Zwölfter Period.

[120] Ist es nicht Unverschämtheit, daß ich ein Leben wiederhole, und dem Leser vorzeichne, das man lieber, wo möglich in dikke Schatten hüllen sollte? Das dacht' ich anfangs auch, aber der Gedanke hieß mich fortfahren: Wenn mein Beispiel einen einzigen Jüngling der Unordnung und Irre entreißt, und einen andern ermuntert, meine gemachten Fehler zu vermeiden; so hab' ich ein gutes Wirk gethan, und ich achte nicht die Herzstösse, und selbst die Schmach, die mir die Wiederholung meiner Lebensauftritte schon gegenwärtig zuzieht, und noch nach meinem Tode zuziehen könnte. Wirkliche Beispiele müssen doch mehr würken, als die Zeichnungen in Romanen, von welchen alle Welt weiß, daß sie Fiktion sind. Es ist in der That ein Urtheil, das uns wenig Ehre macht, wenn wir gewisse Anekdoten in Lebensbeschreibungen klein, und unwichtig nennen, die wir doch in Romanen so gerne lesen. Man[120] Man macht daher die Biografen, sonderlich die Autobiografen so furchtsam, daß sie oft diejenige Umstände unterdrükken, die den Helden just am meisten heben, und ihm so zu sagen seine Selbstheit geben würden.1 Da ich mich in meinem Leben über so vieles hinweggesezt habe; so will ich auch diesesmal den Stab ansezzen, und über Bedenklichkeiten dieser Art wegspringen.

Ich wurd' in Ludwigsburg sehr wohl aufgenommen, weil ich demjenigen Begriffe entsprach, den man sich von meiner musikalischen Geschiklichkeit machte. Haug, der damals in Ludwigsburg lebte, und ein paar vornehme Kavaliers erzog, gab sich viele Mühe, mich in die besten Gesellschaften einzuführen, und mein Talent allenthalben geltend zu machen. Ich legte bald Kragen, schwarzen Rok und Mantel ab, – meine Gattin weinte, als ich es that, – und zog mit dem bordirten Rokke, Dressenhut und Degen den Weltgeist auch äusserlich[121] an, so wie er mich innerlich schon lange besaß. Da die Musik nun meine Hauptbeschäftigung war; so trieb ich sie als ἐργον, als erstes Geschäft, dem ich alle meine litterarischen Kenntnisse unterordnete. Ich suchte mich bald mit den Virtuosen des Hofs, welschen und deutschen bekannt zu machen, ihren Konzerten und Privatübimgen beizuwohnen, ihrem Geiste da und dort ein goldnes Federchen zu entwenden, und in meinen Geist zu verpflanzen; ich studierte den welschen Geschmak, der schon damals statt des ehmaligen altwelschen Herz und Geist stärkenden Geschmaks meist in wollüstigen Honigtropfen zerrann, zwar küzzelte, aber nicht stärkte. Jomelli allein behielt in seinem Sazze noch immer das Grosse, das die ganze Seele füllt, Leidenschaften wekt und sänftigt. Sein Feuer, war für den kalten Theoretiker, ein verzehrendes Feuer, daher waren die damaligen Urtheile einiger gefrornen Kunstrichter über ihn, gleich der Kritik der kalten, rozzigen Schnekke über den Sonnenflug des Adlers. Man mußte eignes, unverdorbnes Gefühl des Schönen[122] und Grossen haben, und Jomelli's Feuergeburten, in Ludwigsburg, Mannheim oder Neapel aufführen hören, um ein treffendes Urtheil darüber zu fällen. Nichts war lächerlicher, als einen Jomelli auf der Wage des Beispiels abwägen wollen, seine Partituren zu durchsuchen, und mit der kritischen Nadel einige Fehler, wie Hirschkörner herauszustechen. Fürs Theater ist gewiß noch kaum ein grösserer Mann aufgetretten. Hasse war so groß, als er, einfacher, aber sangbarer, länger würkend – und unstrittig übertraf ihn Gluk, der Sonnenflieger ganz.2 Er studierte seinen Dichter, verbesserte ihn oft, wie diß bei Verazi oft sonderliches Bedürfniß war; kannte die Sänger, das Orchester, die Hörer mit ihren[123] Launen, selbst den Ort, wo er seine Opern aufführte, nach den Würkungen des Schalls, und schmolz sie durch die genausten Verabredungen mit Maschinist, Dekorator und Balletmeister in ein grosses Ganzes zusammen, das des kältesten Hörers Herz und Geist erschütterte und himmelan lüpfte. Im Kirchenstile war dieser grosse Mann minder glüklich. Seine Messen sind nebst dem Mangel am kirchlichen Pathos, mit offenbaren Verstössen gegen die Harmonie beflekt. Doch gehört sein berühmtes Requiem3 unter die ersten Meisterstükke dieser Art. Wer es aufführen hörte, beehrte den Meister mit dem Beifalle der süssesten Thränen. Auch hat er in seinem 51. Psalm gezeigt, was er in dieser Schreibart hätte liefern können, wenn er sich ihr hätte ganz weihen dürfen. Seine Sinfonien, die nach ihrer Absicht Eröfnungen[124] eines grossen, feierlichen Schauplazzes, und nicht selten Embrionen waren, in welche die ganze Oper eingewikkelt war, haben manches schiefe Urtheil über Jomelli veranlaßt. Man wollte Ouvertüre zu Privatsinfonien machen, oder einen Strohm in kleine Konzertsäle leiten, und eine Katarakte zwingen, wie Lustwasser zu plätschern. Noch diese Stunde kreuzigen sich unsre Schulmeister und Zinkenisten bei feierlichen Anlässen mit Jomellischen Sinfonien; sie rasseln und poltern mit Tischen und Stühlen und Bänken, um nur das Sturmgetöse seines Crescendo herauszuwürgen. – – –

Unter den Sängern und Sängerinnen zeichneten sich Aprili, Crassi, Rubinelli, Bonafini, Bonani und Cesari hoch aus. Aprili war vielleicht der gröste Sänger seiner Zeit; Genie und Kunst stand bei ihm in gleichen bewundrungswürdigen Verhältnissen. Sein Vortrag war immer neu, und er wußte eine Kavatine oder Bravourarie mehrmalen mit unbeschreiblichem Genie abzuändern. Er war gar oft Jomelli's Kunstrichter, und[125] Jomelli horchte ihm gerne.4 Doch hab' ich nie einen Menschen mit dem Gefühl eines d'Ettore singen hören – er starb zu Ludwigsburg, von allen Kunstverständigen und schönen Seelen beklagt.

