beides leugneten und sich auf »Materialisten« hinausspielten. Nun, wir zwei jungen Männer wollten mit dieser Sache auch noch fertig werden. Weil wir sie aber doch ein wenig ernster nahmen, als das sonst bei Leuten unseres Alters vorkommt, so blieben wir mitten im Zweifel stecken und konnten weder vorwärts noch zurück.

So stand es um die Zeit, als wir uns trennen mußten. Ich ging in die Fremde, er blieb in der Köhlerhütte. Der Abschied war in einem Wirtshaus, nachdem wir bis spät in die Nacht dort beisammengesessen und beim Obstmost noch einmal, gleichsam zusammenfassend, unsere gewohnten Gespräche geführt hatten. Noch erinnerte ich mich, daß sich mein Freund in bezug auf unsere Zweifel folgendermaßen geäußert hatte: »Im Gottesnamen, ist nichts, so ist nichts; deswegen werd' ich kein Lump, das sag' ich.« So war auch mein Fürnehmen. Dann begleitete mich der Hansel bis zur Linde. »Da gilt's,« sagte er und hielt meine Hand noch fester, anstatt sie zu lassen. »Freund, ich weiß noch was. Wir werden uns nimmer untreu. Sehen wir uns nicht mehr, so ist's das erste- und letztemal. Gib mir ein Bussel. So. Und ietzt will ich dir was sagen. Wenn einer von[49] uns früher stirbt als der andere, und es ist ein Gott und eine Ewigkeit, so muß er zurückkehren auf diese Erden und es dem anderen sagen. Ist dir das recht?«

Ich war einverstanden.

»Ängstigen wollen wir uns nicht, mit Gespenstersachen oder so,« fuhr der Hansel fort, »wenn's mich zuerst sollt' treffen, ich komme zu dir wie ich bin, beim Tag oder bei der Nacht, und will dir's berichten.«

»Aber wenn der Leib in der Erden liegt, wie willst denn kommen?« war in tiefem Ernst meine Frage.

»Komme ich nicht, so weißt, es ist nichts. Sonst wirst mich schon erkennen. Siehst du mich nicht, so will ich dir's anders kundmachen, ein Zeichen sollst haben. Und trifft's dich früher, so besuche du mich. Jetzt geh'. Leb' wohl, Peter, und schreib' einmal.«

So war's und nichts weiter. Wir waren weit auseinander gekommen; der Köhlerhansel und ich, und wir haben uns noch ein paarmal geschrieben. Jeder von uns lebte sich sachte in einen besonderen Kreis ein, die Dinge, die uns einst zusammengehalten, hatten sich aufgelöst oder anders gestaltet, wir verließen einander, ohne daß wir es merkten, ohne daß es uns weh tat. Jahre später fand sich bei einem Briefe, den mir ein Bekannter aus der Heimat geschrieben hatte, als post scriptum folgender Bericht: »Mache Dir auch zu wissen, daß im vorigen Monat der Köhlerhansel, den Du auch gekannt hast, im Zedelwald beim Holzen verunglückt ist. Hat ihm ein rutschender Baumstamm die Brust eingestoßen, ist auf der Stelle tot geblieben.«

Die alten Zeiten und die alten Gestalten sanken[50] immer tiefer in den Abgrund. Als ich jetzt aber nächtlicherweile still und allein jene Waldstraße ging, und durch den Zedelwald, in welchem mein armer Freund in jungen Jahren plötzlich hat sterben müssen, da ward mir alles wieder wach, was ich einst mit dem Hansel erfahren, getrieben und gesprochen hatte. Und da trat mir auch jene Verabredung beim Scheiden lebhaft vor die Seele und ich dachte: Wenn er jetzt käme?

Wenn er mir jetzt begegnete und brächte mir die Botschaft von einem Leben in der anderen Welt!

Um mich war der heilige Frieden der Mondnacht. In geheimnisvollem Lichte lag der Pfad vor mir zwischen den finsteren Tannen, und als sich die Straße um eine Böschung bog, sah ich etwa zwanzig Schritte vor mir, dort, wo eine Mulde den Berg herabging, eine weiße Gestalt stehen. Sie stand ganz unbeweglich, als warte sie auf mich, bis ich herankäme.

Schmal und schlank war sie und hatte einen großen, fahlschimmernden Kopf. Eine hölzerne Säule war's, die eine Tafel trug; und auf der Tafel standen – vom Mond jetzt hell und klar beleuchtet – die folgenden Worte:

»Alhier habe ich, Johann Würtel, am 19. Oktober 1870 beim Holzen mein Leben müssen lassen 33. Jahr meines Alters. Wanderer, bete für mich ein Vaterunser, auf daß Gott meiner armen Seel in jener Welt gnädig und barmherzig sei.« – – – - – –

Also war mir mein Freund erschienen. Ein Grauen ging durch mein Wesen, als ich so, gleichsam Aug' um Auge, dem längst Begrabenen gegenüber stand. Er war[51] mir erschienen und ich konnte doch nicht sagen, daß ein Wunder geschehen.

Das Wunder vollzieht sich still in der Seele des Lebendigen, des Zweifelnden, des nach trostreicher Wahrheit Ringenden.

Das eine ward mir von neuem klar: die Toten leben in unserer Erinnerung; ob sie außer dieser geistigen Welt noch in einer anderen leben oder nicht, darüber laut zu sprechen wage ich nicht. Ich für mich weiß es wohl.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 45-52.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit - Zweiter Band [Reprint der Originalausgabe von 1914]
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit

Buchempfehlung

Strindberg, August Johan

Gespenstersonate

Gespenstersonate

Kammerspiel in drei Akten. Der Student Arkenholz und der Greis Hummel nehmen an den Gespenstersoirees eines Oberst teil und werden Zeuge und Protagonist brisanter Enthüllungen. Strindberg setzt die verzerrten Traumdimensionen seiner Figuren in steten Konflikt mit szenisch realen Bildern. Fließende Übergänge vom alltäglich Trivialem in absurde Traumebenen entlarven Fiktionen des bürgerlich-aristokratischen Milieus.

40 Seiten, 3.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Spätromantik

Große Erzählungen der Spätromantik

Im nach dem Wiener Kongress neugeordneten Europa entsteht seit 1815 große Literatur der Sehnsucht und der Melancholie. Die Schattenseiten der menschlichen Seele, Leidenschaft und die Hinwendung zum Religiösen sind die Themen der Spätromantik. Michael Holzinger hat elf große Erzählungen dieser Zeit zu diesem Leseband zusammengefasst.

430 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon