Der Waldheimat letzter Tag.

[350] Das war am 16. Januar 1872. – In der Stadt Graz war der lustige Karneval. An den Abenden ein tolles Gedränge auf den Gassen, ein fast betäubendes Rasseln der Wagen, ein Johlen und Schreien, ein Flimmern und Leuchten aus den Gewölben und Auslagen und von den Laternen und den Spiegeln der Fenster. Gold und Silber, Seide und Damast funkelten aus den Glaskästen. Gesichtsmasken in allen Farben und Formen grinsten daneben. Ich eilte durch das Gedränge. Die Uhr am Schloßberge tat sechs Schlage, so hell – sie überklangen alles Geräusch, sie widerhallten von den hohen, lichtdurchbrochenen Mauern der Häuser. – Ich ging nach Hause in meine Stube und begab mich bald zur Ruhe.

Des anderen Morgens lag das Winterglühen der Sonne auf den schneeigen Dächern, ich schrieb eben das Märchen auf von dem verlorenen Kinde am Gansstein – als es an meiner Tür klopfte. Ein Mann trat herein und brachte mir folgendes Telegramm:


»Lieber Sohn, gestern abend um sechs Uhr ist unsere liebe Mutter verschieden. Komme zu uns, wir erwarten dich in Trübsal.

Dein Vater.«
[351]

– Gestern abend, als ich durch das Weltleben schritt, war es geschehen in der armen Hütte. Und zur sechsten Stunde.

Am anderen Tage in der Morgenfrühe war ich im Pfarrdorfe. Allein trat ich den Weg an, über schneefunkelnde Höhen und durch große Wälder, weit hinein in das Gebirgstal. Unzähligemale war ich den Weg gewandelt, immer hatte ich mich ergötzt an dem Glitzern des Schnees, an den funkelnden Eiszapfen, an den Schneemänteln der Baumäste oder, wenn es Sommerzeit war, an dem Grünen und Blühen und Duften, an dem Vogelsang, an den Tropfen des Lichtes, die niedersickerten zwischen den Ästen, an der Ruhe und tiefen Einsamkeit. Wie oft war ich hier mit der Mutter gegangen, als sie noch gesund und blühend gewesen, und später, als sie durch Krankheit gebeugt an meinem Arm einherwankte. – Und ich dachte auf diesem Waldweg an den Lebenslauf meiner Eltern.

Nach Stunden stand ich vor dem kleinen Haus im Engtal, dem »Gasthäusel«, in das meine Eltern hatten ziehen müssen, und wo die letzte Krankheit meiner Mutter angefangen hat.

Mein Vater sah mich zuerst, er kam mir entgegen. »Mußt dich in den Willen Gottes geben,« sagte er und führte mich in das Haus. In der Vorlauben hinter der Bodenstiege lag sie aufgebahrt, arm und schmucklos.

Ihre Kinder daheim hatten geschlafen in der Sterbenacht. Erst als das Morgenrot durch die Fensterchen leuchtete, ging der Vater zu ihnen in die Kammer und sagte: »Tut die Augen auf und schaut, über den Wechsel[352] steigt schon die Sonne herauf, und unsere liebe Frauen tut drin sitzen mit dem Christkind, und auf dem Schemel zu ihren Füßen sitzt eure Mutter und tut aus einem Rocken das himmlische Kleid spinnen.«

Da wußten sie's gleich, es war die Mutter gestorben.

Dann war noch eine Nacht und dann der letzte Waldheimattag. Zwei Männer stellten den Sarg auf die Trage und huben ihn auf und trugen ihn aus der armen Menschenwohnung im Walde, und davon über die Heiden und durch hohe Wälder – ein langer, betender Leichenzug.

Und ringsum war die Winternacht, und über allem stand der Sternenhimmel.

Und nun lag die Waldhütte da in der Dunkelheit und in der tiefsten Stille, ohne Schmerz und ohne Freude. Das Leben war fort, der Tod war fort – eine größere Einsamkeit kann nicht sein.

Man hörte das Summen der Betenden, man sah das Flimmern der wenigen Laternen zwischen den Baumstämmen. Die Träger gingen mit schnellem Schritte. Ich war mit dem kleinen Bruder zurückgeblieben, der Knabe konnte so schnell nicht vorwärts. – Im Leben hätte uns die Mutter nie so zurückgelassen, da hätte sie gewartet, ein wenig lächelnd und ein wenig grollend, und den Kleinen an der Hand geführt. Jetzt verlangte ihr schon nach der Rast in der Erde.