Und doch klagte Jomelli schon damals über den Verfall des Gesangs. »Meine stürmende Instrumentalbegleitung,« sagte er einstens zu mir, »würde ein grosser Fehler seyn, wenn es nicht meistens Wohlthat für den Zuhörer wäre, das widrige Stimmengekreisch zu übertäuben.« Auch war es ihm unbegreiflich, daß Deutschland, wo er so viel schöne Menschenstimmen fand, doch keine Singschulen habe.5 So seufzt diese Stunde noch Vogler, Reichart, Hiller, Schwenke, aber[126] man läßt sie seufzen und unsre Kantoren und Vorsänger brüllen.

So stark und geübt das Orchester war: so schien es doch durch seine viele Virtuosen zu leiden. Ein Virtuos ist sehr schwer in die Ufer des Ripienisten zu zwingen, er will immer austretten, und selbst woogen. – Auch hier trift die Wahrheit ein, daß der mittelmäsige Kopf ein viel besserer Theil irgend eines politischen, wissenschaftlichen oder künstlichen Ganzen sey, als ein Genie – denn dis will gebieten, und seinen Naken nicht unter fremde Form beugen. Ein Staat von lauter Genie's hätte lauter Könige und – kein Volk.

Der gröste Virtuos – unter allen mir jemals bekannt gewordenen, der gröste – war Lolli, der starke unerreichbare Geiger.

Ein Deutscher, Namens Spat, den ich nach diesem kennen lernte, und der den Kaltsinn nicht verdient, mit dem das musikalische Publikum von ihm spricht,6 war der[127] erste, der das Genie Lolli's durch sein Beispiel zu jener Höhe trieb, wo es sich bisher durch eignen Drang und Trieb in Schwung und Glanz erhielt. Kein Känstler hatte jemals meine Seele so ergriffen, wie dieser; ohnerachtet ich ihn immer horte, so war es mir doch immer neu: denn wahre Genie's sind unerschöpflich. – Sein Umgang, Miene, Wort und Handlung waren lauter sprechende Linien seiner Feuerseele. – O ihr sogenannten Kraftmänner, die ihr die Welt durchzieht, und eure nakende Erfindung mit den ausgefallenen Federn irgend eines Paradiesvogels schmükt, lernt einmal, daß es rühmlicher sei, treflicher Ripienist, als Halbvirtuos zu seyn – denn Lolli's sind so selten als Shakespeares!! – Man tadelte an diesem Meister, daß er zu sehr in's komische ausartete; allem sein tiefeinschneidendes Adagio beweißt, daß er ein eben so grosser Meister im ernsten Vortrag war, und daß ihm als Dichter ein Othello, wie die lustigen Weiber zu Windsor gelungen ware.

Unter den grossen Gliedern des Orchesters[128] war mir Deller durch seinen Umgang und Freundschaft am nüzlichsten. Er war gleichsam der Sprecher des grossen Noverre, und gab seinen Balleten, den einzigen in ihrer Art, Ton und Leben. Er sezte auch nachher komische Opern, Kirchenstüke, und eine Menge Instrumentsachen, die bald in allen Gesellschaften nachgeleirt, nachgespielt, nachgepfiffen, und nachgesungen wurden.7 Sein Saz war leicht, natürlich, gemeinsinnig, und schmeichelte dem Ohre des Kenners und des Liebhabers ungemein. Er war ein Gerstenberg unter den Musikern. Auch die gemeinsten Leute konnten seine Melodien behalten, so glüklich waren sie der Natur abgehorcht. Die deutsche komische Oper hätte bis jezt keinen für sie geschafnern Mann aufzuweisen, als diesen, wenn er sich ihr ganz hatte widmen wollen. Sein Studium waren die Partituren grosser Manner, die er immer in ganzen Stössen vor seinem Bette aufgethürmet[129] hatte, und sie allen gedrukten Anweisungen vorzog. Er komponirte langsam, aber mit tiefer Ueberlegung. Bei mehrerer Tugend hätt' er einer der grösten Männer unseres Vaterlandes werden können. Seinem Umgang und scharfen Urtheile hab' ich das meiste zu danken, was ich von der Musik zu reden und zu schreiben vermag.

Man erlaube mir aus Liebe zu meinem vollendeten Freunde ein Paar Verse beizufügen, womit ich damals mit meinen Busenfreunden Martial und Steinhardt des herrlichen Mannes Freundschaft feirte:


Sage selbst, o Göttin Harmonie,

Was die Wahrheit fordert,

Daß die Flamme des Genie

Ihm im Busen lodert.


Daß er dir und der Natur getreu,

Zaubereien töne,

Daß er in der Mitte sey

Deiner grossen Söhne.


Wenn Jomelli, wie ein Göttersohn,

Dem Gefühl gebietet;[130]

Wenn Galuppi-Arion

Melodieen wütet.


Und wenn Hasse, wie der Trazier,

In die Goldharf' rauschet,

Daß den grossen Zauberer

Mensch und Thier belauschet;


O so sing's im hohen Sfärenton

Feuriger und schneller,

Nenne deinen vierten Sohn,

Deinen Liebling Deller!


Den dein Arm im mütterlichen Spiel,

Oft melodisch wiegte,

Der sich immer voll Gefühl

Horchend an dich schmiegte.


