Nacht.

[239] Wenn ich fragen wollte, welche Jahreszeit euch die liebste ist, die mit den längsten Tagen oder die mit den längsten Nächten? so würdet ihr als vernünftige Leute antworten: Keine von beiden; wir lieben stets den goldenen Mittelweg, also jene Jahreszeit, in welcher der Tag zur Nacht in gutem Gleichgewichte steht – den Frühling und den Herbst. Und insofern ich auch ein wenig vernünftig bin, würde ich ganz dasselbe antworten. Insofern ich aber unvernünftig bin, ein Poet oder so etwas, dürfte ich mich für das Außerordentliche entscheiden und sagen: Ich liebe die kürzeste Nacht, weil sie den längsten Tag hat, und ich liebe den kürzesten Tag, weil er die längste Nacht bringt.

Es ist ja recht anständig, wenn man wie im Frühjahre und im Herbste mit Sonnenaufgang zur Arbeit geht und mit Sonnenuntergang Feierabend macht. Aber herrlich ist die Zeit, in der die Sonne nicht auslischt. Karl der Große glaubte ein Reich zu beherrschen, in welchem die Sonne nicht untergeht. Ich kenne im Lande einen hohen Berg, der zur Hochsommerszeit fast dasselbe von sich sagen könnte. In der Stunde vor Mitternacht hat der westliche Eishang seiner Spitze Phosphorglanz. Er haucht noch Lichtäther des vergangenen Tages aus. Und bald nach Mitternacht hebt der östliche Firn an,[240] sich zu lichten. Nach ein Uhr kommt ein Rosenhauch über ihn, nach zwei Uhr gleicht er dem feurigen Eisen, das der Schmied aus der Esse hebt, nach drei Uhr, da die umliegenden Berge schon in milchigem Lichte stehen und die Täler in blauem Schatten sich zeigen oder die weißen Seen ihrer Nebelschichten enthüllt haben, leuchtet die Bergspitze schon wie Metall, aus dem man Sonnen schmiedet – plötzlich lodert sie in blendendem Feuer und Licht, Licht flutet nieder von allen Hängen. Im Osten steht sie, die uns alles Gesicht spendet und nimmt. Nichts ist natürlicher, als der Sonnenkultus gewisser Völker, und nichts ist unnatürlicher, als daß dieser Sonnenkultus nicht bei allen Völkern der Erde zu allen Zeiten geherrscht.

Die Menschen ruhen zu dieser Stunde noch in ihren Wohnungen. Der eine oder der andere schlägt vielleicht einmal seine Augen auf. Taghell ist es in der Stube, aber er kehrt sich auf die andere Seite. 's ist lichte Nacht und noch nicht Aufstehenszeit! Endlich ist auch das Nachschläfchen vorüber, die Sonne ist zum Fenster hereingestiegen, kitzelt ihn in den Lidern, wie Samenkörner keimen die Augensterne auf, der Mund tut noch faul und gähnt, hei! da scheint ihm die Sonne bis in den Hals hinab. Im Winter prangt die Sonne um Mittag kaum höher am Himmel, als sie jetzt steht, da das Menschenkind sachte aus seinem Neste kraucht und seinen Morgen anhebt. Die Schatten der Bäume sind kurz geworden, doch funkelt in ihnen noch Tau. Die älteren Blumen falten ihre Blätter fast schamlos auseinander, aber auch die jüngeren lockern ihre Knospen und tun dürstend ihr Inneres auf – sie können ja nicht anders, der Sonnenstern küßt sie mit heißer Gier. Und[241] tragisch ist das Geschick der Liebe! Bald senken sich welk die bunten Häupter, die Blätter sinken lautlos zur Erde, der Sonnenstern aber steht im Zenith und besorgt mit erbarmungsloser Glut das Reisen der Wiesen. Den Vögeln ist das Singen vergangen, es sind Stunden der Ruhe, unerquicklich, unwirtlich wie Wüstenschauer, es ist eine glühende Nacht mitten am Tage. Erst nach vier Uhr, zu jener Zeit, da im Winter die Dämmerung eintritt, hebt eine ersprießlichere Epoche des Tages an, der ja endlos, endlos ist. Denn selbst wenn die Sonne versinkt hinter dem mit zartesten Wölklein verbrämten Gesichtskreise, ist's immer noch hell und wonnig, und dem Menschenkinde werden eher die Augen müde, als des Tages letzte Lichter vergangen sind. Selbst in den Niederungen kann man zu dieser Hochsommerszeit sprechen von einem zwanzigstündigen Lichttage, auf hohem Berge waltet ein vierundzwanzigstündiger, der nur einmal auf ein kurzes Weilchen die Augen schließt. Eintagsfliegen! Wer verachtet sie denn? Sie leben ja eine kleine Ewigkeit, sie erleben mit offenen Sinnen an einem einzigen Sonnentage mehr, als ein mattherziger Mensch in achtzig Jahren. Und wenn am Abende die Fliege altersschwach unter dem Urwaldstämme eines Grashalmes ruht und zurückdenkt an die seligen Zeiten der Jugend, da die Seen der Tautropfen zitterten auf den grünen Auen des Ahornblattes, wird sie vielleicht elegisch und hebt an zu säuseln: »Lang', lang' ist es her!«

