Elfter Period.

[85] Geißlingen liegt in einem fruchtbaren Thale, von felsichten Bergen gegürtet, hat Gesundbäder, herrliche Gegenden, Wiesen, Gärten, wohlfeile Lebensmittel, und beinah alles, womit der genügsame Weltbürger seine Pilgerhütte schmüken kann. Das erste Ansehen dieser Stadt fällt dem fühlenden Wanderer sonderbar auf. Die Berge und Felsen, die auf die Häuser zu stürzen drohen; die Trümmer der alten gräflich Geisselsteinischen Burg; der Heidenthurm, ernst und feierlich an der Bergspize stehend; – alles diß ist so romantisch, daß der Sänger eines Ariost-Wielandischen Gedicht, eine der mahlerischesten und poetischesten Szenen hieher verlegen könnte. Die Bewohner dieses Städtchens haben für den, der eben aus der weiten Welt dahin kommt, ein verdrüßlich steifes Ansehen. Sie gleichen beinahe den verzeichneten[85] elfenbeinernen Figuren, die ihre Drechsler auf Kästen und Toiletten machen. So wie man auch dem großen Albrecht Dürer nachsagt, daß er seine Figuren von den alten, ehrwürdigen steifen Nürnberger Bürgern geborgt habe. Doch bei genauer Untersuchung, entdekt man bald eine Gruppe biederer, redseliger Menschen, von altschwäbischem Zuschnitte, die aus den heroischen Zeiten der Grafen von Helfenstein und Geisselstein, die beede hier weiland ihr Felsennest hatten, noch manche Miene erhalten haben. Auch findet man hier Fleiß und erfindrischen Geist, wovon der Leztere nur zu sehr mit Kleinigkeiten spielt. Indessen werden sie gewiß aufhören, Kirschenkerne zu bevölkern und Flohkutschen zu machen, so bald sie der kindische Fremde nicht mehr kauft. Der Ulmische Obervogt, damals ein Herr von Baldinger, war ein Mann von Lebensart, reicher Erfahrung, schönen Kenntnissen, und dem edelsten Herzen, der hier nicht als Bassa haußte, sondern wie ein zärtlicher Vater unter seinen Kindern lebte. Meine Schule,[86] der ich vorgesezt wurde, sah einem Stalle ähnlicher, als einem Erziehungshause für Christenkinder.1 Ueber hundert Schüler, roh und wild, wie unbändige Stiere, wurden mir auf die Seele gebunden. Ich erschrak mehr über das Unangenehme meines Amts als über die Schwere meiner Pflicht. Bökh, mein treuer Schwager gab mir manche Lehre des weisen Unterrichts, die ich auch anfangs mit augenscheinlichen Nuzen, troz aller Hindernisse des grauen Vorurtheils, befolgte. Baldinger unterstüzte jeden guten Entwurf, den ich machte, mit seinem Ansehen, und ich erzog in kurzer Zeit einige sehr fähige Schüler, die theils auf die oberste Klasse des Ulmischen Gymnasiums kamen, theils aber auch zu andern bürgerlichen Geschäften bestimmt wurden, noch leben, und mich durch ihren Dank für meinen Eifer belohnen. Ich trieb die Erdbeschreibung, Geschichte, Naturlehre, – versteht sich alles in[87] seinen ersten Anfängen – nebst der griechischen und lateinischen Sprache, sonderlich Kalligrafie, Rechtschreibkunst und Wissenschaft des Briefstellens mit meinen Schulern unter dem schönsten Erfolge. Ich hielt kleine Rednerübungen, Gespräche in dramatischer Form, gieng mit einigen meiner ältesten Schüler öfters ins Feld hinaus, sah ihren gymnastischen Uebungen zu, und gewann gar bald ihr und ihrer Eltern Zutrauen. Nur beklag' ich es erst jezo, daß mir mehr daran gelegen war, geschikte Bürger für diese Welt, als Genossen der künftigen zu erziehen. Daher war mein Unterricht in der Religion kalt und unvollständig. – O wann wird sich einmal nach dem Wunsche eines frommen Lehrers, statt so vieler Athene, Akademien, Filantropine, ein christliches Zion erheben! Wann werden es die Regenten, die Pädagogarchen bedenken, daß sie nicht Heiden, sondern Christen zu erziehen haben! – Mein Musikchor, dem ich vorgesezt wurde, bestand aus einigen zwar nicht unbrauchbaren alten Bürgern, aber zu meinem Stil waren sie nicht mehr[88] zu gewöhnen.2 Ich behalf mich daher mit einigen von mir gebildeten Schülern, so gut als ich konnte, die daselbst die Musik fortpflanzten; wiewohl der kümmerliche Lohn die Musik daselbst nie recht gedeihen lassen wird. Neben meinem beschwerlichen Amte – denn ich hatte täglich neun Stunden Unterricht zu geben – übt' ich mich auch im