Vom Hauswächter Waldl.

[139] Die Menschheit ist entzückt über die Treue des Hundes. Sie stellt diese Treue sich selbst zum Vorbilde hin und bestraft sie am Hunde mit lebenslänglichen Ketten.

Diese Grabrede wird, wenn sie hinter dem Schachen Kettenhunde verscharren, nicht gehalten. Schade drum. Sonst täte die Hausmutter zwei Tränen der Rührung vergießen, ehe sie sich nach einem neuen Kettenhund umsieht.

Vielleicht müßte ich für manchen Leser weit ausholen, wenn er verstehen soll, was das ist – ein Kettenhund. Denn ich weiß nicht, wie weit über die Alpen hinaus sich die Sitte erstreckt, den Hund, der Hüter des Hauses sein soll, an die Kette zu legen. Ließe man ihn frei um den Hof laufen, so risse er dem nahenden Fremden die Kleider oder gar die Haut vom Leibe, oder er spränge ihn schmeichelnd an, beleckte ihn wie einen willkommenen Freund, gleichwohl er leicht ein Feind des Hauses sein könnte. Je nach dem Charakter des Tieres. Da macht man's denn gerne so, daß in die Nähe des Haustores ein Kobel gestellt wird, und daneben der Hund. Am ledernen Halsband hängt eine Kette, deren anderes Ende in einer[140] Eisenklammer an der Wand befestigt ist. Die Kette ist so lang, daß das Tier einen Spielraum von etwa zwanzig Geviertklaftern hat und beinahe das Haustor erreichen kann. Ganz darf es an den Eintretenden nicht herankommen können, dagegen ist eine Verordnung. Der Hund hat auch nicht die Aufgabe, Fremden den Eintritt zu verwehren, vielmehr durch das Anschlagen (Bellen) die Hausbewohner auf den nahenden Ankömmling aufmerksam zu machen, was besonders zur Abend- und Nachtzeit wichtig ist. Ich weiß zwar nicht, weshalb Haushunde bellen, wenn Fremde kommen; aus Feindseligkeit geschieht's nicht immer. Ich sah Hunde, die bei Herantreten oder Vorübergehen von Fremden sich so wütend und rasend benahmen, daß ihnen beim Zerren und Reißen an der Kette der Atem verschnürt wurde, daß sie gar nicht mehr bellen, nur noch röcheln konnten. »Wehe, wenn sie losgelassen!« fiel einem da ein. Aber wenn dann bei so einem rasenden Tier die Kette einmal entzweireißt, springt es dem Fremden vielleicht an die Brust und beleckt ihn. Weshalb einmal ein nachdenkliches Kreuzköpfel die Weisheit aussprach: Das Anschlagen des Kettenhundes ist nur eine Klage über seine Gefangenschaft. Bei den Hausbewohnern nützt es nichts, das weiß er, da ist er still. Bei jedem vorübergehenden Fremden aber versucht er, durch lautes Klagen ein fühlend Herz zu erweichen, um von der Kette befreit zu werden. Das ist sehr rührend gedacht, nur schade, daß gerade diesem Kreuzköpfel nachher einmal ein losgekommener Kettenhund ein Stück Fleisch aus der Wade gerissen hat.

Jedenfalls erfüllt der Kettenhund seine Pflicht als Haushüter, wenn er beim Nahen fremder Leute tüchtig[141] lautet; er bekommt dann auch dreimal täglich von der Hausmutter seinen Trank in den Trog, zusammengeschüttete Überreste, manchmal sogar ein Stück verdorbenes Fleisch, jedenfalls oft ein paar Knochen. Die Buben schäkern mit ihm, wobei er gar lustig schnappen kann, aber so, daß es nicht wehtut. Er kann das recht gut. Die Dirndln lassen freilich ihr gewohntes Kreischen los, wenn der Vierfüßer flink an ihren Busen springt und mit der warmen weichen Zunge ihren roten Mund beleckt. Wenn sie bei ähnlichen Erlebnissen allemal kreischten, dann wäre der Kettenhund in der Nacht bisweilen überflüssig. – Ich will nichts gesagt haben. Ich will nur die Geschichte erzählen von einem schlimmen Kettenhund, von einem braven Dirndl, von einem unternehmenden Liebhaber und von einem blitzdummen Jungen.