Dichter pflegen das menschliche Leben mit einem Tage zu vergleichen. Kindheit – Morgen, Manneszeit – Mittag, Greisenalter – Abend; sie machen also auch den Menschen zu einer Eintagsfliege. Wie kommt es[242] aber, daß im Gehirn einer solchen Eintagsfliege ein Maßstab vorhanden ist, der unendlich größere Zeiten und Räume zu messen vermag, als sie der Mensch braucht? Hier geht die Verwandtschaft dieser Eintagsfliege mit dem Ewigen an; der Mensch weiß, daß die heute mit ihm niedergesunkene Sonne morgen wieder ausgeht; er weiß, daß ein zu Grab gesunkener Leib zu neuem Leben wieder aufersteht...

O, langer Sommertag, dich habe ich lieb! Und wie, wenn jetzt das Bekenntnis käme, daß ich die lange Winternacht noch lieber hätte?

Der nebelige Dezembertag ist wie ein Blinder, dem noch dazu die Augen verbunden sind. Wie kann man daran eine Freude haben? Doch nicht an dem armseligen Taglein freue ich mich, sondern an der gewaltigen Nacht. – Ja, mir gefällt die wochenlange Nacht, »Dezember« genannt, überaus. Sie bringt Frieden und Behaglichkeit, während der wochenlange Tag »Juni« uns einmal hierhin lockt, dorthin hetzt und die Sinne begehrlich macht zum weiten Ausschauen und Ausgreifen. Die Winterszeit schränkt ein, aber vertieft. Und, wie munter sich's sein läßt in der langen Winternacht! – Wenn mein Mittagsmahl, das ich tatsächlich um die Mittagszeit einzunehmen pflege, noch mit einem kleinen Nachtisch gesegnet ist, so wird's gut sein, die Lampe anzuzünden, damit man an der aufgeknackten Nuß auf dem Tische Kern und Schale unterscheiden kann; und dann bleibt die Lampe brennen. Man geht an die zweite Hälfte des Tagwerkes, die Straßenlaterne weist mir den Weg nach Hause; es wird der Kaffee eingenommen, zum Fenster starrt schwärzeste Nacht herein zu einer Stunde,[243] da man im Sommer vor der Hitze sich noch flüchtet in die schattigsten Zimmer. Im Ofen knistert frisch angemachtes Feuer, die Lampe wird erneuert, und das ist jetzt unsere Sonne. Wir ergeben uns – würde es von diesen Stunden in dem Aufsatze einer »höheren« Tochter heißen – der Musik, der Dichtkunst, heiteren Familienspielen oder pflegen ernster Arbeit. – Endlich nach langer Weile kommt das Nachtmahl. Nach demselben auf ein Plauderstündchen mit guten Freunden ins Weinhaus. Aus einem Stündchen werden natürlich zwei; denn auf einem Fuße kann man nicht nach Hause gehen, behauptet der Kumpan. Zwei Füße braucht selbst der Nüchterne dazu, sagt der andere Kumpan, und schlägt noch eine dritte Stunde vor als dritten Fuß. Auf drei Füßen geht nur ein gebissener Pudel! darauf der weitere Kumpan, und sie sitzen vier Stunden lang. Wie es dann mit dem Nachhausegehen aussieht in der finsteren Nacht – so weit ziehe ich den Vergleich nicht. Man hat noch Zeit genug, sich auszuschlafen, Zeit genug, Träume zu haben, die scheinbar ganze Tage lang dauern, und wenn man endlich erwacht, ist es immer noch kohlrabenfinster auf der Welt. Wieder die Lampe, wieder der Ofen. Man kleidet sich an, man frühstückt, man liest die Zeitung, in welcher der Attentatsversuch schon gedruckt steht, der am Abende zuvor lange nach Sonnenuntergang in Petersburg geschehen ist. – Nach all dem und noch anderem wird es im Fensterglase ein wenig blaß, aus der schwarzen Finsternis wird eine graue, voll frostigen Nebels. Neun Uhr vormittag ist es, die Zeit, da im Sommer auf dem Felde die Ochsen ausgespannt werden müssen, weil die Stechfliegen ihr Unwesen treiben in der Tageshitze.[244]