Der von deinem ewigen Konzert

Mächtiger durchdrungen,

Was er still von dir gehört,

Lauter nachgesungen.


Unter solchen Männern bildete ich meinen Klavierstil und Orgelvortrag aus, indem ich ihnen theils meine eigne Fantasien vorspielte, theils die ihrigen auf mein Instrument trug, und[131] mich in ihren Privatkonzerten und sonderlich in den Opern in der Begleitung festsezte, in welcher mein Freund Seemann Meister war, den hernach sein betrübtes häusliches Schiksal – er war der Ehmann der gepriesenen Sängerin Cesari8, ins frühe Grab warf. Mein eigentliches Amt war, in der Hauptkirche die Orgel zu spielen, und der Kirchenmusik vorzustehen. Jenes that ich mit allgemeinem Beifall, da ich mir sonderlich Mühe gab, einige Süssigkeiten der Hofmusik auf meine Orgel zu verpflanzen, um dadurch dem verwöhnten Ohre meiner Zuhörer zu schmeicheln. Indessen wußt' ich gar wohl, daß die Natur der Orgel einen ganz andern Vortrag gebietet; Kontrapunkt, Fugenstil, Psalm und Triumfton, Registerkenntnis, und weiser Gebrauch des Pedals, sind dem Organisten, der noch eine stärkere Feuerprobe als Matthesons seine aushalten muß, wichtigere Erfordernisse, als Rondo und Arienmotife mit Flötenzügen, oder mit der entweihten Menschenstimme[132] vorgetragen. Sonderlich soll der Choral immer das Hauptwerk des Organisten bleiben er muß ihn nicht nur kunstmässig, sondern auch nach dem darinnen herrschenden Hauptaffekte, mit Empfindung und Stärke vorzutragen wissen. Andachterwekendes Arioso unter dem heiligen Abendmahle, mit sorgfältiger Auswahl der schiklichsten Register, hohes geflügeltes Allabreve bei'm Ausgang aus der Kirche, klagende durch alle Herznerven wühlende Fantasie an Bußtägen, und lautes Aufjauchzen mit allen Registern an hohen Festtägen – all dies kann man von jedem Organisten fordern, der in einer angesehenen Stadt mit einer guten Orgel den Volksgesang zu begleiten hat. »Willst du der Gemeinde im Gesange vorstehen,« sagt Ambrosius, »so must du erst selbst fühlen, was du singst;« ist auch bei'm Orgelspiel wahr.

Hierinnen sind die Katholiken bei weitem, wenigstens der Zahl nach, unsre Meister, nachdem wir unser grosses Muster, den unsterblichen Sebastian Bach, so weit aus den Augen verlieren, daß es kaum noch einen Menschen[133] giebt, der seine Stüke spielen kann.9 Die Kirchenmusik war zu meiner Zeit in Ludwigsburg äusserst verdorben; man nahm Jomellische Opernarien, preßte erbärmlich deutsche Texte drunter, und führte sie meist elend auf. Ich gieng daher mit einer gänzlichen Ausrottung dieses Verderbens um, und wollte mir eigne Texte zu Kirchenstükken machen – allein das eingewurzelte Vorurtheil, meine viele Zerstreuungen und zu früher Abzug von Ludwigsburg, hinderten mich an dieser so heilsamen Reform.

Indessen behalf ich mich mit Graun, Telemann, Benda, Bach und andern Kirchenstilisten; und meine Freunde von der Hofmusik halfen mir dazu, daß ich oft eine Kirchenmusik aufführen konnte, wie man sie wohl damals in Deutschland – sonderlich unter den Protestanten selten gehört haben mochte. – Meine immer zunehmende Stärke auf der Orgel,[134] dem Klavier, Flügel, Fortepiano – ich habe sie bei Zeiten sehr sorgfältig von einander unterscheiden lernen – zogen mir die glänzendesten Bekanntschaften zu.

Ich gab den ersten Damen des Hof's, auch einigen Italienern, Unterricht im freien und begleitenden Vortrage, und zog Schüler und Schülerinnen, die es bis zur Meisterschaft brachten.

Auch einige junge Leute haben mir ihre musikalische Bildung und ihr nunmehriges Auskommen und Glük in der Welt gröstentheils zu danken. Alle fremde Virtuosen besuchten mich; sonderlich war mir der Besuch des damals einzigen Doktors der Musik in Europa, Burney, sehr angenehm und lehrreich. Ich bedaurte, daß just dazumal das Orchester mit dem Herzog entfernt war, und suchte ihm die Verrükung seines Hauptzwekes so gut zu ersezzen, als es mir möglich war. Burney wollte deutsche Musik aufsuchen, und die konnt' er in Ludwigsburg ganz und gar nicht finden, denn die dasige Musik war einer der schönsten Aeste vom grossen welschen[135] Stamme abgehauen, und auf schwabischen Grund und Boden verpflanzt.10 Ich half ihm zu einigem Begriffe von ursprünglich deutschem Tanze, ließ ihm schwäbische Schleifer und Dräher vorgeigen, Nationalgesänge vorsingen, spielte ihm selbst Choräle und Alles vor, wovon ich wußte, daß es mit welschem oder französischem Geschmake nicht kandirt, sondern ächt deutsch war. Aber Burney reißte überhaupt zu geschwind, und urtheilte zu rasch und kühn, auch hatte er zu untiefe Kenntnisse, als daß man von seinen Bemerkungen das Karakteristische der deutschen, welschen und französischen Musik hätte abziehen können.