Daheim im Waldbauernhause hatten wir einen Kettenhund, ein großes schönes Tier. Seine fuchsbraune glatte Haut glänzte wie Seide, seinen Kopf mit den guten treuen Schwarzaugen und den breiten Ohrlappen trug er hoch und wohlgemut, ebenso auch den kühn geschwungenen Schweif, den er nur einzog, wenn ihn heimlicher Groll beschlich. Die Kette machte ihm nicht viel. Sie war ziemlich lang, so daß er einerseits fast bis zur Haustür, andererseits bis zum Brunnentrog gelangen konnte, und auch auf die Wandbank hüpfen, und wieder herab, wenn er Bewegung machen wollte. Kam jemand Ungewohnter, so lautete er zwar, regte sich aber weiter nicht auf. Er riß nicht an der Kette, dafür tat ihm seine Gurgel leid. Hingegen aber, wenn er losgelassen wurde, dann schoß er wie eine Bestie auf fremde Leute los, so daß mein Vater einmal einem klaghaften Nachbar ein Stückchen[142] Hinterteilhaut mit fünf Gulden zu vergüten hatte. Das war der »Waldl«. Er war so gefürchtet von der Umgebung, daß manche Kirchengeher nicht den kürzeren Weg durch unseren Hof nahmen, sondern hinter dem Krautgartenzaun vorbeihuschten. Wir waren ordentlich stolz auf den wachsamen und strengen Hund, das einzige Wesen, was uns gefürchtet machte. Obschon nun zwar der Waldbauer lieber geliebt als gefürchtet war, tat so ein wenig Mußrespekt dem Vorteil des Hofes keinen Eintrag. Im Gegenteil, die Bettler wurden von dem aller Vagabundiererei abgeneigten Waldl derart verscheucht, daß es der Hausmutter bedenklich schien und sie manchem Armen das Almosen in ihre Hütten zutrug.

In jenen Jahren war es, daß bisweilen ein Fremdling in unser Haus kam, der allmählich kein Fremdling mehr war, weil er uns traut wurde. Eine schlanke Gestalt in grauem, langem Mantel, mit brauner Pelzmütze, mit schwarzem Bart und rotem Gesicht. Sein Auge hielt er immer weit offen; war es dunkel oder hell, er schaute gerade vor sich hin, den Kopf ein wenig nach rückwärts gelegt. Er schaute mit offenem Auge in die Sonne hinein, er blinzelte kaum. Mit den schmalen Händen machte er gerne vor sich in der Luft Bewegungen und Gesten, langsam, fast feierlich, wie ein Priester, wenn er das Volk segnet. Am Rücken trug er ein viereckiges Holzkästlein, dessen Anblick mancher tanzlustigen Magd in die Nerven fuhr. Aber es war kein Musikkasten, es war ein Werkzeugtrühlein, in welchem der Mann Hämmerchen, Zänglein, Feilen, kleine Stech- und Stemmeisen und andere Messerchen hatte. Dieser Mensch führte immer ein Mädchen mit sich, das er stets an der Hand hielt. Als ich es[143] das erstemal sah, war es ein kümmerlich kleberes Geschöpflein gewesen, mager und blaß und mit seinen schreckigen Rehaugen unstet dreinschauend. Aber von Jahr zu Jahr wurde sie größer, schöner und freundlicher. Ihr Gewändlein war schütter und gar verwaschen, aber stets reinlich gehalten. Einmal, als diese beiden langsam über die Weide gingen, ich war auf Ferien zu Hause, und als das Mädchen ernsthaft, fast traurig auf mich herschaute, war mir zumute, als müßte ich ihm was schenken. Einige Schlüsselblumen pflückte ich ab und legte sie in ihre Hand. Sie nahm das Sträußchen an, nickte ein wenig mit dem Kopf, aber wie mir schien, nicht auf und ab, sondern hin und her. Dann ging sie mit ihrem Vater fürbaß und später fand ich das Schlüsselblumensträußlein auf der Weide liegen. Man sah nie, daß sie mit dem Schmucke der Armen, mit einer Blume geziert war. Das Veilchen schmückt sich ja auch nicht, weil es selber eine Blume ist.