Und diese trostlose Winternacht soll der Mensch liebhaben? Ja. Aber warum verkriechen wir uns vor der Nacht in die Häuser mit ihrer drückenden Luft, an die Lampe mit ihrem engen Gesichtskreis? Ich habe die Winternacht anders kennen gelernt. – Einst in einer Adventnacht fuhr ich auf einem Schlitten von Rettenegg am Wechsel bis Mariazell, um dort dem Leichenbegängnisse eines Freundes beizuwohnen. Es ist eine Wegstrecke, die man zu Fuß in zwei Tagreisen zurückzulegen pflegt. Wir fuhren im Finstern ab, und als wir nach Mariazell kamen, war es noch so dunkel, daß vom Leichenhause der rote Lichterglanz zum Fenster herausschien. Als wir von Rettenegg fortgefahren waren, guckte hinter einer Niederung des Wechsels just ein Sternlein heraus. Dasselbe wurde heller, hob sich immer höher. Als wir im Tale von Neuberg dahinglitten, und bei dem Postwirtshause eine Stunde lang die Pferde rasten ließen, stand es gerade über unserem Haupte, und als wir die Anhöhe hinausfuhren gegen den Markt Mariazell, sank mein Sternlein hinter dem Ötscher hinab. Es hatte also gleich uns eine Reise gemacht vom Wechsel bis zum Ötscher, wenn nicht vielleicht hier der Naturforscher mir andeutet, daß die Reise des Sternleins, falls es nicht etwa ganz stille stand, in jener Nacht eine wesentlich größere gewesen.

Im Morgengrauen betrat ich mit halbsteifen Beinen das Haus zu Mariazell. Die Kerzen, welche das Totenbett umstanden, waren tief herabgebrannt, und das abgeronnene Wachs hing in starren Striemen und Knoten an den Leuchtern. Mein Freund lag schmal und schlank im Sarge. In der ersten Blüte der Jahre, und ein[245] solches Bett! Noch auf der Bahre war er ein hübscher Bursche. Sein nußbraunes Haar war glatt gekämmt um die seine, weiße Stirn, und der Schnurrbart an der vollen Oberlippe zierlich ausgestrichen, als ginge er zu einer Kirchweih. Zwischen den Fingern der übereinander gelegten Hände, wie er sonst gern die Zigarette gehalten, stak jetzt ein kleines, schwarzes Kruzifix. So hatte ich ihn noch gesehen, den guten Jungen, dann nagelten sie den Deckel zu. Als er eine Stunde später in das Grab rollte, war das Sonnenleuchten auf den schneebedeckten Fluren so mächtig, daß mir das Augenlicht verging in der kalten, lodernden Glut.

