Ludwig Rubiner

Nach Friedensschluß

Danach wird ein Streit kommen, schrecklicher als der Weltkrieg einer war, jahrzehntelang. Menschenvernichtender noch, menschenbeseitigender, menschenleugnender. Er wird viele Generationen wegwischen aus dem Gedächtnis der Kommenden; Jahrhunderte von gewesenem Leben werden von der zärtlichen Erinnerung künftiger Geschlechter ausgeschlossen sein, und dermaßen nicht mehr vorhanden, wie der Moder von altem Schutt – einst kostbarer Besitz – achtlos verweht und verstampft wird in Staub und getretene Straßen.

Aber auch schneidender, unmenschlicher, herzzerreißender wird das sein. Denn gerade bessere Menschen, irgend hinter Verdunklungen dem Geistigen nahe, werden anspringen, um zu zerfleischen.

Es wird ein Streit sein, den das letzte Mißverständnis gegen das Zeitalter des Geistes kämpft. Die letzte Halbheit, die letzte Ungläubigkeit, das letzte, geschärfteste, verstrickt teuflischeste Aufgebot des Aberglaubens von Besitz und Grenzen. Die Truppen der überzeugungslos Lauen, der früh Zufriedenen, der Unsicheren und der halben Brüder werden den Kampf gegen uns aufnehmen.

Die wahren Kameraden der neuen Zeit wissen, daß die Verwirklichung des Geistigen sich nur in den Handlungen des freien Menschen zeigt. Aber die Mißverständler alle stehen auf gegen uns. Und zuletzt treten die Halbbrüder und Halbfeinde gegen uns vor.

Doch es geht für den Geist. Der Geist wird Führer sein der kommenden Zeiten, in der hohen Selbstverständlichkeit eines Führertums, das nicht mehr von Persönlichkeiten abhängt. Und alles wird fallen und spurenlos vergehn müssen, was noch Anstrengungen macht, um die Faust auf die Welt zu legen und von ihr Besitz zu ergreifen.


Wir haben nicht das Recht, uns für uns allein zu entscheiden. Wir müssen die lebendige Verantwortung für die andern in unserer Entscheidung mit übernehmen. Also nur noch entschiedener müssen wir werden. Unzweideutiger noch müssen wir uns in das Bekenntnis zum Absoluten stellen. Wir dürfen uns nicht von List[162] oder Bequemlichkeit vorspielen lassen, daß Führerschaft durch den Geist und der Weg der Unbedingtheit nur im Lande Niemals lägen. Jede übernationale Realität lehrt es heute schon besser. Galt nicht einmal das Gold als Werteinheit für eine angebliche Ewigkeit? Und heute müssen Sehende die Entwertung und rapide Relativierung des Goldes durch den Krieg feststellen.

Unsere besten Zeitgenossen erheben die Hand, und mahnen uns, Schlagworten zum Trotz, die neuen Gesellschaftsbildungen mancher Staaten nicht für Wege zum Sozialismus zu halten, sondern sie als Kriegsmerkantilismus zu erkennen. Aber auch darüber dürfen wir uns nicht täuschen, daß diese neuen staatsmerkantilen Zwangsformen nur durch ein halbes Jahrhundert sozialökonomischer Ideenvorbereitung möglich waren. Schreibt einmal einer das Kapitel von dem chaotischen Kontrapunkt der Geschichte im neunzehnten Jahrhundert? Dann darf die Enthüllung jener wilden Zufallskreuzung nicht fehlen: Wie der große Rhythmus einer menschheitlichen Volksumwälzung zur Gemeinschaft auf dem Erdball – in einem tollen Mißverständnis sich zu decken begann mit einem ökonomischen Rechtsstreit, der nur die materielle Umschichtung einer spezifischen Klasse propagierte. Dieser Absturz aller menschlichen Ziele ist eine Folge der unerhörten Kleingläubigkeit, in der ein Jahrhundert lang die umwälzungsbedürftige Gesellschaft sich das Maß der kleinsten Zufriedenheit gesetzt hat, glückselig schon, wenn eine Bewegung auch nur verschwommen ähnlich einer drängend nötigen Umschaffung unseres Lebens sieht. In absichtlichem Selbstbetrug ist man froh, Umwälzung der Gesellschaft schon mit bloßer Umlagerung der Vermögen zu identifizieren. Und diese Klasse? Das Proletariat. Als ob es heute nicht schon längst eine unorganisierte Schicht der viel tiefer Bedürftigen um die ganze Erde herum gäbe, ein Unterproletariat von allen Seiten der Gesellschaft her; eine Leidenslegion von blutend Isolierten, so tief leidend, daß sie nicht einmal bisher sich organisieren konnten wie der hochmütige Gewerkschaftsmann; eine Katastrophenarmee von Verzweifelten, die bereit sind, das Wunder zu empfangen, während den sozial und ökonomisch vorgeschrittenen Organisationsproletarier schon lange allzu befriedigter Stolz auf Erreichtes in Angst vor dem Schritt zum Unbedingten hielt.[163]