Diese beiden Menschen waren der »Häfenbinder Faltl« und sein mutterloses Töchterlein. Betteln taten sie nicht. Er verstand es, in den Häusern, wo sie zusprachen, über Tontöpfe und Krüge ein eisernes Drahtnetz zu flechten, damit solches Geschirr dauerhafter sei. Dafür gab man ihnen zu essen und manchmal ein paar Kreuzer Lohn. Auch Wanduhren, die schadhaft geworden, nahm der Faltl in Arbeit, wobei ihm das Mädchen Handlangerdienste leistete. Solche Arbeiten schienen ihm so geläufig, daß er gar nicht darauf hinzuschauen brauchte, sondern sein Antlitz immer geradeaus, wenn nicht gar ein wenig himmelwärts hielt.

Wenn diese zwei Leutchen gegangen kamen, schlug unser Kettenhund zwei- oder dreimal an, dann reixelte er[144] ein wenig mit der Kette und schaute treuherzig auf sie hin, wie sie ins Haus gingen. Wo die Leute wohnten, oder ob sie überhaupt irgendwo wohnten, daran dachte ich nicht. Mir wurde die Sache erst bedenklich, als eines Tages der Ortsrichter an unser Haus herankam und das Mädchen des »Häfenbinders« mit sich führte. Und eine schreckliche Mähr erzählte. Der blinde Faltl habe mit seiner Tochter auf einem Heustadl übernachtet. Da sei in der nachbarlichen Köhlerei ein Brand ausgebrochen, er eilte, um löschen zu helfen, kam dem Feuer zu nahe, erhielt schwere Brandwunden, an denen er nach einigen Stunden starb. – Der »blinde Faltl!« Ja, war der Mann denn blind gewesen? – Der Ortsrichter fragte bei meinen Eltern an, ob sie nicht das verwaiste Dirndl ins Haus nehmen wollten? Sie sei fleißig, anschicksam zur Arbeit und könne wohl in Haus und Stall Dienst leisten. Mein Vater hatte immer zu wenig Dienstboten für die große Wirtschaft und seit meinem Abgange sprach er oft davon, wie hart er darauf warte, bis die anderen Kinder zur Arbeit herangewachsen sein würden. Mein Vater nahm die Faltldirn auf. Sie war schon erwachsen und hatte einen schlanken weißen Hals, den selten jemand zu sehen bekam, weil er immer bis dicht unters Kinn mit einem braunen Tuche bedeckt war. In ihrem Aug' lag eine stille Nacht. Ich hatte mich einst in den Nächten gefürchtet, und wenn ich nun manchmal verstohlen dieses große Nachtauge betrachtete, da fürchtete ich mich auch. Und doch schaute sie mich immer friedsam an, friedsam und freundlich, wie ihr Benehmen war gegen alle. Lachen tat sie selten, höchstens lächeln, wenn sie scherzenden Lämmern zuschaute. Selbst wenn sie von der Hausmutter[145] ihrer Emsigkeit wegen gelobt wurde, sah sie ernsthaft drein. Aber nicht traurig, es war eine frohe, fast behagliche Ernsthaftigkeit. Von ihrem Vater sprach sie nie ein Wort. Heiter wurde die Traude nur bei der Arbeit im Stall oder auf der Wiese beim Grasrechen. Da hörte man sie sogar singen, da warf sie ihr Wollentuch fort, so daß über ihrer Brust nichts war, als das Hemde. Keine von den anderen Mägden hatte so seine, so blühendweiße Hemden und da geschah es einmal, daß der schalkhafte Jungknecht beim Heuen, als er ganz in die Nähe des Dirndels zu stehen kam, wissen wollte, wie lind sich denn wohl ihre Leinwand anfühle. Sie wendete sich rasch und unwillig ab und war den ganzen Tag in sich gekehrt. Zu jener Stunde nahm ich mir vor, darauf zu achten, daß die Traude nicht ungebührlich behandelt werde. Mir waren sie zuwider geworden, diese Zweideutigkeiten und Anspielungen, in denen sich unsere Knechte und die Nachbarsbuben gefielen, sowohl wenn sie unter sich waren, als auch, wenn sie ledigen Weibsb0ldern in die Nähe kamen. Die älteren Mägde taten kecklich mit in schnippischer, scheinbar abweisender Art, die eher ermutigte als verneinte. Jüngere Mägde wurden bei derlei Reden rot, horchten wohl doch so ein wenig hin und stellten sich harmlos. Aber die schlanke Traude wurde noch nicht einmal rot, sie wich den dreisten Mannsleuten nur aus, wie einer lästigen Sache und kehrte sich weiter nicht drum. Der Vater hielt strenge Zucht; doch wenn er nicht zugegen war, manchmal bei Tische, da huben die Knechte gerne an, ganz gelassen und unbefangen in einer Bildersprache zu reden, die mit Ausnahme der einen alle verstanden und viele bekicherten. Aus Angst um die Traude, die still[146] und bescheiden dasaß, habe ich in solchen Augenblicken mehrmals ein lautes, ganz unsinniges Gespräch angestiftet, um die verfängliche Unterhaltung abzulenken. Einmal, als im Walde junges Dickicht zu säubern war, ordnete der Großknecht an, daß ihrer drei Knechte hinausgehen sollten und auch die Traude mitnehmen, damit ihnen jemand das dürre Reisig wegräume. Da stellte ich mich hin: »Reisig wegräumen will ich.«

