Jugendnebel.

[177] Bei uns daheim war vieles anders eingerichtet, als es sonst Weltbrauch ist. Zu unserer Absonderlichkeit gehörte auch, daß wir im Winter hoch auf dem Berge und zur Sommerszeit tief im Tale zu leben pflegten. Unser altständisches Wohnhaus mit seinen zahlreichen Nebengebäuden ragte im dünnen, frischen und reinen Luftkreise der Alpen. Auf unseren Matten stehend blickten wir über Wiesenpläne und Waldrücken hinaus nach den fernen Hochalpenzügen des Wechsel, des Stuhleck, der Rax, der Veitsch, des Schwaben. Keiner dieser kühnen Berge schien sein Haupt höher zu erheben als das Hochland war, auf dem unser behäbiger Hof lag. Das war freilich nur scheinbar so; später, als ich auf dem Wechsel, auf dem Hochschwab stand, sah ich wohl, wie tief die heimatliche Flur niedergesunken war ins dämmernde Waldland. Aber dieses Waldland barg noch größere Tiefen, Engtäler, Gräben und Schluchten, in welchen die kalten Bäche rauschten und in welchen die schattigen Wiesen lagen. Da unten war Sand und Moor und beständiger Tau, aber auch das Gras wuchs üppig auf Schlammgrund und vermoderten Baumstämmen. Wie oben an sonnigen Hängen die Felder leuchteten zur Reifezeit gleich Goldplatten, also war hier unten der Boden manchmal geschmückt mit dem Silberhauche des Reifes und mit den[178] immer wieder sich bildenden Diamanten des Taues. In der Höhe Kornbau, in der Tiefe Viehzucht.

In einem solchen Engtale auf bewaldetem Hügel, etwas erhöht über den Wiesen, die längs des Baches sich hinzogen, hatten wir ein kleines Haus mit Stall und Scheune. Das war eine Almwirtschaft, die im Winter leer und verlassen stand. Wenn aber der Sommer kam, da man anderswo die Herden aufwärts führt in die Hochmatten zwischen und über den Felsen, zogen wir zu unserer Alm niederwärts ins schattenblauende Engtal. Wir zogen alle herab: die Kühe, die Kälber, die Mägde, die Schweine, die Knechte, die Schafe, ich, meine Geschwister, die Mutter, der Vater und der Waldl. Die Zugochsen waren nach vollbrachter Anbauzeit in ferne Halden getrieben worden. Also ward der Hof auf der Höhe abgeschlossen, jedes Tor versperrt, nur die Hauskatze blieb oben als Hüterin und ward in ihrer Einsiedelei fetter als sonst das Jahr über, weil niemand sie hinderte an ihren Mäusejagden.

Ich weiß kein lustigeres Siedeln, als dieses war, wenn wir die Truhen und Betten und Milchkübeln und Pfannen und Töpfe und anderen Hausrat teils auf Karren, teils auf menschliche Rücken luden und zu Tale brachten. Vor uns, die also Beladenen, trotteten die Herden einher, die grunzenden Schweine, die blökenden Schafe und der vor Fröhlichkeit im Zickzack umlaufende bellende Waldl. So wie ich als Knabe diese Siedelung oft mitgemacht hatte, so auch als Student. Als ewiger Student, der ich heute noch bin, wenn ich die Waldheimatleute studiere, die so einfältig und so unerschöpflich sind. Jetzt gedenke ich der Jugendzeit. Ich half der Mutter siedeln von Berg zu Tal.[179]

Sie gab mir einen Melkzuber zu tragen. Diesen stülpte ich über das Haupt und darunter sang ich Vierzeilige, was einen dumpfklingenden Ton gab.

Rief mir einmal ein alter Knecht zu: »Bua! Wann du soviel von der Mirzel in den Sechter (Zuber) singst, so wird nachher die Milch sauer!« Da schwieg ich sein, wußte recht wohl, wie das gemeint war. Zwischen der Mirzel und mir war ein säuerliches Verhältnis gewesen, am Sonntage zuvor, und das hatte der alte Kracher richtig bemerkt.