Der blinde Wunsch, eine Partei zu bilden, statt einer Gemeinschaft für Geistesrevolution, die doch in Wahrheit nur unter dem Zeichen einer absoluten schöpferischen Änderung des Bewußtseinsstandes der Welt marschieren würde, führte zu der nie verzeihlichen Sünde, demokratischen Sozialismus gleichzusetzen mit Klassenkampf. Aber niemand hat, bei allen Nationen, den Krieg moralisch so stark unterstützt wie das gewerkschaftlich befriedigte Geschöpf des Klassenkampfes. Die bewußt organisierten Proletarier aller Nationen sprachen dieselben Raubtierparolen, wie die früher von ihnen bekämpften Leiter ihrer Todesschicksale. Doch selbst die bescheidene Forderung des Klassenkampfes ist eine schon historische Forderung, und sie ernsthaft zu stellen und laut auszusprechen war nur möglich in einer Zeit von verhältnismäßig großer Freiheit. Das alles geht heute nicht mehr, das alles hilft heute nicht mehr, das alles gilt heute nicht mehr. Wie billig, bequem und roh, wie unverantwortlich und menschenwürdig: alle unsere Erwartungen, Hoffnungen, unsere drängendsten Aufgaben abzuschieben auf das organisierte Proletariat! Wie aussichtslos verrucht der feige Wunsch: den organisierten Arbeiter einzuspannen als todgeweihtes Tier in den Beutezug unserer Änderungslust- und dann tatenlos von ferne zuzuschauen, wie der Verhungerte noch im Maschinengewehrtode für uns siegt! Aber das wird nicht sein.

Wir müssen höher und viel tiefer steigen. Die nächste lebendige Formel über den Erdball hin, die den Menschen wieder in die Mitte des Lebens fordert, heißt heute: Sklavenaufstand.

Schon heute, noch mitten im Krieg, finden wir es merkwürdig, und nach dem Staub der subalternen Registraturen schmeckend, daß man früher jene Bewegungen, die auf eine höhere Ordnung der Erde hinzielen – Ziele, die heute jedem Spießbürger sehnsüchtig klar scheinen –, mit unpositiven Schreckbezeichnungen benannte. Der französische Gewerkschafter Lagardelle hat (mit Parteinahme für die Gewerkschaft) die Ziele zweier gesellschaftskritischer Bewegungen gegenübergestellt, das des klassenkämpfenden Syndikalismus auf der einen Seite, und ihm gegenüber das der unbedingten Freiheitsforderung. Nach seiner klaren Formulierung gilt für den Syndikalismus: »Die soziale Frage ist eine Arbeiterfrage. Der Feind ist der Angehörige der andern Klasse. Das Ziel wird durch Entwicklung[164] des Klassenbewußtseins erreicht. Der Ausgangspunkt ist das Interesse der Gesamtheit.« Dagegen gilt für die Freiheitsbewegung:»Die soziale Frage ist eine Menschheitsfrage. Der Feind ist der befehlszwingende (autoritäre) Mensch, zu welcher Klasse er auch gehört. Das Ziel wird durch Entfaltung des Menschheitsbewußtseins erreicht. Der Ausgangspunkt ist das Einzelinteresse.« – Man sieht bei beiden Richtungen ihre menschheitlichen Qualitäten und ihre staubigen Einseitigkeiten. Heute geht uns die Diskussionsnervosität vergangener Denkschlachten nichts mehr an. Wir haben zu Fürchterliches durchgemacht und mit angesehen auf dieser Welt, als daß uns der Satz »Ausgangspunkt ist das Einzelinteresse« nicht heute kindlich blödsinnig erschiene. Wir haben zu große Hoffnungen für die Zukunft, als daß wir nicht das Wort: »Ausgangspunkt ist das Interesse der Gesamtheit« als jubelndste unserer Forderungen bejahen würden. Aber heute wird jedes mutige Herz für die Menschheit stimmen, nicht für die Gewerkschaft. Die atomistische Kleinlichkeit des Gewerkschaftsprogrammes ist heute jedem Auge sichtbar. Die edle Liebe zur Erde, die Entfaltung des Menschheitsbewußtseins – nicht natürlich in einem Einzelinteresse, sondern in einem höchsten Gemeinschaftsziel – hat heute sogar schon letzte kleine Lichter auf die Friedensprogramme der einander feindlichen Staaten geworfen; und Regierungen arbeiten in ihren Manifesten heute selbst mit Grundbegriffen von Ideenrichtungen, die sie vor wenigen Jahren noch in grausamen Verfolgungen ausrotten wollten.