Predigen, so wol in Geißlingen, als auf den benachbarten. Dörfern. Sonderlich mußt' ich in Kuchen, eine Stunde von Geißlingen, zwei Jahre beinahe beständig des dasigen kranken Pfarrers Stelle vertretten, welches ich, wie ich hoffe, nicht ohne Segen gethan habe. In Eibach, wo ich auch einigemal predigte, lernt' ich an dem Grafen von Degenfeld einen wahrhaftig edlen Mann, und an seiner Gemahlin, einer Baronessin von Riedesel eine Dame von vielem Geschmak, ausgezeitigtem[89] Urtheile, und einer Geisteshoheit kennen, wovon ich noch kein lebendes Beispiel sah. – Meine Pflicht erfordert' es auf den Gottesäkern, bei Leichen der Kinder und Erwachsenen öfters zu parentiren, welches mir meist so gut gelang, daß ich mir den allgemeinsten und lautesten Beifall zuzog. Und gewiß, keine Kanzel, kein Rednerstuhl, kein Altar ist so geschikt den Zuhörern die höchstwichtigsten Wahrheiten mit Nachdruk ins Herz zu sprechen, als ein Grab. Nie stund ich auf einem Todtenhügel, ohne im Innersten das traurige Loos der Sterblichkeit zu fühlen; und mit solchen Empfindungen gelang es mir meistens, meine Zuhörer zu rühren. Nur Schade, daß man dis wichtige Geschäft im Ulmischen nicht selten unwissenden und gabenlosen Schulmeistern überläßt, die aus einem abgeschmakten Buche ihre Grabreden stehlen, oder die von ihren Vorfahren geerbten elenden Sermonen mit einem Zusaze eignen Unsinns auftischen, und sie ohne Gefuhl, zum Ekel ihrer Zuhörer monotonisch vom Pappier lesen. – Alle diese Geschäfte entfremdeter[90] mich doch so wenig von den Wissenschaften, daß ich in meinem Leben nie fleißiger studierte, als in Geißlingen. Wo ich gieng, und stand und saß, und wandelte; da begleitete mich ein gutes Buch. Ich fieng nun an die Wissenschaften sistemmässig zu studieren, und las deswegen das Gute der alten und jüngern Welt. Der Lesegeist bemeisterte sich meiner Seele so, daß ich alles ohne Wahl und Ordnung verschlang, wie mirs unter die Hände fiel. – Nur Leibnize sind fähig, so tumultuarisch zu lesen, ohne sich zu verwirren; aber Leuten von gemeinem Schlage ist nichts schädlicher als diese stürmische Methode. Die Seele wird mit allen ihren Fähigkeiten so lange im Kreiße herumgejagt, bis sie betäubt und schwindlend niederstürzt und entsschlummert. Dann nichts zeugt grössern Schlummer, als Uebertreibung und Unordnung. Meine Lieblinge, die ich fast niemals weglegte, waren Klopstok, Bodmer, Ossian, Shakespear, Geßner, Young, Gerstenberg, Gleim als Grenadier, Uz und Karschin; die übrigen Dichter las ich wohl alle, aber sie würkten nicht[91] so allgewaltig auf mich, wie die genannten. Unter den Alten las ich Homer, Virgil, Lukan und Horaz am fleissigsten – aber je vertrauter ich mit den Griechen wurde, je mehr schien es mir, daß die Anhänger an Laziums Muse, nach Klopstoks Ausdruk, das Ey wählten, und die Henne fliegen liessen. Winkelmann, Mendelssohn, Lessing, Kloz, Herder, Hume, Flögel, Abbt, waren meine Prosenmuster und die Kunstrichter, die ich allen andern weit vorzog. Doch vergaß ich nicht den Aristoteles, Cicero, Quintilian damit zu verbinden, und immer freute es mich, wenn ich auf die Quelle kam, aus der gedachte Kunstrichter schöpften. Ich las die besten Schriften der Kunstrichter mit Vergnügen und Nuzen, hatte aber nicht Stärke genug, sie zu wannen, und den häufigen Spreu von der reinen Frucht zu sondern. Als ich anfieng, den Plato und Aristoteles zu studieren; so nahm meine Ekstase für die Neuern in merklichen Graden ab. Das Sublime der Platonischen Filosofie, die sich zuweilen, wie Kleuker bemerkt, zu den Höhen[92] der Christenreligion aufschwingt, der reine Fluß seines Stils, wo man jedes Goldkorn im Grunde sieht, und der richtige scharftreffende kritische Blik des Aristoteles scheint mir noch von wenigen Neuern erreicht worden zu seyn.3 Wenig alte und neue Kanzelreden blieben von mir ungelesen – ich fand aber, wie unsicher, ja, wie lächerlich es oft sei, sie in kleinen Städten, und auf dem Lande nachzuahmen, wie ich doch zuweilen mit manchem Thoren that4, daher zog ich meine homiletische Regeln von den Bedürfnissen meiner Zuhörer ab.