»Du hast heut' in der Mühl' zu tun, es muß der Haber fertig gemahlen werden,« entschied der Großknecht, dem ich in Arbeitsangelegenheiten auch als Studiosus untergeordnet war. Gut, ich habe in der Mühle zu tun. Also zu meinem Vater. Da ich bei ihm die Knechte nicht geradezu verdächtigen wollte, so bat ich ihn, daß er die Traude mit mir gehen lasse; wir wollten zwei Bündel machen, denn allein vermöge ich den Haber nicht zu tragen. Mit den Knechten in den Wald ging der alte Einleger Michel, mit mir in die Mühle ging das stille, schlanke Dirndel. Ich dachte, nun würden wir einmal mitsammen plaudern können. Ich wollte sie ausfragen nach ihrer Kindheit, nach ihrer Mutter, nach ihrem blinden Vater, der Häfen mit Draht gebunden und Wanduhren hergerichtet hatte. Aber wir hatten bald ausgeplaudert. Sie gab zwar freundliche, doch so kurz gefaßte Antworten, daß mir keine rechte Frage mehr einfiel und wir mit unseren Bündeln auf schmalem Steige schweigend hintereinander hergingen. Als wir aber zur Grabelhütte kamen, wo vor der Tür in der Sonne die junge Grablerin ihr Kind säugte, wurde die Traude auf einmal lebendig. Sie plauderte heiter mit dem Weibe, schäkerte mit dem Kleinen und schaute zu, wie es an der weißen Mutterbrust mit der[147] Lebhaftigkeit eines jungen Kälbchens saugte. Als wir dann hinab in die Mühle kamen, als ich mit dem Holzhaken das Türschloß aufsperrte und wir in den dunkeln Raum traten, als ich die Fensterläden ausmachte, dann aus meinem und ihrem Bündel den Hafer in den Trichter schüttete und als ich endlich mit dem Niederdrücken eines Hebels das Mühlwerk in Gang brachte, war die Traude stets neben meiner, um zuzugreifen, wo es zu tun gab. Wir sprachen das bei der Arbeit Notwendige, nicht mehr und nicht weniger. Als ich dann neben dem Mühlsteinmartel auf meiner Bank saß, um nun bis zum Abend das Mahlen zu überwachen, sagte sie ruhig: »Brauchst mich noch?«