Es ist Zeit, eine Bewegung, die auf der Vereinigung von Menschheitsbewußtsein und Gemeinschaftswillen baut, nicht mehr nach dem ablenkend negativen Schlagworte chaotischer Isolation zu bewerten, nach allem, was sie von sich ausschließt, sondern nach den unmittelbaren Ideen, welche ihr die führenden sind. Diese Ideen strahlen im Begriffe »Sozialismus« zusammen. Das ist: bewußt hilfreiches Gemeinschaftsleben einer freien Menschheit.

Aber die Menschen werden sich noch einmal vor eine ungeheure Prüfung gestellt sehen. Ein Riesenkessel von Verwechslungen, Vertauschungen aus Absicht, von Verkennungen wird kochen. Alles, was wir heute schon »Sozialismus« nennen, ist in Wahrheit getrübt durch die kurzfristigen Interessen des Relativen, durch[165] Schiebungen zwischen Macht und geringerer Macht, durch Kompromisse voll von Grenzen. Gegenüber diesem unfreien, diesem nur bedingten Sozialismus ist heute der Kapitalismus fast unbedingt zu nennen. Darum wird auch nicht dieser ungelebte und nur abgenötigte Zehntelsozialismus dem Kriege ein Ende machen, sondern der Kapitalismus. Der Kapitalismus wird dem Krieg ein Ende machen im Kampfe gegen den Pseudosozialismus; er wird das dann tun, wenn er sich ernstlich bedroht sieht. In dem Moment, wo der Torso-Sozialismus völlig in den Staat eingehen will, wird der Kapitalismus seinen geringern Gegner abschütteln, und in jenem sichersten Wirkungskreis des Kapitalismus: seiner Internationalität, die sich des Staates bedient, seine überstaatliche Macht erweisen. Nach diesem Kriegsende von Gnaden des um sich besorgten Kapitals wird noch einmal eine ungeheure Welle des kapitalistischen Sieges von innen her über die Welt stürzen; eine fürchterliche Begeisterung für das bunte Weltvarieté des Kapitalismus wird aufbrechen, und nichts wird billiger sein als das Mißverständnis des Sozialismus, nichts bequemer als seine Verachtung, nichts deutlicher als der Widerspruch zwischen dem Mißgeschick seiner Absicht und der allgemeinen Rührung über die vollzogene Tat seines leicht siegreichen Feindes.

Aber das Mißverständnis liegt schon darin, aus diesem Widerspruch Schlüsse zu ziehen. Das Mißverständnis liegt schon in der Frage: Kapitalismus oder Sozialismus? Diese Antithese ist Unsinn. Sie existiert gar nicht, nicht als Feststellung, und erst recht nicht als Forderung. Denn der Kapitalismus ist nur die Systematisierung des auf der Erde befindlichen und verschiebbaren »Wieviel«, ein ewig zitterndes, ewig erschreckbares »Wieviel mehr? – Wieviel weniger?«, und nur darum mächtig, weil die Majorität der Menschen gebannt mit ihm mitzählt. Aber der Sozialismus ist eine Gesinnung, keine Sachsammlung. Seine Weltfrage heißt: »Wie sehr?«, und Intensität war noch überall das Manometerzeichen des Schöpferischen. Sozialismus ist Erdballbewußtsein; seine Gesinnung heißt: Erdballgesinnung. Der Kapitalismus ist das atavistische Angstgebild des alten Einzelmenschen der tief vergangensten Höhlenzeit, des relativischen Fatalisten, des Deterministen, des Materienfetisch-Anbeters, der in Blitz und Donner erschreckt den Menschen für ein[166] mechanistisch gebundenes Vegetativgeschöpf der Erdnatur hielt. Ihm war der Mensch ein Teil der Erde. Wie ungeistig! Dagegen wie unerhört schöpferisch ist die Hingabe und Projektivität des Sozialismus in die Welt, wie unvergleichbar überzeugend. Ihm ist die Erde ein Teil des Menschen. Sein kühnstes und doch einfachstes Wort sprach der Sozialpolitiker Silvio Gesell (»Die natürliche Wirtschaftsordnung«): »Die Erde gehört zum Menschen, sie bildet einen organischen Teil des Menschen. Die ganze Erdkugel, wie sie im Flug um die Sonne kreist, ist ein Teil, ein Organ des Menschen, jedes einzelnen Menschen.« Wie geistig! Hier ist das Thema des neuen Menschen, aus ihm strömt die schwebende freie Polyphonie der neuen Zeit. Tausende von Menschen, einander Unbekannte, in allen Ländern über alle Grenzen hinweg fühlen diese Worte auf sich zukommen wie einen brüderlichen Händedruck. Denn das Stärkste, das sie aus diesen Worten hören, heißt: Freiheit und Gemeinschaft! Der ganzen Erde muß unser Schöpferbewußtsein und unsere Liebe gelten, wenn wir vor unsern Augen auch nur einen ihrer Teile als Völkergemeinschaft sehen wollen, ein brüderliches Europa.

[1917]

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976.
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