Die damals, wie vom Sturme getriebene Schneefloken, die Luft durchkreuzenden pädagogischen[93] Schriften, durchlas ich meistens, von meinem prüfenden Freunde Bökh geleitet, und fand, wie er, daß sich nur weniges auf unsre Schulen in Schwaben anwenden ließ. – Doch brachte diß Wenige schon sehr gute Früchte.5 – Die ernste Weltweißheit, die damals den kindischen Belletristen zu lieb sich aufzupuzen anfieng, liebt' auch ich im Gewande, das ihr Feder Kant, Mendelssohn, Meiners, Flögel, Riedel und Garve umwarfen, mehr, als in ihrem alten staubichten Mantel.

Tacitus, Thucidides, Xenofon, Hume und Robertson lehrten mich die Geschichte schäzen, und mein Vaterland beklagen,[94] das damals an guten Geschichtschreibern noch so arm war.6

In der Naturlehre, in fisischer Menschenkenntniß hatt' ich an dem seel. D. Rau7 zu Geißlingen, einen mündlichen Führer, der mir manchen großen Blik gab. Die schöne Bibliothek und Kupfersammlung des Geißlingischen[95] Obervogts, Herrn von Baldingers, gaben mir Gelegenheit, meine heiße Liebe zu den schönen Künsten einigermassen zu befriedigen. Er selbst hatte viel Geschmak, den er auf seinen Reisen nach Italien und Frankreich ausbildete. Auch hielt sich ein junger Mahler, Namens Schneider, in Geißlingen auf, ein Zögling der Jesuiten, der meinem Urtheile über die Werke der Kunst nach half, und mir einige praktische Anweisung gab. Er hätte, vermöge seines treflichen Genie's, ein großer Künstler werden können, wenn er sich nicht durch die ausgelassenste Liederlichkeit selbst gemordet hätte. Er war Tonkünstler, las die Dichter mit Empfindung, schrieb und sprach gut in mehr als Einer Sprache, erhaschte in seinen Gemälden die Natur oft auf der That, war sonderlich zum Hogarthischen Stile geneigt, versäumte aber die Zeichnung; sein Kolorit war anfangs glühend, stand aber in weniger Zeit ab. – Sonst hatte er große Entwürfe in seiner Seele. Er mahlte einmal in eine Dorfkirche die zwölf Apostel nach dem dritten Gesange des Messias mit ungemein vielem Geiste. Er gieng von Geißlingen nach[96] Ulm, von da unter die kaiserlichen Soldaten, ward losgekauft, in Augsburg sehr unterstüzt – und starb, oder verweßte vielmehr an den Folgen seiner Ausschweifungen noch bei lebendem Leibe, mit Gellerts Moral in der Hand, nachdem er mit schwachem Odem seufzte: – »so sollt' ich gelebt haben!« – Er ernährte seine arme Mutter, und all die Seinen bis in Tod, war barmherzig gegen die Nothleidenden, und wenn er nicht besoffen war, der angenehmste, wizigste und lehrreichste Gesellschafter. – Auch über solche Seelen wird sich Gott erbarmen! Richte nicht, Leser, sei fromm, und lerne warten!!8