»Nein, Traude, ich brauch' dich nicht mehr. Du kannst heimgehen.«

Aber als sie fort war und ich allein bei dem klappernden Räderwerk, da hatte ich Bange. Ich glaube, nach dem Mädchen, und von jetzt an vermeinte ich sie so gern zu haben wie meine Schwester. Und da nahm ich mir heilig vor, zu achten und zu wachen, daß diesem Dirndel nichts geschehe.

Da war es noch an demselben Abend spät. Ich ging von der Mühle heim, durch den Wald hinaus. Es war ganz dunkel. Vor mir auf dem glatten Waldsteig gingen zwei Nachbarsbuben; der Ernest und der Jonsel, die meine guten Kameraden waren. Wir hatten miteinander manche Possenreißerei angestellt, und derlei schließt freundschaftlicher aneinander als etwa gemeinsam ausgeübte Tugenden. Besonders war ich Jonsels Geheimschreiber. Der Jonsel war etwas säbelbeinig und hatte beständig entzündete Augen, was zwar bei Hühneraugen schmerzhafter, aber[148] bei Gesichtsaugen unschöner ist. Er war bestrebt, den Weibsleuten gegenüber seine körperlichen Mängel mit Poesie auszugleichen. Ich war der Verfasser gereimter Liebesbriefe, die an eine Schöne in Fischbach gingen. Darauf hatte sie ihm denn schreiben lassen, er möchte einmal kommen. Eine halbe Nacht lang waren sie spazieren gegangen im Baumgarten, aber als es tagte und sie einmal recht sein »Ausgeschau« sah, soll sie schnell davongelaufen sein. Der Jonsel ließ aber nicht nach, sie von seiner Schönheit zu überzeugen. In den nächsten Liebesbrief mußte ich sein Porträt zeichnen, und zwar mit einem schwarzen, aufgewirbelten Schnurrbart, während das Original nur ein strohbraunes Fetzchen hatte, das noch dazu an der linken Oberlippe kümmerlicher war, als an der rechten. »Wenn's Haus einmal brennt,« sagte er, »sind alle Wasser gut.« – Was geschah? Am darauffolgenden Sonntag sah man seine Schöne mit einem Schustergesellen gehen, der just einen solchen aufgewirbelten Schnurrbart trug. So hat mein künstlerisches Bemühen eher geschadet als genützt, weil die Wirklichkeit nicht dem Ideal entsprach. Der Jonsel hatte dann – wie er erzählte – die falsche Katz' abgedankt und wollte es nun mit der »Häfenbinderischen« probieren.

Sagte nun sein Bruder, der Ernest: »Mein Lieber, die Häfenbinderische laß nur mit Fried. Die geht dich nix an. Aber wenn du mir bei der die Leiter halten willst, so helf' ich nachher für dich eine suchen.«

»Wegen meiner,« gab der Jonsel bei, »mir ist sie eh ein bissel zu jung. Allemal fahrt man besser mit dem Rössel, wenn es schon abgerichtet ist.«

Derlei bekam ich zu hören auf dem glatten Waldsteig,[149] als ich in der Dunkelheit geräuschlos und knapp hinter den beiden Burschen einherschritt. Dann verabredeten sie für die nächste Samstagnacht ein erstes Fensterln bei der Traude.