Ich wunderte mich einst gegen einen Engelländer, daß sein grosses Volk keine eigne musikalische oder auch Malerschule11 hervorgebracht[136] hätte. – »Dazu sind wir nicht liederlich genug,« antwortete er kalt und kühn. Er hätte recht gehabt, wenn nicht in den neuen Zeiten von den Britten grössere Beispiele der Ausgelassenheit und Liederlichkeit aufgestellt worden waren, als von irgend einem Volk in der Welt. Das Genie ist just am meisten zur Liederlichkeit geneigt. Kurz ich töne Klopstoken nach:


»Wen haben sie, der kühnen Flugs

Wie Händel Zaubereien tönt? –

Das hebt uns über sie!«


Ob ich nun gleich mehr als zuviel aus der Nektarquelle der Tonkunst schöpfte: so ersäuft' ich doch nicht gänzlich meine Liebe zu den Wissenschaften und schönen Künsten. Der Umgang mit Haug, auch mehrerer wissenschaftlichen Männer, erinnerten mich fleißig, daß es noch höhere Reize, als die Tonkunst gebe. Haug war reich an Planen zur Verbreitung des deutschen Geschmaks, an einem Orte, wo Französismuß und Italizismuß jedes vaterländische Gefühl zu verschwemmen drohte. Er[137] hielt Versammlungen in seinem: Hause, wo die vornehmsten Personen, sonderlich vom Soldatenstande, mit den neusten und nüzlichsten deutschen Schriften bekannt werden sollten; machte den Entwurf zu einer Lesegesellschaft; wollte die jungen Kavaliers zu eignen Ausarbeitungen anfeuren, und nahm mich bei der Ausführung dieses so schönen Entwurfs zu seinem Mitgehülfen an. Viel schadete das damals noch tiefgewurzelte Vorurtheil gegen deutsche Art und Kunst, und kindische Vorliebe für das Ausland Inzwischen wurd' es mir doch erlaubt, einigen vornehmen Offiziers Unterricht in den Wissenschaften zu geben, und hernach einer gewissen Anzal Staabs- und Subalternoffiziers öffentliche Vorlesungen über Geschichte und Aesthetik zu halten.

Dieses angenehme Geschäfte brachte mich in die Bekanntschaft vieler würdigen Offiziers, die mir manche süsse Lebensstunde verschafften. Die meisten grossen und würdigen Männer – – ein Bouwinghausen, Nikolai, Wimpfen und mehrere, blühen noch im Schimmer der Gesundheit und der Ehre, die ich damals[138] kennen und schazen lerne.12 Auch am Hofe hatt' ich Gönner und Freunde; die mich ihrer Gnade und ihres Schuzes würdigt, worunter mir Graf Puttbus, und Baron von Rechberg ewig unvergeßlich sind. Ersterm gab' ich Unterricht im Singen und der Flügelbegleitung. Er war ein Mann von vielem Wiz, Geschmak und Empfindung, hatte nicht nur das Beste in deutscher und französischer Sprache gelesen, sondern schrieb auch in beeden Sprachen ungemein gut; hatte auch keine gemeine poetische Anlage. Seine Geneigtheit zur Satire, die er mündlich und schriftlich bliken ließ, zog ihm manchen bedeutenden Feind zu. Er schien mir viel zu offen und gerade für einen Hofmann zu seyn. Ich brachte bei ihm manche lehrreiche und heitere Stunden zu, er unterstüzte mich thätig;[139] und da mein feuriges Naturel mit dem seinigen in vielen Stüken zu simpathisiren schien: so gab er mir manche aus eigner Erfahrung abgezogene Lehre – »Lieben Sie Gott, und fürchten Sie die Menschen,« pflegte er mir oft zuzurufen, weil er wußte, daß ich Gottes zu sehr vergaß, und die Menschen zu wenig scheute. Ich liebte diesen vortreflichen Mann recht herzlich, und vergoß Thränen über seinen nachherigen Fall; besuchte ihn auch in Eßlingen, und nahm den zärtlichsten Abschied von ihm. Sein Tod hat mich noch im Kerker gerührt. – Laß es seiner Seele wohl gehen, Gott, auch um meinetwillen!! – Mein zweiter Macen oder Pollio war Rechberg, ein Mann von dem richtigsten, durch schöne Erfahrungen aufgeklärten Verstande. Eine aufgefundne Maxime der Wahrheit, die[140] er meist ins Leben verwandelte, schäzte er höher als Gold, und das ganze anstralende Lächeln des Hofes. Schon damals war seine Krankheit die Sättigung; er hatte genug Dunst verschlukt, und schnapte nach Wesen. Daher entfernte er sich mehrmal von Hof, um auf seinem Landgute Bellenberg die freie Gottesluft einzuathmen. Da er mich mit dahin nahm, wo ich einige sehr schöne und fröliche Wochen meines Lebens verlebte; so hatt' ich das Vergnügen – nicht mehr den geschnürten Hofmann, sondern den freien entfesselten edlen Weltbürger in ihm zu finden. Er las gerne, unterhielt sich noch lieber mit Leuten von Einsicht, urtheilte selbst scharf und gesund über alle vorkommende Fälle, war ein Freund der Tonkunst, und suchte mehr sanfte als rauschende Ergözungen. Gegen mich war er sonderlich gnädig; ich habe seine reiche Freigebigkeit bis auf meinen Abschied von Ludwigsburg und noch nach diesem, meist zur gelegenen Zeit empfunden. Der gute Mann privatisirt jezt zu Günzburg; mög' er nun die Ruhe gefunden haben, nach der seine Seele sich sehnte.[141]

