Wie es dem weisen Stin als Zuschauer erging.

[38] Der alte Kerl beschloß ein weiser Mann zu werden und machte sein Testament. Sein Werkzeug verschrieb er dem Meister Natz, sein Gewand dem Trödler Absalon, seine Seele Gott dem Herrn und seinen Leib der braunen Schafmarl.

Die braune Schafmarl aber sagte: »Wozu brauch' ich seinen Leib, ich hab' selber einen.«

»Eben deswegen,« hatte hierauf ein loses Maul bemerkt, »Gott ist dreifach, und wenn der Mensch Gott ähnlich werden will, wie es auf der Kanzel verlangt wird, so muß er wenigstens zwiefach sein, sonst kann er dreifach sein Lebtag nicht werden.«

So töricht redete unser Geselle Stin nicht, der beschlossen hatte, ein weiser Mann zu werden.

»Wenn sie meinen Leib nicht will, die braune Schafmarl,« sagte er, »es macht nichts; er soll der armen Seel' noch als Ausgedinghäusel gut sein, bis sie der Herr zu sich nimmt.«

Nun bedurfte aber das Ausgedinghäusel ein Dach. Der weise Stin hätte sich zwar nicht geschämt, das Ebenbild Gottes unverhüllt herumspazieren zu lassen, aber die Leute haben schwache Augen und endlich durfte er es auch der edeln Schneiderzunft nicht antun, sie mit einem neuen Brauch[39] zugrunde zu richten. Also der Trödler Absalon muß das Gewand noch ein wenig hängen lassen auf dem langen Stin und sonach darf der Meister Natz einstweilen seine Hand auch nicht aus Werkzeug legen, das ihm von dem liederlichen Handwerksburschen Schulden halber zu Recht verschrieben ist.

So blieb es äußerlich beim Alten. Wer aber, wie ich, Gelegenheit hatte, näher mit dem Gesellen zu ver: kehren, der konnte wohl erfahren, was der Stin für ein schreckbar weiser Mann geworden war.

»Leute!« sagte er trostweise, wenn ihnen irgend etwas schief ging. Und als der Schnaller Hies der Welt die Drohung in das Gesicht schleuderte: wenn sie fortfahre, so jämmerlich zu sein, so werde er sich erhängen! »Leute,« sagte der Stin, »machen wir den Spaß mit, so lange er dauert. Er dauert nicht lang' und wir haben noch immer Zeit genug, tot zu sein.«

Der Schelm! Nach diesem Grundsatz kann der größte Weltverächter das Leben hundert Jahre oder länger tragen. Zum Todsein haben wir immer noch Zeit genug. Der Grundzug der Weltanschauung meines Gesponses war aber ein anderer. So sagte er einmal zu mir: »Kind, die Welt ist ein Theater.«

»Ganz recht,« warf ich ein, denn auch ich wollte weise sein, »ein Theater! Aber ein Trauerspiel, und wir müssen mitspielen, mein Lieber!«

»Wer schafft (befiehlt) mir's denn?« fragte der Stin. »Ich bin Zuschauer, habe mein Eintrittsgeld gezahlt und will mich unterhalten.«

»Du hast ein Eintrittsgeld gezahlt? Wieso?«

»Oder meine Eltern für mich.«[40]

»Deine Mutter vielleicht. Dein Vater schon gar nicht, der hat bei deinem Eintritt noch was heraus) bekommen. Ja, mein Lieber, der Eintritt in dies Theater ist umsonst gewesen, aber den Austritt mußt du bezahlen!«

»Ich kaprizier' mich nicht auf den Austritt,« lachte der Stin, »ich bleibe meinetwegen in Ewigkeit da sitzen und schau' der Komödie zu. Langweilig wird mir nicht, wenn ich sehe, wie der dumme Teufel geschunden wird und der Schlechte zieht die Haut des Geschundenen an, bis er darunter selber erstickt.«

»Schindest du oder wirst geschunden?«

»Ich tu' nicht mit, ich bin Zuschauer. Ich pfeife oder klatsche, und geht's mich weiter nichts an.«