Genug an dem, wir wanderten also, ein bunter, schreiender, lachender, klappender, schrillender Zug abwärts über die in Millionen weißer Schlüsselblumen und gelber Löwenzähne prangenden Matten und durch den dunkeln Wald, in welchem an jedem Stamm ein Eichhörnchen, unter jeder Baumwurzel ein Wiesel und auf jedem Wipfel zwitschernde Vogelgesellschaften ihr Wesen trieben.

Das Almhaus, welches unten im Tale stand, war so klein, daß es den anrückenden Troß einfach nicht zu fassen vermochte. Zur Not, daß das Vieh nächtlicherweile unter Dach gebracht werden konnte, die Leute mußten sich behelfen, wie sich's gab. Vater, Mutter, meine jüngeren Geschwister und ein weißes Kaninchen schliefen im Stübel. Die Hausmagd und das Abwaschdirndl schliefen auf dem Herde, darüber auf der Brennholzasen hockten die Hühner. Im Dachboden auf einem Bretterschragen lagen unser Knecht Markus und ich, uns zu Füßen ein schwarzes Ziegenböcklein, das mir tagsüber gerne nachlief, des Abends mir nach die Stiege hinauftrappelte und in schlaflosen Stunden der Nacht manchmal eins meckerte oder an meiner großen Zehe schnupperte. Im Stalle und in der[180] Heuscheune auf Barren, Schrägen, Schauben und Futterhaufen lag das übrige Gesindel umher. Am besten hatte es sich der alte Einleger Eusebel eingerichtet. Ein paar hundert Schritte vom Hause weg mitten im Walde stand ein alter Ahornbaum. In die dichten Armverzweigungen dieses Baumes hatte der Eusebel aus dem Gezweige ein Nest geflochten, hatte einen Strohschaub darüber gelegt, hatte etwaige Löcher noch mit Moos vermauert, und da kroch er nun an jedem Abende hinauf und heimte sich ein im Neste unter der Laubkrone. Ich selbst lag einmal drinnen, und zwar während eines Wettersturmes. Das rauschte und toste um mich her in dem Laube, aber kein Tropfen Wasser kam zu mir herein.

Der Eusebel war ein wenig kränklich und da riet ihm ein junger Doktor, der wegen einer Totenbeschau in die Gegend gekommen war, er solle hübsch bei offenem Fenster schlafen, worauf der Eusebel antwortete, das könne er wohl nicht, weil er in seinem Schlafgemach gar kein Fenster habe. Als hernach der Doktor vernahm, welcher Natur das Schlafgemach war, weissagte er, der Eusebel würde hundert Jahre alt werden.

Tagsüber brachten auch wir anderen im Freien die Zeit zu. Bei den Mahlzeiten setzten wir uns unter einen Kirschbaum, der auf der Wiese stand. Der Vater saß in der Witte, sein Schoß war der Tisch, auf welchem die sehr große Schüssel stand, nach deren Inhalt jedes von uns bescheidentlich und kühnlich zugleich den Beinlöffel ausschickte. Waren die Kirschen reif, so stieg ich nach der Mahlzeit auf den Baum und warf die roten Träublein herab in die Schüssel zum Nachtisch. Manchmal blieb eines an der Nase des Jungknechtes hängen,[181] manchmal fiel eines der Abwaschdirn in den geräumigen Mund, und manchmal aß ich oben die Kirschen selber und warf ihnen nur die Kerne herab.

Lieber als alles miteinander auf unserer Alm im Engtale war mir das Wasser. Das Wasser, welches in kleineren Bächen aus den Nebengräben hervorrieselte oder von steilen Hängen niederhüpfte, das Wasser, welches aus buschumwucherten Quellen sprudelte oder in tiefen Tümpeln stand. Am Tage sah man sein Glitzern, sein Quirlen, sein Wallen, seine Spiele all', bei der Nacht hörte man sein Rauschen immerwährend und immerwährend. Heute wohnen keine Menschen mehr in jenem Dale, aber das Rauschen ist heute wie einst in meiner Jugendzeit. Keinen Augenblick unterbrochen, außer es hat das Wintereis die Bäche eingewölbt; unaufhörlich, unerschöpflich geben die Berge ihren Quell, selbst in Zeiten der Dürre, wo in anderen Tälern die Brunnen versiegen, die Bäche austrocknen bis in ihr fahles Gestein, rinnen und rinnen dort im schattenkühlen Engtale die klaren, kalten Bäche.