Wer zur damaligen Zeit die ganze Herrlichkeit Ludwigsburgs, wie in einem Gukkasten beisammen sehen wollte: der mußte im General Wimpfischen Hause bekannt seyn. Der General war ein Mann von Welt, und einer natürlichen fast grenzenlosen Gefälligkeit. Seine Gemahlin, der ich im Flügel Unterricht ertheilte, war schön, belesen, wizig, und ein Stern in bunten weiblichen Zirkeln; die Frau von Königsek, seiner Schwester, erhielt, wie durch ein Wunder, Einfalt und Herzensgüte mitten unterm blendenden Schimmer der unächten Schönheit und Grösse. Diese beeden Damen, nebst der Frau von Türkheim, einer Meisterin auf dem Flügel, waren meine Schülerinnen, die mir und den Meinigen immer – auch bis jezo noch, hold blieben. Unter den vielen Karakteren, die mir im Wimpfischen Hause aufstiessen, war der Karakter des damaligen französischen Gesandten, Marquis von Clausonet, mir einer der interessantesten. Man sah' in ihm Frankreich im Extrakt. Alles, was seine Nazion liebenswürdig macht, trug er an sich – Artigkeit, Gefälligkeit,[142] zwangloses Wesen, leichten lachenden Wiz, reiche Kenntnisse, gereinigten Geschmak, allgemeines Wohlwollen, vereinigte er mit der Klugheit und Vorsicht des feinsten Staatsmannes.13

Er begleitete mein Flügelspiel öfters mit der Bratsche, zeigte viel musikalischen Geschmak, und hatte Wohlgefallen an meiner Spielart. – So viel grosse Bekanntschaften, ein solcher lauter Beifall, und diese Gelegenheit des reichsten Verdienstes, konnten mich doch nicht vor weit wichtigern Feinden, und selbst vor dem Mangel, zuweilen sicher stellen. Ich lebte wie ein Italiener, dem man hier fast alles zu gut hielt, verlor mich in den Gesellschaften der Höflinge, Offiziers und Artisten, und sezte dadurch diejenigen aus den Augen, die mein wahres Glük hätten fördern können. Regierungsrath Kerner, die beste, gütigste Seele, und die beeden dasigen Burgermeister,[143] liebten und schäzten mich bei allen meinen Fehlern, in der menschenfreundlichen Erwartung, der Sturm würde sich legen. Da ich mich aber mit dem Spezial Zilling, einem gelehrten, nur für mich zu troknen, allzugrävitätischen Manne, mit dem sich damals meine Grundsäze gewaltig durchkreuzten, durchaus nicht stellen wollte; so wankte bald der Boden, auf dem ich stand.

Es war überhaupt von mir die sträflichste Unklugheit, daß ich mich, aus einem gewiesen innern Widerwillen, nie mit der Geistlichkeit vertragen wollte. Ich bedachte nicht, daß sie fast überall, zum Theil auch in protestantischen Landen, eine furchtbare Kette bilden; man darf nur ein Glied zum Zorne entzünden; so glühen gemeiniglich die übrigen Glieder der grossen Kette alle. Der Haß gegen die Geistlichkeit, der jezt so sichtbar unter den Deutschen einreißt, hat gewiß – Feindschaft gegen die Religion selbst zum Grunde. Laß es seyn, daß faule und dikke Wänste, Lüstlinge, Wucherer, stolze Wichte, Pharisäer, Verfälscher der reinen Lehre, unter den[144] Tausenden dieses Standes sind; laß es aber den Stand selbst nicht entgelten, denn dieser ist von Gott geordnet und der ehrwürdigste unter allen Ständen. Die größten Aufschlüsse in der heiligen Wahrheit, selbst in den Wissenschaften, Sprachen und Künsten, haben wir doch größtentheils den so verachteten Theologen zu danken. Und wie viele sind noch unter ihnen, nach Lehr und Leben apostolisch gesinnt! – Ich selbst kenne Männer voll Salbung und Licht, die die Apostel und Jünger des Herrn mit brüderlicher Freude in ihre Mitte aufgenommen hätten. Ich verdiente also die üblen Folgen, die ich mir durch meine damalige Ungebehrde gegen diesen Stand zuzog. Gegen die Schlechten unter ihnen empört sich mein Herz noch; aber eben so sehr gegen Schurken und Wichte in Galaröken, Rechtsverkehrer, Quaksalber, gefrorne Razionalisten auf Kathedern und am Pulte, und die Menschenverderber aller Art.

Man wird aus der Folge sehen, daß Spezial Zilling, dessen Religionssistem ich jezt selbst bekenne, der unschuldige, und ich meist der schuldige Theil war. Nur hatte er, wie gesagt,[145] eine gewiese beleidigende Gravität,14 die jeder freien, zum ofnen Umgange gewöhnten Seele auffallen mußte. Auch ließ er nicht selten seinen Hang zur Unverträglichkeit mit allen denen bemerken, die nicht seines Glaubens waren. Dadurch zog er sich freilich manche verschuldete Kritik zu. – Meine Besoldung belief sich damals – denn ich mußte abermals einen alten Mann erhalten helfen – auf etwann 700. fl. und ob ich gleich durch Geschenke des Fürsten für meine Dienste in der Oper, und durch Lektionen in der Tonkunst und den Wissenschaften, auch durch obengenannte Unterstüzungen der Grosen ein reichliches Einkommen hatte, so war es doch für ein Danaidenfaß, wie ich war, weit nicht zureichend. Wenn ich Fülle hatte; so hatte alles um mich her genug; denn Sparsamkeit und weise Haußhaltung waren Tugenden, die ich kaum dem Schalle nach kannte – oft[146] gar verlachte. Mich dünkt, Gott lenke die Wege der Menschen so, daß das mit Künsten der Sinnlichkeit leicht erworbene Gut wieder eben so schnell im Sand zerrinnt, und eigentlich keinen bleibenden Seegen hat; so wie hingegen ein mit Schweiß beträufter Groschen, einem Wechselgroschen gleicht, der so oft man ihn ausgiebt, immer wieder zurükzukommen scheint. Dadurch wird die Gleichheit, die der Menschen falsches Urtheil über das Verdienst so oft zerrüttet, nicht selten wieder hergestellt. –

Wissenschaftliche Ausarbeitungen machte ich unter diesen Zerstreuungen nur wenige. Die für die Lesegesellschaft verfertigte Stüke wurden hernach ins schwabische Magazin eingerukt; Meine Beiträge zur Gellertischen Todenfeier – oder vielmehr Todenfeu er, – denn manches verbrennbare Stük, auf seinem Grab angezündet, ist vor ihm in Asche zerfallen – stehen in seinen Epizedien. Einige im Flug geschriebene Neujahrskomplimente hat Mezler herausgegeben. Die mit Vorreden von mir begleitete Sammlung der kleinen Schriften Klopstoks haben, so sehr sie gegeisselt wurden,[147] doch manches Gute gestiftet, und vielleicht den Dichter selbst veranlaßt, seine herrliche Oden früher herauszugeben. Klopstok wurde durch mich in Ludwigsburg, so wie ehmals im Ulmischen, viel bekannter, als er zuvor war.

