Das Kreuz an der Stiegel.

[325] Mancher Mensch weiß nicht, was er alles im Kopfe hat. Es steht in irgendeinem Winkel ein Trühelein mit Großvaters oder Urgroßvaters Hausrat. Es ist, als ob wir das Gehirn des Großvaters in unserem Kopfe hätten, nur daß es sorgfältig gewaschen und ausgebügelt worden. Trotzdem ist hie und da ein ganz blasses Mal, ein ganz seines Fältchen zurückgeblieben von den Eindrücken längst vergangener Zeiten. Es ist wunderlich beschaffen mit dem Inhalte eines Menschenhauptes.

Ich erzähle aus eigenem Erinnern. Wahr wird's wohl sein, denn wie könnte ich's aus dem Kopfe herausschreiben, wenn's nicht drinnen wäre!

In den ersten Jahren meines Lebens bin ich natürlich viel auf dem grünen Anger, wo die Maßliebchen stehen, herumgesprungen oder habe zu den Fenstern des Vaterhauses hinausgeguckt. Die starrenden Fichtenbäume und die weiten Berge, die ringsum standen, habe ich zwar nicht gesehen, wohl aber die Weisen und die Finken, die auf den Wipfeln waren und die weißen Kühe und die schwarzen Schafe, die an den Hängen herumstiegen. Dann habe ich auch noch gesehen eine alte graubemooste Torsäule, die drüben am Angertor stand, durch das der Weg ins Tal führte. Diese Torsäule stand etwas schief, war schon so verwittert, daß der Kopf nur mehr in stumpfen Splittern aufragte. Wenn ich sie sah, mußte ich immer an die[326] Ahnel (meines Vaters Mutter) denken oder an einen heißen Sommernachmittag mit aufsteigenden Wetterwolken. Warum gerade diese Vorstellungen damit verbunden waren, weiß ich nicht. Dann sah ich am oberen Rande des Angers, neben dem Zaun das Bildstöckel, wir nannten es »das Kreuz«, weil im Holzkästlein an der Säule das Bild des gekreuzigten Heilandes war. Letzteres eine bunte Glasmalerei: auf kanarigelbem Grunde das rote Kreuz, an beiden Seiten oben Rosen und am unteren Rande die Stadt Jerusalem. Für mich hatte dieses Bildnis schon auch deshalb einen geheimnisvollen Reiz, weil mein Kinderleiblein nicht hinausragte, um es ordentlich betrachten zu können; und als ich nach und nach so hoch emporgewachsen war, daß meine Nase über die untere Kante des Holzkästleins ging, da war das Bild in Scherben, das rückwärtige Holz starrte hervor, nur in den Rahmenecken stak noch manches Stück Glas mit einem Kreuzarm oder einem roten Zwiebelturm der Jerusalemstadt.

Und endlich sah ich in jenen fernen Tagen ein zweites, großes Kreuzbild. Dasselbe stand am unteren Zaunrande des Hausangers, neben der »Stiegel«, wo man vermittelst eines durchgezogenen Brettes über den Zaun steigen konnte, wenn man das unweit stehende schwere und widerspenstige Tor nicht ausmachen wollte. Jeder, der des Steiges kam und über die Stiegel stieg, schlug vor dem großen Holzkreuz ein kleines Kreuz über sein Gesicht, wie es der Brauch war bei mir daheim. Vom Stubenfenster aus war das Kreuz sehr gut zu sehen, das unten, etwa zehn Klafter vom Hause entfernt, an der Zaunstiegel stand. Es war so hoch wie etwa zwei Männer[327] übereinander, hatte ein zweiflügeliges Bretterdach und rückwärts eine Verschalung, die bis zur Mitte der Säule herabging und die mich ihrer Form halber immer an den »Meßrock« eines Priesters erinnerte. Ost bin ich vor dieser Bildsäule gestanden. Auf dem Kreuze war ein fast lebensgroßer weißer Christus, über dessen Haupt die nach einer Seite ausgezackte Tafel mit der Inschrift I. N. R. I., »und an dessen Fuß ein schwerer roter Eisennagel, der an einem Kettlein hing. Der Christus hatte das Haupt nach der rechten Seite gesenkt, er schloß halb die Augen und seine Gesichtszüge mit den dick hingemalten Augenbrauen, mit dem schwarzen Kinnbart, der sich kipfelförmig über die Mundwinkel hinaufschlang, erinnerten mich an meinen Taufpater Patritz Königshofer, der im Graben unten sein Haus hatte und auch so ähnlich aussah.