In jenen meinen Jahren aber war ich mit dem Sehen und Hören allein nicht so zufrieden, wie ich es heute bin. Ich will nicht gerade sagen, daß ich alles Wasser unseres Tales gleich hätte austrinken mögen, aber daß mein Sinn nach Haben und Genüssen stand, das leugne ich nicht. Meine jüngeren Geschwister bauten aus Wasser kleine Mühlen, Hämmer- und allerlei Räderwerk; ich half ihnen manchmal dabei in Rat und Anschick, für mich selbst aber war ich über diesen Spaß hinaus. Ich ging ins Wasser auf Jagd. Forellen, Krebse, Frösche in großer Menge. Ich durfte nur einiger maßen vorsichtig mit den Händen unter einen Bachstein fahren, so hatte ich auch schon solch[182] ein Tierchen zwischen den Fingern. Die Krebse zwickten zwar in der Eile ein weniges an der Haut, es half ihnen aber nichts; die Frösche dehnten und breiteten ihre Schenkel so unschicksam, glotzten mit ihren Augen so häßlich, grinsten mit ihrem gottlos breiten Maul so verabscheuungswert als möglich, es half ihnen nichts, sie waren gefangen, wurden getötet und verzehrt. Am ehesten überwand mich noch die schöne harmlose Forelle, wenn sie in meiner Hand vor Atemnot und Todesangst mit dem Haupte zuckte und den Schweif ringelte. Da sagte ich wohl zu mancher: »Du liebes, herziges Tier mit deiner rotbesternten Haut, mit deinem weißen Bauch, mit deinen zarten Flossen, die wie Flüglein sind! Feiner Wasservogel du, der, soviel ich eben sehe, auch Eier legt, wie die Schwalbe und wie die Amsel...« Auf meine Lobpreisung gab der Fisch aber nicht viel, er wollte nichts, als um Gottes willen nur wieder im Wasser sein, und so habe ich ihn manchmal denn um Gottes willen wieder hineingeworfen, das heißt, wenn er nicht zu groß war. Ich hatte Forellen aus dem Bache gezogen, die so lang waren, wie meine Hand bis zum Ellbogen herein, und auch hübsch breitlich, schillernd im schönsten Silber, das mit Rubinen besetzt ist – so etwas warf ich dann nicht mehr ins Wasser, vielmehr ins Feuer, nachdem das Tier kunstgerecht geschlachtet, ausgeweidet und zubereitet worden war. Am Waldrande hatte ich aus dürrem Geäste das Feuer angemacht; in die richtige Glut legte ich dann die Forelle, die auf derselben sich nochmals zu ringeln begann, als ob sie wieder lebendig würde. Und war also der Leckerbissen auf das beste geraten, so hieß es nun jemanden aufzutreiben, der ihn verzehrte. Denn ich selbst war kein großer[183] Freund von Fischen, meine Lust war das Fangen, und verzehren tat ich sie nur, wenn sonst niemand dazu da war.

Die Herde, die ich zu weiden hatte, hielt sich an das fette Gras der Wiese; mein Ziegenböcklein schnupperte zwar zum Braten, der auf einem Germenblatte lag, aber weiter kümmerte es sich auch nicht um den bereiteten Imbiß. Jenseits des Baches auf der Wiese des Nachbars war wohl jemand, von dem ich ahnte, daß er so etwas möchte. Heidenbauers Hirtendirndl, die Mirzel war's, das vertrackte Dirndl, welches ich haßte. Dieses unheimliche Wesen, kaum um etliche Jahre jünger als ich, braunhaarig, schwarzäugig, rotwangig, hatte mir nur Böses getan, lauter Böses. Grüßte ich sie, so sah sie es nicht, sprach ich sie an, so legte sie einen Spott darauf, ging ich ernsthaft drein, so lachte sie mich aus, nannte ich sie das liebe Dirndl, so hieß sie mich den dummen Buben, sang ich ihr ein gesalzenes Vierzeiliges, so sang sie mir ein noch gepfefferteres zurück. Und bei der Nacht, wo man doch glauben müßte, daß sie sehr weit von mir gewesen wäre, neckte sie mich im Traum, stellte sich so unermeßlich schön und holdselig und war am Ende nicht da – so daß ich manchmal in Verzweiflung fiel.