Wieland war daselbst beinahe der einzige Deutsche, den Hofleute, Soldaten, Gelehrte und bürgerliche Leser in ihrem Lararium aufstellten. Ich hab' es aber dahin gebracht, daß man auch Klopstok, Bodmer, Denis, Shakespear, Ossian und andere Dichter las, die mir mehr Deutschheit, Kraft und Nerve zu haben schienen, als Wieland. Ich fand aber bald, daß man unsern wollüstigen und ausgearteten Zeitgenossen, vergeblich Geschmak am Grosen und Starken anpreißt. – Laß den Weichling, mit Armen aus Taig geknetet, einen ehernen Bogen spannen, er wird's traun nicht vermögen. Wer gerne mit den Spazen der Venus spielt, erschrikt vor dem bliztragenden Vogel des Donnerers. – Geschmak predigen, ist also eine meist vergebliche Arbeit. Meine vielfache Erfahrung in diesem Stüke hat mich gelehrt, daß gemeine im Dunkel vergrabene Leute,[148] mit geradem, schlichtem Verstande, das wahre Schöne und Erhabene viel leichter und stärker fühlen, als Leute, denen Mode, Wahn und Vorurtheil die Nerven abgespannt hat. Als die Griechen den Homer nicht mehr schmeckten da waren sie siech und bald drauf gar todt. –

Nur um einer Anmerkung willen, muß ich es sagen, daß ich sowohl im Würtembergischen als ausserhalb Landes ein allgemein beliebter Gelegenheitsdichter war, und mir damit manchen wichtigen Verdienst machte. Ich halte nehmlich die Gelegenheitsgedichte, so wie sie noch immer unter uns, sonderlich in protestantischen Ländern im Fluge sind, für eine der eitelsten und unnüzesten menschlichen Beschäftigungen, ja meist für sündliche Entweihungen der Muse. Sind sie gut – und das sind sie selten – so werden sie gar bald mit den schlechten vergessen: sind sie schlecht; was hat der Besungene für Ehre davon, wenn er sich von einem Schneemann besingen läßt? Bei Hochzeiten scheint ein Leiersmann noch am ertraglichsten zu seyn; aber bei Leichen ist er mir meist ganz unausstehlich – ist mir weiter nichts, als ein gereimter[149] oder ungereimter Heiligensprecher nach dem Markttaxe für 5. fl. Warum hebt man nicht einige Anekdoten aus dem Leben des Verstorbenen heraus, erzählt sie in populärer Prose, gibt den Lebenden Ermahnung und Trost, und wünscht dem Todten eine sanfte Ruhe? – O welche lehrreiche, dem ganzen Staate nüzliche Betrachtungen könnte ein weiser, der Sache gewachsener Mann, bei Hochzeiten, Geburtstägen und Leichen anstellen? – Da hingegen die jezigen Gedichte auf solche Fälle, selten mehr als zweideutige Zoten, unverschämte Lügen, und affektirte Todtenklage enthalten.

Ich habe den ganzen Unfug mitgemacht, welches mir Gott verzeihe.15

Wenn ich all diesen vielseitigen Geschäften, wozu noch der Umgang mit Künstlern von aller Art – Mahlern, Bildhauern, Maschinisten, Gärtnern, Baumeistern, Tänzern – kam, die meinen Enthusiasmus für die schönen Künste[150] mit Oel nährten; ja wenn ich all diesen Geschäften in gehöriger Ordnung obgelegen wäre; so hätte Ludwigsburg ein sehr geseegneter Aufenthalt für mich werden können. – Aber so rannt' ich in diesem Strahlenkreise, gleich einem Wüthenden herum, und verlor nicht selten im trunkenen Gefühl des Schönen – die Ueberlegung.

Kein Mensch verstand die Kunst zu leben, weniger als ich. Klugheit war eine Tugend, nach der ich nicht einmal strebte, weil ich sie meist mit der schurkischen Schlauheit verwechselte. Ohne Falsch, wie die Tauben war ich wohl – vielleicht auch aus Bequemlichkeit, denn Verstellung kostet Mühe – von der Schlangenklugheit aber wußt' ich ganz und gar nichts. So leicht wie ich, hat es daher noch Niemand seinen Feinden gemacht. Ich gieng am hohen lichten Mittag in ihre Falle; denn weil ich ohne Tüke und Verstellung war; so ahndete ich sie auch nicht bei andern. Nicht als wenn ich mich damit entschuldigen wollte; denn nach meinen jezigen Grundsäzen, ist der, der an der lichten Sonne die Fakel schwingt und Häuser anstekt, eben so wohl Mordbrenner, als der es im Finstern thut;[151] nur kan man sich vor jenem, als einem Rasenden, leichter hüten, als vor diesem. Lasterhafte mit und ohne Maske, sind beede gleich verabscheuungswürdig. Leichtsinn und Gedankenlosigkeit waren die gauklenden Dämonen die mich in's Verderben stürzten. Auf meiner Waage wog Berg und Staub gleich viel. Gedanken gliedweis anzureihen und sie so lange zu verfolgen, bis die Seele am lezten Ringe stuzt, war mir zu lästig, zu mühsam. Was ich nicht wie der Bliz ergreifen und durchdringen konnte, das ließ ich liegen. Ich wollte nur empfinden, nur in Rosen und Zimmetdüften, wie Tiber in seinem Baade zu Capräa, schwimmen, Nektar saugen und in wollüstigen epileptischen Entzükungen hinschmachten. Laidions Seele war damals die Meinige. Die Menschen wog' ich nicht nach ihrem Stande, sondern nach ihrem Geschmak ab. Da ich häufig bei einem Handwerksmann richtigeres Gefühl antraf, als beim Manne vornehmer Erziehung; so verwechselte ich öfters die Tafel des Grafen mit der Weinschenke. Heute fuhr' ich in der Kutsche eines Hofmannes, und morgen gieng' ich mit einem[152] Schumacher aufs Land hinaus. Ich war keinem Menschen feind, ob ich gleich manchen mit meinem Wiz nekte. Ich vergaß Wohlthaten, die ich empfieng, und die ich austheilte; damit zog ich mir den bittern Vorwurf der Undankbarkeit zu; ob ich ihn gleich nicht verdiente. Ich schäzte kein Geschenk so hoch, daß es wichtig genug wäre, mich ewig zum Sklaven der Pflicht zu machen. Ich selbst gab willig, schnell, wandte mich und erwartete keinen schallenden Wortdank. Liebe für Liebe; das wollt' ich. Gegen Beleidigungen war ich wohl empfindlich, aber nur augenbliklich, daher war mir nichts leichter, als Feinden zu verzeihen. Meine Urtheile waren äuserst kühn, stark, meist wahr, aber verwegen; schadeten mir daher mehr, als meine sonstige Ausschweifungen. Wein und Weiber waren die Skylla und Charybdis, die mich wechselsweise in ihren Strudeln wirbelten.