Sie hatte in der rückwärtigen Bodenkammer ihr Bett. Da wollte nun der Ernest eine Leiter anlehnen bis zu ihrem Fenster hinauf, um – weil es kein Gitter hatte – bequem Kopf und Achseln hineinzustecken und um ihr Herzlein zu werben. Der Jonsel sollte ihm derweil unten die Leiter halten. Dieser fragte nun den Unternehmer, ob er auch genügend mit Gassel- oder Fensterlsprücheln versehen sei, um sie anmutig aufzuwecken, über sein Vorhaben aufzuklären und sie dafür zu erwärmen. Dann wurden Übungen in Fensterlsprüchen gehalten. Das geschah halblaut, in gemurmeltem Gebettone. – Na, gute Nacht, wenn das die Traude alles zu hören bekommen soll?! – Mir wurde heiß bis in die Finger- und Zehenspitzen. – Mit allen Vieren hätte ich sie rücklings überfallen und ermorden mögen. Aber was wirst du machen, wenn du ein kleberer Junge bist und ihrer sind zwei baumstarke Lümmel! Das Fensterln bei der Traude muß auf andere Weise verhindert werden.

Es kam der Samstag. Zum Vater wollte ich nicht gehen. Verschergen soll ein Kamerad den andern nicht, er muß sich selber zu helfen wissen. Fürs erste versteckte ich die Leiter, die gewöhnlich an der Hauswand wagerecht hing und fünfzehn Sprosseln hatte. Hernach am Abend, als das Nachtmahl vorüber war und die Leute ihre Betten aufsuchten, ging ich hinaus zum Waldl, streichelte ihn, ließ mir von ihm Hand und Gesicht belecken und hakte am Halsband die Kette aus. Dann ging[150] ich aber noch nicht schlafen, sondern setzte mich in den Strohschoppen, von wo aus man recht bequem auf das Fenster sehen konnte, hinter dem die Traude schlief. Es war halber Mond, das Fenster stand wie eine schwarze Tafel in der Wand, die Traude pflegte die Flügel offen zu lassen.

Wie mir einmal fast vor ihrem Auge gegraut hatte, so graute mir jetzt vor diesem Fenster. Denn es kam mir ein wilder Gedanke. Es zog mich hin. Die versteckte Leiter mußte ich selber nehmen. Als ob in meinem Innern ein schwingender Haspel das Blut peitschte, so sprang es heiß durch alle Adern, so wirbelte es durch alle Glieder. Ähnlich hatte ich's noch nie gehabt. Wo ist die Leiter?

Sie war schon da. Zwei Gestalten hatten sich hinter dem Hofe, wo es der Kettenhund nicht bemerken konnte, herangeschlichen, richtig aus dem Reisighaufen die Leiter hervorgeholt und sie leise aber hastig an die Wand gelehnt. Ganz deutlich sah ich, daß es der Ernest war, der jetzt flink die Sprosseln hinanstieg. – Wo ist denn der Hund, daß man ihn nicht hört? Bist du nicht gelöst? Ich rüttelte an einem lockeren Schoppenbrett, da nahm er's wahr, schlug an, kam um die Ecke und schoß lechzend auf den Mann los, der die Leiter festhielt; dieser floh, sich kaum vor dem Hunde erwehrend. Und als ich nach dem andern ausschaute, der schon hoch an der Leiter gestanden war – sah ich nichts. Er war verschwunden. Zu Boden gesprungen war er nicht, der rasende Hund hatte ihn verscheucht – zum Fenster hinein.