Einmal war ein stiller, Langeweile spinnender Herbsttag. Nur das Wasser rauschte und rauschte. Im Engtale lag Nebel, daß man von den Bäumen am Waldrande nur die unteren Teile sah, ihre Wipfel verschwammen in der grauen Unendlichkeit. Von meiner Herde sah ich bloß die vordersten Tiere, die wie dunkle Flecken im Nebel standen oder langsam hin und her glitten. Nur mein schwarzes Ziegenböcklein war klar und deutlich da, weil es ganz nahe an meinen Füßen umherschallte. Ich[184] hatte wieder ein Feuer gemacht, das Ziegenböcklein mußte im Nebel die aufsteigende Flamme für eine Feuerlilie gehalten haben, die man essen kann, wenn man Ziegenböcklein ist. Aber diese Feuerlilie verstand unrecht und wollte das Böcklein essen; am Barte arg versengt, zuckte und sprang es zurück und blickte mich mit vorwurfsvollen Augen: was ich denn da für ein Ungetüm hege? Ob ich denn nicht einen Prügel nehmen und das Ding mit den roten Zungen totschlagen wolle?

»O Ziegenkind, Ziegenkind!« rief ich. »Dieses Ungeheuer ist mit Prügeln nicht umzubringen. Je mehr Prügeln man drauf wirst, je stärker wird es. Hingegen hat es uns wieder ein gutes Fischlein gebraten. Willst ein Schweifel davon?«

»Vergelt's Gott!« antwortete das Ziegenböcklein, denn wenn der Nebel sehr dicht ist, sprechen in jenem Engtale auch die Böcke. »Suche dir wen anderen zu diesem Braten, ich eß den Salat.« Und schnappte einige Wildlattichblätter auf. Dann meckerte es und sprach: »Schau einmal über den Bach hinüber. Just hat sich der Nebel ein wenig gehoben, er wird bald wieder sinken, schau geschwind! Dort steht eine. Au, jetzt lauft sie schon wieder. Jetzt duckt sie sich hinter den Weidenbusch. Jetzt lugt sie herüber. Du, dieselbige möcht' gewiß Fische haben. Kurasch, Bua, und hol'. sie dir!«

Einer so lebhaften Aufmunterung war natürlich nicht zu widerstehen. Ich legte die wohlgebratene Forelle auf ein großes Germenblatt, das wie ein zierlicher Teller gehöhlt war, tat diesen Teller auf einen Stein und ging an den Bach. Ich kam bis zu dem schmalen Stege, der durch ein einziges langes Brett über ein paar aus dem[185] Wasser ragende Steinblöcke gelegt war. Man mußte vom Ufer aus einen guten Sprung tun, bis auf das Brett, und den tat ich auch. Mit wenigen Schritten war ich drüben und mein Böcklein hinter mir her. Jetzt war ich auf der Heidenbauernwiese, aber ich sah das Dirndl nicht. Es waren die Weiden da, hinter denen sie früher versteckt gewesen, es waren die zwei braunen Kühe da, die sie zu weiden hatte, aber sie war verschwunden wie ein Ding, das gar keinen Leib hat. Sie tut wahrlich, die Mirzel, als hätte sie keinen. Wenn sie aber einen hat, dann – so mein racheschnaubender Gedanke – dann soll sie sich den heutigen Tag merken! Ich will ihr zeigen, ob man einen braven Burschen spotten darf, oder übersehen, oder auslachen, oder gar necken im Traum! Das Ziegenböcklein war wesentlich klüger als ich, es meinte, wenn sie hier am Bachesrand nicht sei, so werde sie eben anderswo sein. Es hüpfte munter umher, und auf einmal meckerte es mitten im Nebel drin. Ich ging hin und da war ein Erlenbusch, und aus dem Erlenbusch zwischen Blattwerk guckte ein rötlicher Fuß hervor und fünf Zehen dran, an welchen das Zicklein schnupperte, als wären es die meinen. Als ich diesen armen, von allem entblößten Fuß sah, verging mir der Haß. Ganz gründlich verging er mir. Sie hub an zu kichern.

»Willst du jetzt da drinnen bleiben, kleiner Molch?« fragte ich.

Da kroch sie flink hervor, riß vom Erlenstrauch ein Zweiglein ab, versetzte mir damit eins auf die Schulter und lief davon.