Die ehmalige Freundschaft zu diesem Jünglinge wird diesen Auswuchs in meiner Lebensbeschreibung entschuldigen. Man mißdeutete mir die Freundschaft mit ihm; allein wenn ich Kopf[97] fand; so sah ich über die Sitten weg. – Um diese Zeit schrieb ich einige pindarische Oden, und ließ sie druken, nicht ohne Beifall des Publikums. Die Zaubereien, eine unglükliche Nachahmung Ovids, sind ein schwarzes Denkmal eines verdorbenen, mit seinem Zustande unzufriedenen Herzens. Daher sind sie voller Ausfälle auf Leute, die besser waren, als ich, und voll Murren über meine Situazion, die doch Vorbereitung auf eine bessere war. Wieland, dem ich sie dedizirte, merkte es wohl, und bestrafte mich deswegen im Tone der menschlichen Schonung, der ihm so eigen ist. Mit diesem treflichen Manne, an dem ich die erste Hälfte seines Lebens, wo er so ganz für die Religion Christus glühte, höher schäze, als die zweite, wo dis Feuer für die christliche Religion so merklich erkaltet ist,9 stund ich einige Zeit[98] in Briefwechsel, und sein Umgang würde sehr vieles zur Auszeitigung meines Geistes beigetragen haben, wenn es mir, nach seinen menschenfreundlichen Gesinnungen gelungen wäre, näher um ihn zu seyn, und mich in seinem Lichte zu wärmen. Im Jahre 1766 besuchte ich meine Eltern, und eine schwere Krankheit führte mich abermals dicht an den Rand des Grabes. Ich ließ mich, so krank ich war, nach Geißlingen bringen, und Gott gefiel es, mir durch den schon gepriesenen Arzt Rau meine Gesundheit wieder zu geben. Diese Genesung, und meine öftere Dienste auf dem Gottesakker, wo ich sehr viele Parentazionen halten mußte, ermunterten mich, Todesgesänge zu schreiben. Ich that es mit meiner gewöhnlichen leidigen Eilfertigkeit, und gab sie 1767 heraus Sie wurden größtentheils gut aufgenommen, zum Theil in Liedersammlungen eingerükt, auch von gemeinen Leuten gelesen, und mehrmalen aufgelegt. Da ich seit diesem einsehen gelernt habe, daß es nicht so leicht sei, ein geistliches Lied zu machen – selbst die wenigen Muster bezeugen es, die wir haben; Luther[99] und Klopstok10 haben kaum ein paar gute Nachfolger gefunden – so sah ich gar wohl daß meinen Todesgesängen zwei Haupteigenschaften fehlten – Einfalt und Salbung. Auch die sorgfältigste Ausbesserung würde ihnen dieses Verdienst kaum mehr geben können, ohnerachtet ich mir im Kerker oft gewünscht habe, dieses Geschäft unternehmen zu dürfen.11 Indessen stiftete ich doch mit dieser Arbeit das meiste Gute, und ich hab' also[100] Urfach auch am meisten mit ihr zufrieden zu seyn. Meine kleinen Versuche in der Dichtkunst, und einige prosaische Aufsäze, die ohne Namen in Wochenschriften erschienen, verschafften mir zugleich manche Bekanntschaft mit würdigen Männern. Ich schweige von dem poetischen Lorbeerkranze, womit man mich beehrte, denn diese Art von Ehre ist unter allen die verwelklichste; aber theurer sind mir die edlen Menschen, in deren Gesellschaft mich meine Muse einführte. Es sind theils Ulmische, theils auswärtige Freunde, mit denen ich von dieser Zeit an, beinah einen ununterbrochenen Briefwechsel unterhielt, der interessanter als mein ganzes Leben wäre, wenn ich ihn noch der Welt mittheilen könnte, und nicht durch nachherige fast beständige Wanderungen die meisten Briefe verloren hätte. Auch erhielt' ich um diese Zeit einen Antrag zum Rektorat in Oehringen, der, ich weiß nicht durch welchen Zufall, wieder zerstäubte. So lang ich in diesem Zirkel von Geschäften herumgejagt wurde; so hatt' ich wenig Zeit zu Exkursionen mit der lustigen Brüderschaft. Besuche[101] meiner Eltern, Geschwister, meines trauten Bökh, einiger hofnungsvollen Ulmischen Jünglinge, und sonderlich kleine Spaziergänge nach Altenstadt zu dem damaligen Amtmann Kiderlen, einem Manne von Lißkov's Laune, das Umherklettern auf meinen Bergen, wo ich die Riesentrümmer der altdeutschen Ritter der Geisselsteine, Wöllwarthe, Hochberge, aufsuchte, machten mir die leeren Stunden in Geißlingen zu elisischen Augenblikken. – Wie oft sah' ich vom öden Thurme, den noch Heiden hinthürmten, mit dem Sehrohr hinab ins blühende Thal, von Menschen und Heerden bewimmelt, und theilte meiner Gattin, die sich auf meine Schultern lehnte, die süssen Gefühle mit, so jung und leichtgeschwingt sie aus meiner Brust stiegen. Wie oft wiegt' ich meine Kinder auf dem Knie und sah Unschuld und Freude in ihren Augen schimmern! – Ach, ich verschob' es zu sagen – denn dieser Artikel ist der zärtlichste in meinem ganzen Leben, den ich nicht berühren darf, ohne daß meine ganze Seele drohnt – daß ich schon 1764, kaum als ich[102] in Geißlingen warm wurde, mich mit Helene, einer Tochter des dasigen Oberzoller Bühlers, verheurathete. Sie ist ein Weib geraden und einfältigen Herzens, zur Demuth und Niedrigkeit gewöhnt, häußlich, geschikt zu allen Verrichtungen der Haußmutter; sie liebt nach Grundsäzen, und nicht nach vorüberrauschenden sinnlichen Eindrükken; daher hat ihre Liebe Dauer, und immer gleiche Wärme, sie hatte nie die leichten und blizschnellen Reize der Buhlerin, aber die tiefer liegende Anmuth des treuen Weibes, und der zärtlichen Mutter; sie empfand gleichsam mit dem Verstande, der bei ihr ungemein richtig, scharfblickend, und die beständige Leuchte ihres Lebens war; ihre Leidenschaften lagen tief verstekt, wie angefesselt vom Verstande, wenn sie sich aber zeigten, und an den Fesseln zerrten; so waren sie heftiger, als bei mir selbsten, und sie konnte sich durch nichts, als durchs Gebeth helfen. Ihr Herz war immer zum allgemeinen Wohlwollen gestimmt, dem Mitleiden geöffnet, Bruder und Schwester-Liebe ausgiessend, stark, den Anblik des Elendes auszuhalten,[103] der ihre Lieben traf, und zu einer Mütterlichkeit gebildet, die alle Minuten bereit war, ihr Leben dem Glük ihrer Kinder