»Und wenn sie vor deinen Augen deinen Bruder sengen und brennen?«

»Ja, mein Schätzbarer!« rief hierauf der lange Stin, »das, was man so unter Brüdern Mitleid nennt, das muß wan sich abgewöhnen, sonst ist man das elendeste Geschöpf auf Gottes Erden. Bei Auftritten, wo du nicht lachen kannst, mußt du weidlich schimpfen, und wo das auch nicht geht, da halte dir Augen und Ohren zu und gib acht, daß dich selber nichts zwickt.«

»Aber ehrenhalber mußt du dich doch kümmern um die Mitmenschen!«

»Ehrenhalber? Wein junger Genosse und Milchbruder beim frischen Wasser, was heißt ehrenhalber? Ehre ist das, wenn du so tapfer und klug bist, dir die besten Bissen zu verschaffen, und Schande ist das, wenn du ein armer Schlucker bleibst.«

»Je, Herr Philosophus und Schneidergeselle!« rief ich aus, »Ihr seid ja ein Rindvieh!«[41]

»Nicht ganz genau,« antwortete er, »Rindvieher haben bei diesem schönen Theater zwar auch keine großen Rollen, sie sind Choristen; ich aber bin Zuschauer, und wie oft soll ich dir das sagen?«

Einmal war ein Kirchweihfest und als Glanzpunkt desselben beim Schanzwirt ein martialisches Raufen. Der lange Stin war auch dabei, aber er duckte sich hinter den Ofen und guckte hervor und kicherte und schrie »Bravo!« als sie aneinandergerieten. Sie zogen die Schlagringe und Messer, die Unbeteiligten wollten beschwichtigen, der Zuschauer hinter dem Ofen aber klatschte – als der erste Geschlagene auf den Boden hingetaumelt war – mit den Händen und schrie: »Bravo! Bravo!« Alsbald rief einer: »Was geht's den an, hinter dem Ofen! Frotzeln will er uns!« Sie zerrten ihn hervor und sättigten ihm den Buckel unter gewaltigem Applaus aller Anwesenden.

Als der Philosoph arg zertrillt zur Tür hinauswankte, zischelte ihm einer zu – wetten mag ich nicht, ob ich's nicht selber war – diesmal hätte der Zuschauer auch seinen Teil bekommen an der Handlung, diesmal sei es umgekehrt gewesen, hätten die Schauspieler Beifall geklatscht. Da ward der Zuschauer zum Rezensenten und knirschte: »Hundsgemeine Bande, das!«

Damit war es aber noch nicht vollkommen abgetan. Die Gerechtigkeit streckte ihre Hand aus, nahm etliche der Raufer beim Schopf, und darunter auch den weisen Stin. Der sei die eigentliche Ursache, hieß es, der habe mit seinem Geklatsche und Bravogeschrei so lange gehetzt, bis die Metten losgegangen. Wurde hierauf der Stin feierlich in den Gemeindekotter getan. Früher hatte er mehrmals geäußert, er werde sein Lebtag nicht »sitzen«,[42] dazu könne man keinen zwingen; sperre man ihn schon ein – was übrigens unmöglich sei, weil er sich ja grundsätzlich an nichts beteilige – so wolle er stehen, damit man nicht sagen könne, er sei einmal »gesessen«. Im Gemeindekotter ging das nun aber nicht, denn der war für den langen Bengel zu niedrig. Er kauerte also auf seinem Stroh und wenn man zum winzigen Fensterlein hineinguckte, so stellte er sich tot.

Ich bin gegen sehr weise Leute von jeher boshaft gewesen; so rief ich eines Tages durch das Loch hinein: »Guten Abend, Zuschauer! Du gibst es aber vor nehm, jetzt hast du gar eine Loge!«

Er tat das Klügste des Weisen, er schwieg.

»Einen Gucker haben sie dir auch hergetan,« fuhr ich fort, auf das Fensterchen deutend, »nur ein klein bissel schade, daß dir das Haus des Gemeindevorstandes seine hintere Seite zukehrt. Ein Kehrichthaufen und das Bretterhüttel daneben.«

»Es ist höchst langweilig,« knurrte der Stin.