Eine lange, teils laut lustige, teils still verschwiegene Nacht war's gewesen, die den zweiundzwanzigjährigen Knaben vollendet hatte. Seine bergmännischen Studien hinter sich, war er vor wenigen Wochen auf einige Tage zu seinen Eltern gekommen, Hüttenbeamte zu Gußwerk bei Mariazell. Beim Wirte in der Grünau war Faschingball, dem alle jungen Leute der Gegend zustrebten. Es war schon dunkler Abend, als der Vater zum Sohne sagte: »Ich habe nichts dagegen, August, wenn du auf den Ball gehen willst. Unterhalte dich. Es kommt ohnehin jetzt für dich eine ernste Zeit, des eigenen Broterwerbes. Über morgen wirst du ja abreisen nach deinem neuen Bestimmungsorte, Idria in Krain. Also bringe diese letzte Zeit daheim heiter zu.« Auf dem nächtigen Wege nach Grünau sang und scherzte August mit anderen Burschen. Auf dem schallenden Tanzboden angekommen, versuchte er es mit mehreren Dirndeln; die einen foppten ihn, die anderen foppte er; ein paar Reigen mit jeder, aber Bestand hatte es mit keiner. Er verlegte sich wieder[246] aufs Singen. In bloßen Hemdärmeln, wie es Bauernweif' ist, stellte er sich in eine Gruppe von Jodelnden und tat mit, und trank Wein dabei und rauchte Zigarrer und trocknete sich mit rotem Sacktuche den Schweiß von der Stirn und ging mit Genossen in die frische Luft und sang, was von der Kehle ging. Gegen Mitternacht hielt er sich unter dem Menschengewirre im dämmerigen Vorboden auf und schäkerte mit einem frischen, drallen Mädel. Später saßen die beiden an einem Tische sehr nahe beisammen, aßen Braten und tranken Wein und der Bursche spielte neckend mit ihrer Hand, die auf dem Schoße lag. Das Mädel war von dem Bruder zum Balle geführt worden, aber der Bruder ergötzte sich mit Leuten, welche ihm verwandtschaftlich weniger nahe, in manch anderem aber näher standen als die Schwester. So war diese großenteils auf sich selbst gestellt, und das ist keine Stellung für ein lebenslustiges Dirndel. Sie ließ sich bei August den Wein schmecken, dann nahm sie seine Werbung zu einem Tanze an und bald darauf flog das Paar durch den Saal, wie ein mit Kraft entfesselter Kreisel, und die Geigen siedelten dazu und die Pfeifen jauchzten. Eine Stunde später stand der Bursche mitten im Raum und ballte trotzig die Faust. Das Mädel kauerte in einem Winkel und schluchzte. Der erste Verdruß. Eifersucht. Als sie nachher mit einem anderen Tänzer reigte, nahm auch August eine andere und raste mit auffallender Lustigkeit durch den mit Weindunst erfüllten Saal. Lange schon hatte die Gesellschaft sich zu lichten begonnen und von den noch Anwesenden waren die meisten betrunken oder standen gelangweilt umher. August und das Dirndel, mit dem[247] er in Feindschaft lebte, waren nicht mehr zu sehen. Die Nacht war stille geworden. – Als wieder nach Stunden zu einem Hinterpförtchen des Gebäudes ein junges Menschenpaar hinausschlich und flüchtig sich verabschiedete, klotzten auf dem Wege die schwerfälligen Schritte von Holzbauern dahin, die in den Wald gingen zum Tagwerk, vom Zellerturme herab tönte die Glocke zum Frühgebete, aber Nacht war es immer noch, und immer noch Nacht.

August war in scharfem Morgenfroste müde nach Hause gegangen, um sich auszuschlafen. Aber aus dem Schlafe weckte ihn – zuerst eine Weile sich mit Traumvorstellungen verflechtend – ein stechender Schmerz in der Brust. Er konnte nicht mehr Atem holen. Schüttelfrost riß ihn hin und her, Stirn und Hände waren glühend. Als der Doktor erschienen war und ihn untersucht hatte, sagte er nicht, es werde sich bald wieder geben, er sagte gar nichts und am neunten Tage fertigte er den Totenschein aus. – Zuversicht für die Zukunft, Freude, Gesang, Schäkerei und Scherzen, Bekanntschaft machen, sich nahen und vertrauen, sich umfangen und kosen im Reigen, sich entzweien, sich meiden und suchen, sich wieder finden, versöhnen, müde gehetzt durch Luft und Zorn sich endlich in wild entfachter Glut zu Tode herzen... das alles in einer Nacht! – Also kann der Mensch ein ganzes Leben auskosten, während die Sonne ein einzigesmal abwesend ist und hinzieht über die Häupter der Gegenfüßler.