Das Kreuz hatte vor sich eine Betbank und stand so, daß es dem Hause fast abgewendet war und sich gegen den Torweg hin kehrte; vom Stubenfenster aus sah man nur die hervorstehenden Knie des Heilandes. –

Dieses Kreuz nun vor unserem Hause hatte ich in meiner Kindheit gerne angeschaut. Gewöhnlich stand es im silbernen Schimmer der Morgensonne, auf dem Anger ringsum der Tau und die Blümlein, und voller Vogelsang war die Welt.

Etwa im elften oder zwölften Lebensjahre mochte es gewesen sein, daß ich meinen Vater fragte, warum er denn das große Kreuz habe niederreißen lassen, das unten an der Zaunstiegel gestanden. Der Vater antwortete, er wisse nicht, was für ein Kreuz ich meine, wenn nicht das Bildstöckl, welches hinter dem Hause am oberen Angerzaun[328] stehe. Das sehe man ja, sagte ich, aber jenes Kreuz täte ich meinen, welches vor dem Hause am unteren Angerzaun gestanden mit dem großen geschnitzten Christus und mit dem eisernen Nagel am Kettlein! Der Vater schüttelte das Haupt – was ich denn da zusammenrede, am unteren Angerzaun sei sein Lebtag nie ein Kreuz gestanden. Hierauf nahm ich ihn an der Hand, führte ihn hinab zur Stiegel und zeigte neben dem Zaune genau den Platz, wo das Kreuz gewesen ist. Jetzt wuchs wildes Gekräute dort, auch Distelwerk darunter. Mein Vater wiederholte, daß seines Gedenkens an dieser Stelle niemals eine Kreuzsäule gestanden, ja daß auch sein Vater von einer solchen nie gesprochen hätte. Darauf gab ich mich zufrieden und dachte: So wird's halt gewesen sein, als ich das frühere Mal auf der Welt gewesen bin.

Aus dem Kopfe ist's mir aber nicht gegangen. So oft ich als Ochsenführer, als Hirt oder sonst wie an der Stelle vorbeikam, dachte ich aus Kreuz, und heute noch sehe ich es in allen seinen Einzelheiten so klar und deutlich vor mir, wie man in der Erinnerung nur etwas sehen kann. Mein Vaterhaus, die Bäume davor, der Brunnentrog, die heute dort noch sind, sie stehen nicht lebhafter vor mir als das Kreuz an der Stiegel, das gar nie vorhanden gewesen sein soll. – Damals hatte ich dann das innere Gesicht allmählich aus den Augen verloren. Ich wuchs auf, dem Begehren, dem Streiten des Lebens zu. Rößlein gibt es zum Reiten und Dirnlein zum Necken, da hat der Knab' nicht Zeit, aus Kreuz zu denken. Zudem war ein ganz anderes Kreuz aufgestanden. Wir hatten abgehaust, und eines Tages mußten, wie noch erzählt werden soll, Vater und Mutter fort aus dem Heimatshause.[329] Ich war zur Zeit daheim auf Ferien. Die Werkzeuge, die Axt und das Spinnrad wurden zusammengepackt, die alten Kästen wurden aus ihren Winkeln gerückt, wo sie länger als ein Jahrhundert gestanden, um sie nun auf den Karren zu laden und ins Ausgedinghäusel hinabzuführen. Und als wir so den großen braunen Kasten mit den altväterischen Gesimsverzierungen von der Wand rückten und dabei hinten ein Geflocke von Spinnweben aufdeckten, da bemerkte der Vater zwei Brettlein, die zwischen Wand und Kasten aneinandergelehnt waren. Wir taten sie auseinander und da fand sich, daß auf der Innenseite des einen mit Kohlen etwas geschrieben stand. Die Buchstaben waren unbeholfen, aber sorgfältig gezogen und als ich den Staub weggeblasen, stand da deutlich zu lesen: »Das Geld ist beim unteren Kreutz vergraben.«