Der Umgang mit Musikern, die meist eben so dachten, tauchte mein Herz immer tiefer in den Schlamm des Beispiels. Lavater hat angemerkt, daß die grosen Tonkünstler in ihrer Phisiognomie meist einen Zug der Liederlichkeit[153] haben. Eine sehr alte Bemerkung. Schon Athenäus schreibt:


Dii musicis nunquam mentem inseruere

Sed simul ac flarint, avolat illico mens.


Gott gab den Musikern Klugheit mit karger Hand,

Mit jedem Hauch und Strich verfliegt auch ihr Verstand.


Und nichts ist erniedrigender, als der Artikel im sächsischen Landrechte: »Spielleute16 sind rechtlos.« – »Spielleuten« sagt der alte deutsche Gesezgeber, »gibt man zur Buße den Schatten eines Mannes, so gering achtet man sie, daß sie kaum als Menschen angesehen werden,« »das macht, sie sind liederlich, und machen liederlich,« sezt der Glossator hinzu. Nicht die Tonkunst, sondern der Tonkünstler[154] hat diese leidige Bemerkung veranlaßt; – denn noch immer sind sittige, fromme und gottesfürchtige Tonkünstler eine ausserordentliche Seltenheit. Schwelgerei, Wollust, Künstlerstolz, eitler Prunk, sind die Huren, denen sie meist ihr Leben hinopfern und ein wieherndes bravo, bravissimo! mit lautem Händeklatschen begleitet, soll das Wimmern ihres erwachenden Gewissens betäuben. Daher haben die meisten Virtuosen – es gibt Gottlob! auch Gluke, Bache und Raffe17 unter ihnen – nicht einen Schatten von Religion. Friß, sauf, lieble, sing', geig' und pfeif' – nach dem Tod ist alles aus, scheint die Moral zu seyn, nach der die meisten taumeln. Sind nicht die Kapellen meistens eine Gesellschaft, wo Partheigeist, Virtuosenneid, Mangel beim Ueberfluß, Schlemmen, Huren, und frühes Siechthum, die Mitglieder mit Feuergeisseln[155] zerfleischt? – O ihr Söhne des Wohllauts, – verzeiht's einem alten Freunde von euch, wenn er euch frägt: wann wollt ihr einsehen, daß ein gestimmtes Herz mehr werth sei, als die süßesten Töne, die ihr euren Instrumenten entlokt! – Du aber, deutscher Leiersmann, nimm vom welschen Geiste was gut ist, und laß dem Welschen seine Makroni und – seine Laster!18

Mein steter Umgang mit deutschen und welschen Virtuosen war beständig Oelguß in mein ohnehin schon wild loderndes Feuer. Ich wurde immer kalter gegen Tugend und Religion, las Freigeister, Religionsspötter, Sittenverächter, und Bordelscribenten – – und theilte – o meine gröste, heiseste, schwerste Sünde, – die mir Höllenqual im Kerker machte – theilte das Gift wieder mit, das ich einsog.[156] Spöttereien und Zoten wurden mir daher so geläufig, daß ich sie oft, wie die Kröte ihren Schaum ausgurgelte, ohne es zu wissen. Ich stürzte von Schande in Schande, ward unverschämt, geil, träge zum Guten, froh daß ich die papierne Schanze des Unglaubens zur Bedekung meiner Ausschweifungen aufwerfen konnte, erstikte sogar das Menschengefühl, ward ein Rebell, der sich γυμνῆ κεφαλῆ, mit hohem Haupte, gegen alles Heilige empörte und endlich, mit allen meinen schönen Gaben, mir und meinen Freunden zur Last wurde. Zilling ermahnte mich oft mit triftigen Gründen, umzukehren, und da es nichts half: so exkommunizirte er mich, wie billig. Ich spottete über ihn, und lebte wie zuvor. Meine Eltern und Freunde schrieben mir; aber ich warf ihre Briefe ungelesen weg. Schändliche Krankheiten, die ich mir – und – falle Deke der Nacht und verbirg meine Greuel und meine Schande!! – Mein Weib versank in düstre Schwermuth, weinte, seufzte stumm gen Himmel; ihr redlicher Vater hohlte sie und meine Kinder ab und vergoß bittre Thränen – »Warum soll[157] Ein Mensch mehre unglüklich machen?« seufzte mein Weib. – O Gott hat euch gerochen ihr Lieben! Eure Seufzer und Thränen stiegen gen Himmel und kamen wie Schwefeltropfen auf mein Haupt zurük. –