Liebe hat sich die Nacht erkoren; nicht allein die irdische, sondern auch die himmlische. Zum innigsten, gemütvollsten Feste, das wir feiern, brauchen wir die[248] Sonne nicht, wir begehen es in der Nacht, in der längsten Winternacht.

Nach Monden, wenn Tag und Nacht in gleicher Wage stehen und das Zünglein senkrecht gen Himmel weist, wendet sich Samenkeim und Menschenherz nach auswärts. Ungeheuere Mächte der Natur werden sichtbar in lieblichster Gestalt, und alles, was wir sehen, hören und fühlen, bedeutet Auferstehung, neues Leben.

Und wieder nach wenigen Monden ist der Höhepunkt des Lichtes, der Herrlichkeit erreicht. Der lange Pfingsttag ist über alle Maßen schön, und wenn es auf Erden etwas noch Schöneres gibt, so ist es die Pfingstnacht. Die stille, laue, blütenduft durchhauchte Nacht.

In einer solchen Nacht war es auch gewesen – ein halbes Jahr nach meiner Schlittenfahrt nach Mariazell – daß dort im Tale der Grünau vor einem Bilde ein junges Weib lag und weinte. Sie klagte es der heiligen Jungfrau; drüben auf dem Kirchhofe modert ein junger Mensch und sie ist von dem Geschicke dazu auserkoren worden, diesen Menschen zu erneuern... Er soll wieder auf Erden sein zum Schäkern und Kosen. Und darüber wird so viel Glück und Tugend und Ehre zunichte. – Dort unten im Tale steht ein weißer Punkt, es ist die Mühle. Der junge Müller schläft jetzt, weiß nichts davon, daß morgen früh seine Braut kommen will und ihm gestehen: Mein lieber Anton! Aus unserer Hochzeit kann nichts werden!

Es ist Sonntag. Das junge Weib steht in der Kirche hinter einem Pfeiler. Links ist der Beichtstuhl und rechts am Seitenaltare steht der junge Müller, ihr Bräutigam. Sein Haar legt sich in zwei Büschlein[249] über die Stirn herab, sein Auge ruht im Gebetbuche. Er ist schön und gut und fromm. Im Winter zu Mariä Lichtmeß hat er sich ihr in Ehren vertraut. Damals hatte sie es freilich noch leicht, die Stunde der Nacht zu verschweigen. – So steht sie jetzt zwischen Beichtstuhl und Bräutigam. Gerade vor ihr prangt das Gnadenbild. Dieses fragt sie: Soll ich links hingehen und beichten? – Keine Antwort. Also fragt sie das zweitemal: Soll ich's dem Priester gestehen oder dem Bräutigam? Am Altare beginnen die Lichter zu tanzen. – –

Als sie wieder zu sich kommt, sieht sie über sich den freien Himmel und ihr Haupt ruht im Schoße des Bräutigams, der ihr mit feuchtem Tuche die Stirne kühlt.

»Was ist denn das mit dir?« so fragt er sie. »Du bist in der Kirche umgefallen wie ein Block.«

»O mein lieber Franz, freilich bin ich gefallen.«

Er läßt sein Auge ruhen auf ihrer Gestalt, aber es ruht nicht, es ist unstet. »Johanna,« sagt er hernach, mit einer Stimme, die wankt und zittert, »Johanna, ich weiß nicht – du kommst mir nicht recht vor...«

»– Wird dich nicht betrügen,« sagt sie, preßt ihr Antlitz krampfig in seinen Oberschenkel und beginnt so heftig zu schluchzen, daß ihr ganzer Leib erbebt.

Der junge Müller sagt nichts mehr. Eine Weile läßt er sie noch kauern an seinen Beinen, endlich schiebt er sie sachte von sich. Sie bleibt liegen auf dem Rasen und es kommt die Nacht.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 239-250.
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