»Vielleicht geht dir das Welttheater bald zu Ende,« tröstete ich, »bereite dir dein Austrittsgeld. Wenn die zwei sterben, die deinetwegen niedergeschlagen worden sind, so kostet's dir bloß den Kopf.«

»Meinetwegen, wenn's keine edleren Körperteile trifft!« sprach er; daraus schloß ich, daß er noch bei Humor war.

In denselben Tagen hatte der Ochenberger auf seiner Ödgart Feuer angezündet, um das abgehauene Gestrüppe zu verbrennen. Zur nächtlichen Zeit erhellte dieses Feuer auf dem Berghang das ganze Dorf. Ich ging zufällig zur[43] Nachtstunde wieder am Gemeindekotter vorüber. »Schläfst du schon, Zuschauer?« rief ich zum Loch hinein.

»Hol's der Teufel!« knirschte er, »mach', Kamerad, daß sie mich auslassen.«

»Schau, Augustinus, ich bin jetzt auch auf deinem Standpunkt; bei dieser Weltkomödie ist es wirklich am besten, man mischt sich nicht drein, macht den Zuschauer und unterhält sich. Man müßt' sonst aus der Haut fahren bei dem Elend. Zum Beispiel jetzt. Denk' dir, Stin, das Unglück! Das Dorf brennt. Am unteren Rand hat es angefangen. Drei Häuser sind schon hin, der Wind trägt die Flammen über alle Schindeldächer her, siehst du den Schein? Siehst du ihn? Das ganze Dorf gilt's! Schau du, just hebt schon dem Gemeindevorstand sein Hausdach an zu brennen!«

Der Stin war dermaßen aufgesprungen, daß sein Kopf in die Decke schier ein Loch stieß. »O Freund, edler, treuer Mensch!« rief er und hielt die Arme zum Fensterchen heraus, »befreie mich! Rette mich! Sie vergessen meiner!«

»Geniere dich nicht, verbrenne ganz ruhig,« so mein Zuspruch; »mir geschieht nichts, ich bin schon so klug, etwas zurückzutreten, wenn mir's zu heiß werden sollte. Und wenn du mir schon einen Spaß machen willst: stirb recht heldenmütig, so etwas sieht sich immer gut an. Halt, jetzt ist mir ein Funke an den Rock geflogen.«

»Sackermentsgesindel!« wütete der Stin, »verbrennen lassen sie einen! Keine Nächstenlieb', keine Menschlichkeit mehr auf der Welt!«

»Mach' dir nichts draus, Kamerad. Es ist eben ein Theaterbrand, wo auch die Zuschauer mit zugrunde[44] gehen. Nichts weiter. Aber verdammt heiß wird's da, vor deiner Loge.«

»Höhne mich,« sagte der Stin in sich zusammenbrechend. »Höhne mich, wie du willst, ich hab's verdient.«

»Wenn du sagst, du hast es verdient,« rief ich, »so hast du es nicht verdient. Das Leben ist ein Schauspiel, ich lasse es gelten, aber wir sind Zuschauer und Mitwirkende zugleich. Leiden und mitleiden, sich freuen und mitfreuen, das heißt Menschenleben. So halten wir's, so tragen wir's, bis es klingelt und der Vorhang fällt.«

Der Stin wimmerte in seinem Kotter.

»Gute Nacht, Stin. Der Brand ist gelöscht. Morgen, hat der Gemeindevorstand gesagt, wirst du frei, dann streiche einen Teil deines Testaments durch. Dein Werkzeug und dein Gewand behalte für dich. Deine Seele magst du Gott dem Herrn empfehlen und deinen Leib der braunen Schafmarl; Freuden auf Erd' und im Himmel, Freuden im Überfluß, aber lauter gemeinsame. Gute Nacht, Stin!«

Ob der weise Stin wieder »töricht« genug geworden, um ein guter, echter Mensch zu sein, ich weiß es nicht. Wenige Tage nach seiner Befreiung aus dem Kotter hat er sich fremd gemacht und ist in die weite Welt gegangen.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 38-45.
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