aufzuopfern. Sie war ihrer vaterländischen Religion einfältig zugethan, liebte die gemeinen redlichen Leute mehr, als die in Weltglanz gekleideten, nach Rang und Ansehen schnappenden Menschen – dabei war sie doch eine Feindin aller Niederträchtigkeit. Eine schwarze Wassersuppe, selbstverdient, und im Kreise ihres Mannes und ihrer Kinder gegessen, war ihr lieber als die Ehre, an der fetten Tafel eines reichen Wollüstlings zu schmarozzen, und Gift mit seinen süssen Weinen einzuschlürfen. Stille, häußliche Seligkeit, ruhiger Besiz eines kleinen, rechtmäßig erworbenen Eigenthums, zuweilen ein goldner Zirkel von ihren Verwandten und Freundinnen um sie her; ihre Kinder versorgt und glüklich zu wissen, und einst mit Gott versöhnt, und des ewigen Wiedersehens gewiß, in den Armen ihres Mannes sterben, das war alles, was sie sich wünschte; alles Uebrige war ihrer genügsamen Seele Ueberfluß und Greuel. Man sieht aus dieser[104] treuen Schilderung, daß sich mein Weib durch ihre Verheurathung nicht glüklich machen konnte. Es war die Verbindung des Sturms mit der Stille, der feurigen Thorheit mit der abgekühlten Vernunft, der Anarchie mit der Ordnung. Ich war viel zu wild, um die Seligkeit des häußlichen Lebens ganz empfinden zu können, und doch kostete ich es in einigen ruhigen Augenblikken so gut, als Giseke, und glaube, daß nach den höhern Geistesfreuden, die aus dem Bewußtseyn unserer Erwählung in Christo und unserer künftigen Seligkeit entspringen, keine Freude dem Vergnügen gleicht, Mann und Vater zu seyn. Mein Weib erfreute mich mit Söhnen und Töchtern, wovon ich einen Sohn und eine Tochter der Welt hinterlassen muß, zwei Söhne und eine Tochter aber hoff' ich bald bei Gott zu finden. Wie bebt mir mein Herz, wenn ich dran denke, wie oft ich mit meinen Kindern im Frühlingsgrase saß, und das süsse Wort Vater gleichsam von ihren Lippen sog! – Ja, eine der höchsten Freuden Gottes muß es seyn, von allen Geschöpfen in Sonnen[105] und auf dem Staube mit jedem Morgen als Vater gepriesen zu werden; daher geht auch der Hauptzwek der christlichen Religion dahin, uns armen Menschen Gott wieder als Vater bekannt zu machen, den wir in diesem Gesichtspunkte fast ganz aus den Augen verloren. – So viele Freuden, die mich umleuchteten, so viele Gelegenheiten, Gutes zu thun, und zum Wohl des Ganzen mitzuwürken, so viel Nachsicht Gottes und seiner edlen Menschen mit meinen Fehlern hätten mich zum dankbarsten Anbeter Gottes und seines Christus machen sollen; aber – o unbegreifliche Blindheit! ich ward's nicht. Ich fieng vielmehr gar zeitig an, an den vornehmsten Religionswarheiten zu zweifeln, die verwegensten Säze der Spötter und Warheitsfeinde mir bekannt zu machen, Gift, das ich einsog, wieder auszusprizzen, und zu glauben, daß man kein wiziger Kopf seyn könne, ohne ein Freigeist zu seyn. Ein Sistem des Unglaubens hatt' ich nie – denn ich hatte in Nichts ein Sistem – aber die Trümmer kannt' ich doch alle, aus denen der Unglaube seinen Pallast[106] erthürmt. Da ich jeden Stoß des Beispiels empfand; so lernt' ich bald von meinen wizigen Favoriten kalt von Gott und göttlichen Dingen sprechen, auf alle Sachen des Geistes verächtlich niederblikken, die Wunder der Schrift als Mährlein verwerfen und die Religion Jesu, nach dem Waidspruche des Freigeistes, für einen Kappzaum des Pöbels zu halten. Ich stieß mich zuerst an der Person Jesu, den ich schon als Kandidat für keinen Gott, sondern für einen Mittler, wie Moses, und für einen frommen Lehrer hielt; doch sezt' ich ihn weit über Sokrates, Konfuzius, Zerduscht, und alle Gesezgeber und Weise hinaus; – und da mir über diese Sache kein näheres Licht aufgieng – denn wie sollte sich der Geist Gottes in einer so trüben Seele spiegeln; – so glaubt' ich vollkommen Recht zu haben, zweifelte weiter, sah nach und nach alle Artikel des Glaubens für verdächtig an, verlor alle Stüzen, und glaubte beinah, das ganze Glük des Menschen besteh' darinnen – frei rasen zu dürfen. Ich betete wenig, oft gar nicht, wurde[107] unruhig, mißvergnügt mit meinem Schiksale, stolz auf mein Talent, ausschweifend in meinen Ergözlichkeiten, öfters nachlässig in meinem Amte, ein Spötter der Geistlichkeit, ein geheimer Hasser des obrigkeitlichen Ansehens, ein Lüstling, der die Mädchen für Blumen ansah, die jeder Schmetterling beflattern darf, ein kühner Beurtheiler der wichtigsten Dinge und Personen – mit einem Wort ein Lasterhafter, der nicht einmal die Kunst verstand, das Leben recht zu gebrauchen; denn da ich der offenherzigste Kerl von der Welt war, so handelt' ich immer viel zu frei, als daß ich nicht allenthalben hätte anrennen sollen. Mein Schwiegervater, ein weiser abgekühlter Albert, Gott und der Welt weit nüzlicher, als zehen wilde Werther, die gleich dem Waldstrom die Beete der Ordnung und Weißheit verschwemmen, warnte mich oft, von den Thränen meiner Gattin unterstüzt. Aber mein Schaden lag schon zu tief, als daß ihn kühler Rath, und Weiberthränen hätten heilen können. – Zu meinem Unglük fiel ich, wie durch ein gerechtes[108] Gericht, auf den Gedanken, Geißlingen zu verlassen, und einen Ort aufzusuchen, wo mehr Welt, mehr Freiheit, mehr Weite und Breite zum Austoben war. Ich besuchte nebst meiner Frau meinen Schwager in Eßlingen, und reißte in seiner Gesellschaft nach Ludwigsburg, um die neue Oper Fetonte, am Geburtstage des Herzogs, aufführen zu sehen. Man stelle sich einen so feuerfangenden Menschen vor, als ich war, dessen Haupthang die schönen Künste, sonderlich die Tonkunst gewesen, und der noch nie ein trefliches Orchester gehört, noch nie eine Oper gesehen hatte, diesen Menschen stelle man sich vor – wie er schwimmt in tausendfachen Wonnen, indem er hier den Triumf der Dichtkunst,12 Mahlerei, Tonkunst und Mimik vor sich sah.