O Unglücksmensch, was hast du jetzt angestellt? schrie es in mir zum Wahnsinnigwerden. Durch den losgelassenen[151] Hund hast du ihn hineingejagt. Und er hat nur fensterln wollen. Ein Nachtgrüßen, wie es der Brauch ist! Und du hast ihn über sie gehetzt! – Ich lief ums Haus herum und schlug Lärm, so viel, als von der Lunge ging: »In der Hinterkammer ist ein Dieb!«

»Den werden wir gleich haben!« sagte der Großknecht und war auch schon bei der Leiter, die er wegzog. In den nächsten Augenblicken ist die Hinterkammer voller Leute gewesen, die meisten in mangelhaftem Nachtgewand. Inmitten stand mein Vater, hoch gehoben wie ein flammendes Schwert das Talglicht. Am Fenster stand trotzig Ernest, der Nachbarssohn, die Hände in den Taschen. Das Bett war leer, die rote Decke lag über dem Fußboden hin – die Traude war nicht da. In der Vorkammer, wo wir Flachs, Garn und Schafwolle aufzubewahren pflegten, hockte sie in einer großen Holzkiste auf schwarzer Wolle. Im weißen Hemde, die Ellbogen an die Brust, die flachen Hände ins Gesicht gedrückt, so hockte sie da und zitterte wie ein junges Vögelchen, das man in der hohlen Hand hält.

Mein Vater erhob seinen Unmut gegen den Ernest: »Ist euch die auch schon im Weg? Soll man denn gar schon die Kinderstuben vergittern lassen vor den Wildlingen?«

»Na geh', Bauer;« antwortete der Ernest in gemütlichem Ton, »die ist schon zeitig.«

»Mir scheint, dir gibt dein Vater nicht genug Arbeit, weil du bei der Nacht nicht rasten kannst!«

»Derspar' dir's, Bauer, derspar' dir's!« sagte der Ernest dreist wie ein Sieger, da er doch ein Gefangener[152] war. »Bauer, du wirst es auch nit viel anders gemacht haben, wie du dir die Deinige hast ausgesucht.«

»Wenn'o dir ernst wär', das wär' eine Red'!«

Trat der Bursche einen Schritt hervor gegen die Traude und sagte ernsthaft: »Weil ich schon so weit bin, jetzt red' ich. Aufs Jahr übergibt mir mein Vater den Hof. Da ist's zum Heiraten. Traude, wenn du mich magst, so sind wir handelseins.« Er hielt ihr die Hand hin, sie duckte sich nieder und vergrub sich immer mehr in die Wolle. Und sie tat erbärmlich weinen. So schluchzt und wimmert ein Kind, das sich in fremdem Land ausgesetzt und die Rede der Wilden zu hören glaubt. Da wies mein Vater die Leute zur Tür hinaus und befahl dem Mädchen, ins Bett zu gehen.

Ich pfiff dem Waldl, streichelte ihn und hing ihn wieder an die Kette.

Zwei Jahre später ist Hochzeit gewesen. Die Traude war eine andere geworden. Sie war entwickelt zur rundlichen Knospe, die über Nacht ausbricht. Sie hatte noch ihre stille Heiterkeit, aber wenn sie vor dem Ernest stand, wenn diese zwei schönen Menschen sich gegenüberstanden und sie ihn anschaute, da war in ihrem Auge freilich noch jene Nacht – aber es flimmerten Sterne, es strichen Meteore, es zuckten Blitze in dieser Nacht. Es war ihr ein heißes Licht ausgegangen, daß er der Mann und sie das Weib ist. Der Ernest versicherte seine Freunde, bisher persönlich zu dieser Erkenntnis nicht viel beigetragen zu haben und pries sich als einen der wenigen in der Gegend, die mit stolzer Glückseligkeit auf den grünen Kranz ihrer Braut blicken dürfen.

An jenem Morgen, als er seine Braut in unserem[153] Hof abholte und meine Mutter den versammelten Hochzeitsgästen ein Frühmahl vorsetzte, wollte ich dem Bräutigam spaßeshalber etwas sagen. »Viele Gäste, die dazugehören, hast du heute geladen. Aber einen hast du doch vergessen, der auch dazugehört und dem du mehr verdankst, als was du ihm wirst abstatten können.«

»Geh', du, schreck' mich nit, daß ich wen Wichtigen hätt' vergessen! Wer soll's denn lauter sein?«

»Der Waldl...«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 139-154.
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