Nun gibt es aber Leute auf der Welt, die längere Beine haben, als ein barfüßiges Hirtenmädel. Das[186] Ziegenböcklein hatte seine helle Freude an unserem Wettlauf und tat munter mit und meckerte lustig, als ich sie am Rockkragen erhaschte und ausrief: »Mirzel, jetzt hat er eine!«

»Und hat auch eine!« rief sie lachend, da fühlte ich eine auf der Wange. Sie tat aber nicht weh, sie war nur so ein würziges Tätschchen gewesen. Ich tat nichts dergleichen, packte sie am Arm; und wir schritten nun Arm in Arm, wie ein Stadtherrnpaar, am Bachesrand entlang. Sie sprach vom Nebel, ich sprach vom Regen. Sie redete von ihren Kühen, ich redete von meinen Ochsen. Dann sagte sie, ich hätte einen sehr dummen Ziegenbock, der springe ja, als ob er närrisch ware.

»Er springt halt vor Freude,« antwortete ich. »Weil wir die Mirzel haben.«

»Was habt ihr denn auch an der Mirzel?« fragte sie schelmich.

»Wir haben an der Mirzel eine, die uns Fische essen hilft,« war meine Antwort. »Komm' nur gleich mit. Er ist schon fertig.«

Ein bißchen sträubte sie sich, aber nicht arg. Das Wasser wallte und rauschte; ich führte sie über den Steg hinüber auf meine Wiese. Und das Böcklein hinter uns her.

Sie schwieg, wußte wahrscheinlich nicht recht, was jetzt werden sollte. Das glosende Feuer am Waldrande warf im abendlich dunkelnden Nebel schon eine Art Heiligenschein um sich. Natürlich; seht kam ja der Fasttag – wir gingen Fisch essen. Der lag noch ruhig auf dem steinernen Tische in seinem grünen Teller. Ein wenig geringelt war er, als wollte er sich in seinen eigenen Schweif beißen.[187]

»Du wirst den Kopf haben wollen?« fragte ich das Dirndl nicht ohne Bosheit.

»Nein,« antwortete sie. »Da mach' ich's schon lieber dem Fische nach.« Sie wußte wohl, daß bei diesem Tiere der hintere Teil dem Kopfende vorzuziehen ist. Ich begann mit meinem Taschenfeitel sorgfältig die stahlgraue, teilweise angekrustete Haut abzuschälen, bis das milchweiße Fleisch bloßlag. Es löste sich leicht und glatt von dem Grätengerippe und das Dirndl ließ sich's schmecken. Ich erzählte ihr während des Schmauses, wie man Fische fängt, verschwieg aber, wie man Dirndln fängt, weil ich befürchtete, sie möchte davonlaufen.

Noch knusperte sie an einer Flosse, als sie sich selbst halblaut die Frage vorlegte: »Wie werd' ich jetzt übers Wasser kommen?«

»Heute kannst du nicht mehr hinüber,« antwortete ich. »Das Brett hat's vertragen.«

»Was wird mein Bauer sagen, wenn die Kühe allein kommen und ich nicht!«

»Das kann dir ganz gleichgültig sein, du hörst es ja nicht. Und morgen, wenn du heimkommst, wirst die Wahrheit erzählen, daß es den Steg vertragen hat, und daß du bei uns hast müssen über Nacht bleiben.«

Es war schon recht dunkel geworden, das Feuer vergloste am Waldrand. Ich trieb meine Herde heimwärts und das Dirndl folgte mir nachdenklich, ein wenig traumhaft. –

Als wir mit unserem Herdetrieb durch den Wald kamen und in die Nähe des großen Ahornbaumes, fiel es mir plötzlich ein.