Vor dem Pfarrdorfe am Wege steht ein Kreuz mit dem Bilde des Heilands. Hier setzten sie den Sarg zu Boden und warteten auf den Arzt, der aus dem Dorfe kam zur Totenbeschau. Als wir zwei Zurückgebliebenen nachkamen,[353] da war der Sargdeckel bereits wieder festgehämmert. –

Im Dämmerlichte der Morgenröte zogen sie zur Pfarrkirche ein.

Die Glocken klangen hell zusammen. Mitten in der dunkeln Kirche war ein hoher Sarkophag ausgerichtet, es strahlten Lichter, und es begann ein feierlicher Trauergottesdienst. Der Pfarrer des Ortes, ein alter, blinder Mann mit schneeweißen Haaren, eine ehrwürdige Gestalt, umgeben von Priestern in reichem Ornat, hielt das Requiem. Seine Stimme war hell und feierlich, ein Sängerchor antwortete, und Trompeten und Posaunen tönten durch die Kirche.

Ich sah den Vater an, er mich, wir wußten nicht, wer das alles so angeordnet hatte. Heute weiß ich, daß es meine Freunde in Krieglach gewesen.

Als der Trauergottesdienst vorüber war, wurde der Sarkophag weggeräumt, wurden am Hochaltare alle Festkerzen angezündet und drei Priester, nicht mehr in Farben der Trauer, sondern in rosigem, golddurchwirktem Meßgewande traten an die Stufen des Altares, und es wurde ein Hochamt mit hellem Glockenschall und fröhlichem Musikklange ausgeführt. »Weil sie erlöst ist von dem Leide,« sagte ich zu dem Knaben.

Endlich schwankte der Sarg, nun reich geziert, von der Pfarrkirche, in welcher die Waldbäuerin voreinst getauft und getraut worden war, dem Friedhofe zu. Die Priester und der Sängerchor sangen das Requiem, die Glocken klangen über das Dorf weit hin in die Wälder, und die Lichter flackerten im Sonnenschein. Ein langer Zug von Menschen bewegte sich durch die breite Dorfgasse. Wir[354] gingen hinter dem Sarge, hielten brennende Kerzen in den Händen.

Draußen zwischen den Äckern und Wiesen auf einer sanften Anhöhe liegt der Friedhof. Er ist nicht klein, denn die Pfarre erstreckt sich weit hin über Berg und Tal. Er ist eingefriedet mit einem Bretterzaun, viele Kreuze von Holz und verrostetem Eisen stehen darin, und mitten ragt hoch das Bildnis des Gekreuzigten.

Vor diesem Bilde, zur rechten Hand, mar das tiefe Grab.

Hier ließen die Träger den Sarg zu Boden, entkleideten ihn aller Zier, und arm, wie er gekommen war aus der Waldhütte, rollte er hinab in die Grube.

»Heut' ist's an dir, morgen ist's an mir; so bin ich schon zufrieden,« murmelte mein Vater. Aber noch vierundzwanzig Jahre hat er warten müssen, bis sie ihn zu ihr hinabgelegt haben.

Die Leute warfen jetzt Erdschollen ins Grab und gingen davon. Gingen dem Wirtshause zu, genossen Wein und Brot und redeten von täglichen Dingen. – Als die zwölfte Stunde war und nach der Sitte die Kirchenglocken noch einmal anhuben zu läuten, der Bestatteten zum letzten Gruß, machten sich die Waldbewohner auf den Weg gegen ihr Hochtal.

Wir Zusammengehörigen saßen noch eine Weile beisammen und sprachen traurig von der Zeit, die nun kommen mußte und wie sie einzurichten sei. Dann nahmen wir Abschied, Vater und Geschwister gingen heim in die Waldhütte. Ich mußte wieder fort zu meinen Arbeiten in der Stadt.[355]

In der letzten Stunde vor der Abreise ging ich durch ein Nebengäßchen auf den Friedhof. Das Grab war noch offen, und still stand unten der weiße Sarg. – Die Sonne deines letzten Tages geht jetzt unter, und dereinst werden die Zeiten nimmer zu messen sein, vor denen du das irdische Licht hast gesehen.

Über den Bergen der Waldheimat lag ein fremder Schatten.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 350-356.
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