»Was für ein Geld?« war der erste Ausruf des Vaters. Niemand wußte etwas davon. Sollte das Brettel aus alten Zeiten stammen? Vom Ahnen ging immer die Mär, daß er reich gewesen, soll ja nach seinem Tode auch einmal altes Silbergelb gefunden worden sein. Aber nicht beim unteren Kreuz. Wo ist denn das? Es gibt kein unteres Kreuz! »Gelb vergraben! Von wem! Für wen? Der Ähndl Ignaz (des Vaters Vater) hat gar nicht schreiben können. Das wird ein anderer gewesen sein, ein Leutfopper.« So weinte mein Vater und wollte das Brettlein wieder in den Winkel werfen. Ich nahm es ihm aus der Hand und war der festen Meinung, daß die hölzerne Urkunde etwas zu bedeuten haben müsse. Beim unteren Kreuz sei gewiß ein Schatz vergraben und das untere Kreuz sei gewiß dort gestanden, wo ich es in Kindeszeiten so oft gesehen.[330]

Den alten Kasten ließen wir stehen querüber in der Kammer, wie wir ihn eben zum Aufladen gerückt hatten; die Ochsen, die schon draußen am Karren standen, ließ der Vater wieder ausspannen. – Geld vergraben! Wenn wir es f Biben! Wenn wir damit die Schulden bezahlen und nachher wieder auf unserem lieben alten Hofe bleiben könnten! Ganz heiß wurde uns unter dem Brustfleck. – Ich nahm den Spaten vom Karren und sagte zum Vater, er solle desgleichen tun und mit mir kommen. So langte er nach der Schaufel und wir gingen über den Anger hinab gegen die Zaunstiegel.

»Wie wirst denn du das Kreuz finden – wo nie eins gestanden ist?« murmelte mein Vater.

Ich hub an, neben der Stiegel das Gestrüppe wegzuhauen und in den Boden zu graben. Die Erde war schwarz, ich stieß auf moderiges Holz. »Da schaut her,« sagte ich zum Vater, »der Kreuzstock ist noch da. Man kennt's, es ist rotes Lärchenholz.«

Er schüttelte den Kopf. Es war tatsächlich der Rest einer eingetriebenen viereckigen Säule.

»Jetzt werden wir auch den Schatz bald haben,« sagte ich, spuckte in die Hände und grub emsig weiter. Der Vater schaufelte mit großer Rüstigkeit die Erde seitab. Die Mutter schwankte auf ihrem Stocke vom Hause zur Stiegel herab und wieder zurück, und wieder herab und sah, wie das Loch immer breiter und tiefer wurde. »Schwitzen tut ihr,« sprach sie dann, »soviel schwitzen tut ihr.«

Vom Nachbarsweg herüber humpelte unter seinem Rückkorbe ein alter abgehauster Bauer, der Zirl genannt. Im Korbe hatte er sein Bett, mit dem ging er von Haus[331] zu Haus, und sammelte milde Gaben. Und wo es Abend wurde, dort blieb er, richtete in der Scheune oder im Holzschuppen sein Bett auf und schlief darin wie ein König. Aber wie einer, der im Reiche Frieden hat. Diesem Alten humpelte die Mutter jetzt entgegen und fragte ihn, ob er heute seinen Hunger noch im Magen habe, denn das war sonst des alten Zirls Sprüchlein: er habe noch den gestrigen Hunger im Magen. Diesmal war der Alte verblüfft über die Frage und sagte mit einiger Bösartigkeit: »Was fragst meinem Hunger nach, Waldbäuerin, wenn du ihn doch nicht füttern kannst. Hast ja selber nichts. Gehst ja selber just vom Haus wie die Dirn vom Tanz. Jetzt können wir miteinander gehen.«

Ein hoffnungsreiches Herz ist stark, daher entgegnete ihm die Mutter ganz gelassen: »So schlimm wird's etwa doch nicht sein, wenn's Gottes Willen ist. Vielleicht kann ich auch deinem Weib wieder einmal ein Bröckel schicken. Wie geht's ihr denn?«

»Dank dir Gott, sie hat alleweil guten Appetit.«

»Gesegne Gott, sie wird schon was kriegen.«

»Aber Bäuerin, ich höre doch, daß ihr absiedelt.«

»Muß sich erst weisen. Es kommt immer einmal eine Veränderung. Ein Eiersüppel, wenn du magst!«