»Du,« sagte ich etwas ungleich zu meiner ganz stumm[188] gewordenen Begleiterin, »wenn du schon dableiben willst, so weiß ich dir eine fürnehme Schlafstatt. Du wirst es schon immer einmal gehört haben, daß der alte Einleger Eusebel da oben im Ahornbaum sein Bett hat. Recht ein gutes Nestel, bin selber schon einmal drinnen gewesen. Gestern ist der Eusebel hinausgegangen zum Bader, weil er krank ist. Da wäre sein Bett jetzt frei, wenn du dich willst ausschlafen.«

»Mein Gott!« ächzte sie. »So mitten im Wald. Kein Aug' kunnt ich zumachen vor lauter Fürchten.«

»Wenn's nicht anders ist,« beriet ich hierauf, »so müßt' halt ich – ein bissel Wacht stehen beim Baum, bis die Geisterstund' vorüber wär'.«

»Das wird dir halt auch sauer werden.«

»Ich tu's gern.«

Hierauf kletterte ich die Holzsprosseln hinan, die der alte Eusebel in den Stamm geschlagen hatte, um mich zu überzeugen, ob das Lager auch in Ordnung wäre. In der länglichen Höhlung war aus Stroh ein Bett gemacht, darüber eine alte Pferdedecke, und unter dieser Decke lag der alte Eusebel. Das war mir nun ein bißchen unangenehm. Zuerst hörte ich seinen schweren Atemzug, dann fühlte ich seine kalte Hand. Er tastete nach mir, umklammerte krampfig mein Handgelenk und hauchte: »Franzl! Verführen! Verführen mußt du sie nicht!«

Ich war sehr erschrocken, und nach einem Weilchen fragte ich, wie es ihm gehe, was er mache?

»Ein bissel sterben,« antwortete er.

»Eusebel, ich werde Leut' holen.«

»Hilft nichts. Müssen selber sterben. Wird bald vorbei sein. Draußen – bei der Pfarrkirchen hab' ich[189] alles fertig. Ich weiß es wohl, du hast sie mitgebracht. – Willst ein Elend anheben. Mußt nit. Tät' nachher nimmer aufhören. – Ach! – Weh' tut's! – Weh' tut'h!:'

Ich wollte um Hilfe eilen. Er hielt mich aber fest am Arm: »Bleib' ein bissel da. Ein Vaterunser kannst mir vorbeten.«

Ich suchte hinabzugucken auf meine Genossin, aber es war schon zu finster, um zu sehen, ob sie noch am Baum stehe.

Dann war es still.

Als ich es wahrgenommen hatte, kletterte ich den Baum herab. Das Zicklein war da, sonst niemand.

Als am nächsten Tage mein Vater hinausging ins Kirchdorf, um beim Pfarrer anzuzeigen, daß der alte Einleger Eusebel gestorben sei, war der Pfarrer verwundert und sagte: »Das weiß ich ja schon. Gestern war ein Bote da, der hat's gesagt.«

Da stellte es sich heraus, daß der alte kranke Einleger, der sein Ende gefühlt haben mußte, auf einem Kohlenführerwagen selber gekommen war, um Läuten, Seelenmesse und Grab zu bestellen. –

Wenige Tage nach diesem kleinen Ereignisse sind wir wieder auf den Berg gezogen in unseren Hof. Ähnlich wie wir herabgesiedelt; so siedelten wir hinaus. Etwa auf der halben Höhe deo Berges kamen wir aus dem Nebel hinaus und in den Sonnenschein hinein. Es war, als ob wir aus einem weißen See aufgetaucht wären; hoch über uns tiefblauer Himmel, aber auf den Matten keine Blume, auf den Bäumen kein Vogel mehr. Die Blätter der Eschen und Birken lagen gelb und wie gekocht auf dem Rasen,[190] und wo die Schatten der Bäume waren, lag weißer Reis. Als wir an den Hof kamen, der mit seinen verschlossenen Türen und Toren behäbig dalag, des Winters gewärtig, hörten wir drinnen ein klägliches Wimmern und Schreien. Wir stellten unser lautes Wesen ein, denn wir erschraken alle miteinander. Der Mutigste von uns war der Jungknecht, der schloß mit dem hölzernen Schlüssel die Haustür auf und drang voraus. In den unteren Gelassen war nichts, aber der Oberboden war voll von jungen Katzen. Die lebensfrohe Hauskatze, die wir im Frühsommer auf dem Hofe zurückgelassen, hatte ihre Schuldigkeit doppelt getan. Sie hatte die Räume von Ratten und Mäusen gesäubert und sie hatte dieselben mit jungen Katzen bevölkert. Wir konnten nur der braven Hauskatze unsere Achtung zollen und ihre Jungen im Grabentümpel ersäufen.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 177-191.
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