Jomelli stund noch an der Spizze des gebildetsten Orchesters in der Welt, Aprili sang, und Bonani und Cesari. Der Geist der Musik war groß und himmelhebend, und[109] wurde so ausgedrükt, als wäre jeder Tonkünstler eine Nerve von Jomelli. Tanz, Dekorazion, Flugwerk, alles war im kühnsten, neusten, besten Stile – und nun gute Nacht Geißlingen mit deiner Einfalt, deinen Bergen, deiner Armut, deiner Geschmaklosigkeit, deinem Kirchhof und deinem Schulkerker!! – Mit diesem festen Entschlusse reißt' ich nach Geißlingen zurük, das ich nun viel düstrer, als jemals kolorirt fand. Wahr ists, daß der Schulstaub anfieng meiner Gesundheit zu schaden. Ich sah immer blaß, bekam oft heftige Schwindel, und warf Blut aus. Da ich aber von Ellwang aus erst kürzlich wieder neue Versicherungen wegen meiner Versorgung erhielt; so wär' es mir, und den Meinigen zuträglicher gewesen, wenn ich mein weiteres Glük in Geißlingen abgewartet hätte, als daß ich mich auf einen Eißboden hinwagen wollte, aus dem ein Mensch, wie ich, nothwendig Hals und Bein brechen muste. – Das zähe Leben des alten Schulmeisters, dem ich seinen Unterhalt verdienen muste, war also nicht die Ursache meines[110] Widerwillens in Geißlingen – Liebe zur Veränderlichkeit und zum freien Genuß des Lebens war es allein. Bei allen meinen Fehlern hatt' ich doch in Geißlingen ungemein viel Freunde Man schäzte meine Gaben, man belohnte sie nach den Kräften der Innwohner, man entschuldigte mich im Tone des altdeutschen Gutmeinens: »'s ist eben 'n junger Mann! Last 'n gehen! 's wird ihm schon kommen!« – O ihr Lieben, lohn's euch der Herr, was ihr mir und den Meinigen Gutes thatet! Mein Herz klopft euch die wärmsten Wünsche zu! Bleibt auf dem Wege der Einfalt im Glauben und Leben, so seyd ihr glüklich, schon hier durch die selige Verborgenheit, die euch vor der Welt unbeflekt erhält, – und dort im Reiche des Mittlers, wo ihr dem Throne des Herrschers der Liebe gegen über stehen werdet! – Die Gelegenheit für meinen Schwindelgeist ereignete sich bald. Man suchte in Ludwigsburg einen Organisten und Musikdirektor, und durch Professor Haugs Bemühungen erhielt' ich diese Stelle, nicht ohne heissen Kampf, aus welchem[111] ich hätte sehen können, daß solche Veränderung gegen den Plan Gottes mit mir war. Das leztemal predigte ich auf dem Baron von Holzischen Dorfe Bartholomäi, mit solcher Rührung und Wehmut, als wenn ich es gewußt hätte, daß ich von nun an die Kanzel nicht weiter betretten sollte. Thörichter Tausch von mir! Was ist der Ruhm des ersten Tonkünstlers gegen den Segen, den ein guter Prediger, ein Volkslehrer zu stiften vermag!! Professor Haug hatte die menschenfreundlichste Absichten mit mir; er wollte mich auf einen Posten stellen, von dem ich meine Gaben könnte leuchten lassen, und dadurch den Grund einer ehrenvollen und dauerhaften Versorgung legen. Aber er kannte mich nicht, und glaubte, es würd' ihm leicht seyn, mich durch sein Beispiel die Kunst Thialfs zu lehren, das heißt auf Schlittschuhen zu fahren, wo Glatteiß ist. Meine Blutsfreunde hingegen, die mich besser kannten, schüttelten alle die Köpfe, und mein Bruder Jakob, der bald darauf starb – – ach die einfältigste, redlichste Menschenseele,[112] die je einen Körper belebte – besuchte mich, nahm weinend von mir Abschied, und sagte: »Bruder, dich hab' ich verloren! – o daß ich nicht Abadonna's Klage weinen müsse:


Abdiel, mein Bruder, ist mir aus ewig gestorben.«


Sein keuchender Ton und sein blasses Angesicht war der Ausdruk und die ganze tiefe Deutung dieser Wehklage. Auch durch einen höchstbedeutenden Traum,13 dessen Wahrheit sich bis in meinen Kerker erstrekte, wollte mich Gott von meinem Vorhaben zurükschreken. In der Neujahrsnacht 1769. sah' ich im Traum Feuer im Sakristei zu Geißlingen auflodern, ich wollt' es löschen, und die Flamme sengte mich – Erschrokken floh' ich ins Feld, eine Wüste öfnete sich mir;[113] ich verwilderte darinnen, von Scheusalen umtanzt, umheult, umzischt; Nacht und Finsterniß floß immer diker und schreklicher auf meinen Pfad herunter; – ein Bliz, der plözlich die ganze scheußliche Gegend erleuchtete, wieß mir nun die gähnende greuliche Kluft, an der ich schwindelte. Ich schrie, eine starke Hand grief nach mir, und stellte mich auf einen Berg, der ganz mit Asche bedekt war. Ich watete durch die Asche in einen Thurm, wo ein ganzes Heer von Männern in schwarzen Kutten mich hohnnekkend bewillkommte. Ein kleiner freundlicher Mann, war mir hier noch allein zum Troste – er vertrieb die Kutten, nachdem sie mich lange mit den grossen Nägeln ihrer Hände bis auf den Tod gezwikt hatten, und führte mich auf eine grosse Wiese, wo ich nach langen Qualen Ruhe fand. – Die Deutung dieses Traums begann alsobald, enträthselte sich immer mehr, und erst jezt seh' ich seine volle Entwiklung mit Erstaunen. – O Seele, welche Tiefen liegen in dir, und wie wenig kennt man dich, wenn man statt der Schrift, die auch hier die sicherste Leiterin[114] ist, einen kalten, kurzsichtigen, nachlallenden, unglaubigen Psichologen zum Lehrer wählt. Jede Menschenseele scheint einen Genius, oder eine ihr angeschaffene Kraft zu haben, die ihr die grösten und wichtigsten Begebenheiten ihres Lebens zuweilen in Träumen vorzeichnet, oder die Zeitigung und Annäherung dieser Begebenheiten durch Ahndungen fühlbar macht. Ich und meine Gattin haben das eine, wie das andere mehrmalen erfahren, ob ich mich gleich als ein wizziger Dümmling über alle diese Misterien in dithirambischen Sprüngen wegsezte. – Auch lernt' ich einen Jesuiten aus Rom kennen, der im Begriff war, zur protestantischen Religion überzutretten; dieser machte mir einige Lekzionen vor, aus denen ich mit Schrekken sah, daß die Magie kein bloses Fantom sey, wie ich bisher mit meinen Modezweiflern wähnte.14 Mit Einem Wort, ich[115] habe mehr als einmal erfahren müssen, um welche grosse Einsichten in die Seele des Menschen, wie in die ganze Natur wir uns dadurch bringen, wenn wir uns dem übertrieben Skeptizismus unsrer Zeitgenossen Preiß geben. – Mein trauriger Abschied von Geißlingen näherte sich nun, Weib und Kinder hatten mich verlassen, und sich zu meinem Schwiegervater begeben; ich hielt mich also bei einem mir sehr ergebenen Geißlinger Burger auf, und dachte ohne Abschied mich wegzustehlen. Die Nacht aber vor meiner Abreise kam meine Gattin über mein Bette, fiel mit[116] lautem Schluchzen auf mich hin, und konnte vor Schmerz nicht reden, weil sie glaubte, mir den ewigen Abschiedskuß geben zu müssen. Den andern Tag kam sie in meine Wohnung, fiel vor mir auf die Knie nieder, und bat mich mit aufgehobenen Händen: »o Mann, ich bitte dich, werd' ein Christ!« Nie, selbst im diksten Gedränge der Welt konnt' ich dis knieende Bild und den Ton der flehenden Zärtlichkeit vergessen, und o wie freut es mich, meine Liebe! daß dein Flehen vor Gott erhört ist – denn Gott hat mich dem stechenden Zweifel entrissen, ich weiß, an wen ich glaube! ich bin ein Christ! –

Unter tausend Thränen, durch den langen Reihen meiner lieben Schüler hindurch, von vielen beschenkt, und allen gesegnet, und mit schwerem Herzen fuhr' ich von Geißlingen ab – so in Gedanken versenkt, daß ich mit meinen Reisegefährten kaum ein paar trokne Worte wechselte, ohnerachtet ich sonst ein sehr heitrer, wizziger und redseliger Gesellschafter war – und kam 1768. im Herbst zu Ludwigsburg an. Meine Frau, von ihrer Liebe zu mir gelenkt, schrieb mir bald,[117] und bat mich, sie und ihre Kinder abzuholen. Ich that es, söhnte mich mit meinem redlichen Schwiegervater aus, und nachdem ich aufs neue ein ansehnliches Geschenk von dem Fürst Bischof zu Ellwangen erhielt; so zog ich mit Weib und Kindern nach Ludwigsburg – auch auf dieser Reise in düstre Ahndungen versenkt, ob ich gleich den bekannten Romanenschreiber Korn, und einen ungemeinen lichten und wizzigen Fremdling zu Gefährten hatte.


Nachklang.

Geißlingen, ein durch seine Künstler im Beindrechseln, sonst weitberühmter Ort, versinkt allmählig in traurige, dumpfe Armuth. Ein Nahrungszweig verdorrt nach dem andern, und die Drechslerkunst, die daselbst groß anfieng, beschäftiget sich jezt blos mit Spielwerk für den Hof des Kaisers in Liliput, womit sich die Drehermädchen den durchreisenden Fremden aufdringen. Viele Inwohner verlassen den Ort ganz und gar, und siedeln sich in Polen,[118] oder Ungarn an. Traurige Folgen von der mangelhaften Regierungsverfassung der meisten deutschen Reichsstädte, die das heilige Wort frei mit Unrecht an ihrer Stirne tragen.

1

Man hat nach diesem hierinnen manche gute Veränderung getroffen.

2

Die Geißlinger haben schöne Anlagen zur Musik; man findet da viel ungemein helle weibliche Stimmen und Instrumentenspieler unter den Bürgern. Der berühmte Waldhornist Nisle und der gute Orgelspieler Sirt in Straßburg sind Geißlinger.

3

Jacobi, der Weltweise, ist mehr der Plato der Deutschen, als Mendelssohn; denn sein Sistem ist erhabener; und Kant übertrift den Aristoteles – wohl nicht an Weite der Kenntnisse, doch gewiß an Tiefsinn.