»Ein Eiersüppel mag ich schon,« meinte der Alte. »Jeßtl, Jeßtl, wenn ich nur meinen Depp bei mir hätt', der tut auch gerne Eiersüppeln essen.«

»Tust ihn halt ein andersmal mitbringen, deinen Buben,« sagte meine Mutter. Denn der Bub war ein armes Taubstummerl. Und so hatte sie die ganze Zirlfamilie zu sich ins Haus geladen, bevor sie wußte, ob wir selber drinnen bleiben werden.[332]

Mittlerweile waren wir mit unserem Schatzgraben ziemlich tief gekommen. Nun lehnte ich den Spaten an den Zaun und ging ins Haus, um noch einmal genau zu lesen, was auf dem Brettel stand. »Das Geld ist beim unteren Kreutz vergraben.« – Es mußte doch stimmen. Ich ging wieder hinab, um weiter zu arbeiten. Da rief mir der Vater schon entgegen: »Du geh' her! Geschwind geh' her! Da drinnen, schau einmal!«

Er zeigte in das Loch. Da drinnen war, noch halb mit Erde bedeckt, etwas, wie die bauchige Wand eines eisernen Topfes. Rasch faßte ich den Spaten, Gott, wie ist das Arbeiten lustig, wenn man den Topf schon sieht! Endlich war das Ding bloßgelegt. Es war ein großer Eisentopf, aber der Rost hatte stellenweise Löcher hineingefressen. Darinnen war nichts als Erde und der schlappige Fetzen eines härenen Stoffes, der auseinanderfiel, als wir ihn anfaßten.

Lange haben wir noch herumgewühlt in der Erde, haben den Topf herausgehoben, ihn beguckt von allen Seiten. Dann hat mich der Vater mit länglichem Gesicht angeschaut und ganz leise gesagt: »Die Ochsen können wir wieder einspannen.«

Als die Mutter von dem Ausgang unserer Schatzgräberei gehört, sprach sie zum alten Zirl: »Nur sauber ausessen, das Eiersüppel. Wird wohl eh das letztemal sein, daß ich dir was kann zukommen lassen.«

Dann machte sich der Alte mit vieler Umständlichkeit auf den Weg. Er kann zum Aufladen seines Bettelkorbes eine halbe Stunde brauchen, wer sagt ihm was dagegen? Er in sein eigener Herr. Als der Zirl dann zur Stiegel hinabkam und die Grube sah, blieb er stehen, schaute eine[333] Weile hinein und rief mit seiner kreischenden Stimme zum Karren herauf, wo wir gerade den Kasten festbanden: »Was willst denn da einsetzen, Waldbauer? Leicht wieder ein Kreuz?«

Gingen wir etliche Schritte gegen ihn hinab.

»Su redest auch von einem Kreuz?« fragte ihn der Vater.

»Ja,« sagte der Alte, »weil da einmal ein Kreuz gestanden ist. Eh vor Zeiten einmal. Hab's selber sehen liegen, wie es der Wettersturm hat umgeworfen. Du wirst selm noch nicht auf der Welt gewesen sein, Lenzel.«

Meine Eltern sind abgesiedelt, vom großen Bauernhof ins kümmerliche Häusel. über das vergrabene Geld haben wir noch Mutmaßungen augestellt, aber diese waren so wenig erträglich, als früher das Graben gewesen. So ließen wir es endlich auch sein. Länger hat uns das Kreuz beschäftigt; das noch vor der Geburt meines Vaters umgefallen war und das ich in meiner Kindheit im Morgensonnenscheine so oft habe stehen gesehen.

Wie soll ich das nach unserem grobkörnigen Erkennen anders sagen, als daß das Kreuz mit allen seinen Einzelheiten zufällig im Gehirn drinnen noch gesteckt ist, das ich von meinem Großvater geerbt habe. – Und wenn es sich mit diesem Kreuze an der Zaunstiegel so verhält, dann kann ich nicht gutstehen für anderes, was ich gesehen, gehört und erfahren. Es mag manches in unserem Kopfe sein, was nicht wir, sondern die Ahnen hineingetan haben.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 325-334.
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