4

So hört' ich einmal einen Dorfprediger bei der Leiche seines Edelmanns, der als Hauptmann beim Kreiß ein paar Feldzüge mitmachte, Fleschier's Lobrede auf den grosen Turenne, auf diesen unbedeutenden Kreißhauptmann in der Parentazion anwenden.

5

Die Schulen in Schwaben nehmen, unter den Protestanten, wie unter den Katholiken, eine immer günstigere Gestalt an. Würtemberg könnte hierinnen das Muster für die meisten deutschen Provinzen geben. Auch im Durlachischen hat der weise Marggraf, so wie der Kaiser in seinen schwäbischen Landen, trefliche Schulanstalten gemacht. Nur die Reichsstädte, sonderlich die kleinern, bleiben hierinnen, wie in jeder guten Anstalt, aus leicht begreiflichen Ursachen, merklich zurüke.

6

Es hat wohl seitdem einen Schmid, Risbek, Mitbiller, Posselt, Spittler – und sonderlich einen Müller bekommen; doch fehlt es noch viel, uns mit den großen Alten und den besten Ausländern vergleichen zu können. Wo ist unser Xenofon, unser Livius, unser Gibbon, unser Barthelemy? Wie weit sind wir noch in der Biografie zurüke? – Die Brodschreiberei der Deutschen, die kalte Gleichgültigkeit, womit wir – sonderlich das heimische Große betrachten, das vernachläsigte Studium der Alten und die immer stärker werdende Neigung des Publikums zu täudlenden, frivolen, Geist und Herz entkräftenden Schriften – verscheucht die ernste, keusche Geschichtsmuse.

7

Dieser Rau war Stadtarzt in Geißlingen, ein Mann von hellem Auge, freiem Umblik' im Gebiete der Warheit und einer der treflichsten Aerzte. Er hat nichts, als einen kleinen Traktat über die medizinische Polizeiordnung geschrieben; ob ihn gleich Kopf und Kenntniß zu einem treflichen Schriftsteller qualifizirt hätten.

8

Schneider ließ anonymische Bemerkungen über die Mahlerei druken, die wohl den guten Kopf verriethen, aber voll unreifer, eigensinniger Säze sind. So hatte er z.B. immer etwas gegen Winkelmann, blos weil er glaubte, nur ein Künstler von Profession dürfe über Kunstsachen schreiben.

9

Bodmer nannte Wielanden einen gefallenen Engel. Der große Prälat Oettinger – auf der Welt nennen ihn Wenige so; aber ich weiß gewiß, die Geister des Himmels stimmen mir bei – sagte bei Lesung des Agathon und goldnen Spiegels mehrmalen: »o wenn dieser Mann so für's Christenthum schriebe!«

10

Die Gellert'schen Lieder, deren Segen gewiß dauernd bleiben wird, sind doch zu moralisch; die übrigen Liederdichter, den einzigen Cramer ausgenommen, machen zwar oft schöne Verse, sind aber ohne Salbung, ohne tiefen christlichen Sinn. Wer ein Gesangbuch herausgeben will, muß nicht nur Dichter, nicht nur Theolog – er muß Theosof, ein Gottesweiser seyn; muß die Kraft Jesu selbst in seiner Seele erfahren haben. Wie viel gefrorne Dogmatiker und Neotheologen sammlen jezt Lieder, verstümmeln die alten und mischen die besten neuen, z.B. die Klopstokkischen, mit dem Wasser ihrer sogenannten Verbesserungen! – Doch über diese ernsthafte Sache werd' ich mich an einem andern Orte weitläufig erklären, weil es leider! bisher kein Andrer gethan hat.

11

Ich habe daher nur wenige in meine neueste Gedichtsammlung aufgenommen.

12

Triumf der Dichterkunst eben nicht; denn Fetonte ist unter den Werken des Metastasio ein's der seichtesten, geistlosesten.

13

Καὶ γάρ τ ᾽ὄναρ ἐκ διὸς ἐσιν, auch Träume kommen zuweilen von Gott, sagt Vater Homer. Es liegt eine Prophetie, vis divinandi, nennt sie Cicero, in unserer Seele, die sich zuweilen wachend in Ahndungen, schlafend in Träumen zeigt. Wo ist der Mensch, der diß nicht erfahren hat?

14

Obgleich der Vertrug und die Täuschung in unsern Tagen abscheulich ist; so bin ich doch fest überzeugt, man nenne mich Schwärmer oder nicht, das es gewisse geheime Künste gebe, die, den Mißbrauch zu verhuten, Gott nur einer kleinen Menschenzahl aufgedekt hat. Welche simpathetische Wunder hab' ich schon mit Augen angesehen! – Wer alles verläugnet, was gegen sein Sistem ist, erhält endlich eine gar kärgliche Summe von Realitäten. Wer hätte, je geglaubt, daß man in der Luft segeln könne, und doch haben es Montgolfier und Blanchard gethan. Es werden noch Dinge endekt werden, die bis jezt noch in keines Menschen Sinn kamen. O der Zweifelgeist, oder vielmehr der kalte Geist des Unglaubens läßt gar vieles nicht aufkommen, was da ist, was die Summe unserer Kenntisse um ein Groses bereichern, und der Schlüssel zu manchem Naturgeheimnisse seyn würde.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Schubartߣs Leben und Gesinnungen. Erster Theil, Stuttgart 1791, S. 85-120.
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