Wer sollte glauben, daß unter allen diesen Stürmen mein Gewissen doch niemals entschlummerte! Es war nur betäubt, und bei mehr als Einem Anlaß stand es auf in mir und gab mir einen Richterblik, der schneller als der Bliz – und brennender und flammender – gleich einem Pfeile von Gottes Sehne abgeschossen – durch meine Seele flog. Ich erinnere mich noch, daß ich einmal mitten in der Nacht, mit diesem Flammenpfeile im Herzen, im diksten Dunkel einer Allee gieng, und heulend gen Himmel schrie: »Richter donnere mich nieder, oder erbarme dich meiner!« In einer solchen qualvollen Stunde schrieb ich einmal das Bekenntniß nieder, welches hernach Haug in einem meiner Bücher fand, es zu sich stekte, und als ich gefangen wurde, allenthalben bekannt machte. Wenn es einem einigen Menschen die Lehre geprediget hat, wie tief Sittenlosigkeit und[158] Gottesvergessenheit die Seele stürzt; so acht' ich nicht der damit verknüpften Schmach, und Haug hat ein gutes Werk gethan. Dieser bidre Mann, der aus der damals so angestekten Luft ohne Pestbeule davonkam, hat mir manche weise Lehre zugeflüstert und zugeschrieben, und meinetwegen so viele Vorwürfe erdulden müßen, daß ich es noch beklage und Gott bitte, er wolle es ihm vergüten. – O wie wahr ist es, was Leß so nachdrüklich predigt, daß das Laster die größte Beleidigung des Menschen sei – wir sind es unserm Nebenmenschen schuldig, tugendhaft zu seyn – und in dieses Geklüft von Beleidigungen stürzte mich größtentheils Megäre Wollust, nachdem sie Zug vor Zug den Menschen aus mir bildete, den, wo mir recht ist, Gregorius von Nyssa so scheußlich zeichnet.

Hominibus piis, (sagt er, denn ich mag's nicht übersezen,) fornicator est in ædibus fugiendus, in congressibus abominandus, contumelia appropinquantibus, inimicis opprobrium, cognatis probrum ac dedecus, iis qui simul habitant execrandus, dolor peccantibus,[159] familiæ publicum ludibrium, vicinis ridicula narratio, si velit uxorem ducere rejiciendus.

Merkt diß ihr Jünglinge, und lernt, wie der alte Soldat Nicetas, wenn ihr euch nicht anders wehren könnt, eure Zunge abbeißen, und sie der Hure ins Angesicht speien!19

Meine Vorgesezten waren meiner müde, und ergriefen die nächste Gelegenheit, mich wegzuschaffen. Ein verdächtiger Umgang mit einem Mädchen, gab ihnen bald Anlaß, mich vor Gericht zu fordern, und ins Gefangniß zu werfen. Mein einziger lieber Sohn war eben damals tödtlich krank. Mein Weib – denn sie war wieder von Geißlingen zurükgekommen[160] und betete stillseufzend zu Gott um meine Bekehrung – schmachtete an seinem Bette, als ich wie der gemeinste Missethäter in Thurm, und zwar in eben das Gefängniß geworfen wurde, in dem vorher ein Mörder lag, den ich erst vor wenig Tagen hinrichten und seinen Kopf auf den Pfahl steken sah.

Wasser, Brod, Kälte und faules Stroh, Stank und Ungeziefer fand' ich hier zur Pflege – ein kleines Bild von dem Zustande in welchen der unbekehrte Lüstling nach dem Tode stürzt! – Rechts tobte eine Rasende; links rasselte ein Dieb mit seinen Ketten, und unter mir sangen, heulten, fluchten und weinten die eingefangenen[161] Huren, die damals Ludwigsburg zu einem wahren deutschen Lampsak machten.

Meine Freunde von der musikalischen Klasse, nebst einem sehr dankbaren Schüler von mir, wagten ihr Leben, stiegen auf eine alte, halbverfallene, ganz schmale Gartenmauer und reichten mir an einer Stange Wein und Speise, die ich durchs Eisengitter an mich zog. Die Weinflasche ließ mir keine Zeit zu langen melancholischen Untersuchungen über meinen Zustand, ich trank, bis ich aufs faule Stroh sank und entschlief. Als ich meine Freiheit erhielt; so kroch mir mein Herzenssohn – der nach ausgestandner schwerer Krankheit seine ersten Schritte versuchte, entgegen, hielt sich am Tische und bewillkommte mich mit einem herzschneidenden »Papa, Papa!« – Mein Weib zeigte ihr liebedurchdrungenes Herz auf die rührendeste Art; sie verzieh mir, schloß mich mit Thränen in ihre Arme und flehte, durch vorsichtige Tugend mich und sie vor dergleichen bittern Ahndungen zu bewahren. Ich versprach' es ihr, und nahm mirs auch wirklich in allem Ernst vor, Wort zu halten. In Ludwigsburg gränzte damals die Hölle[162] sehr nah' ans Paradies. Es war also eben so leicht, ein gottseliges Leben daselbst zu führen, als ein ruchloses. Man fand hier nicht blos Sistem- oder Modetheologen, sondern wahrhaftige Jünger Christus. Man fand da strenge Orthodoxen, mehr Posaunen aus Horebs Wetternacht, als sanfte Verkünder der guten Bothschaft, deren frommen Ernst ich oft für beleidigendes Hochherunterschauen und Liebe scheuchenden Stolz hielt. Denn da ich das Hellauf des Studenten im höchsten Grade besaß und jede Fessel des Zwangs wegzuschleudern gewohnt war; so haßt' ich alle Amtsgravität, alle sinnige Bedächtlichkeit, alles Zurükhalten, jede kalte Miene, jeden Hochblik. Damals gab es auch zu Ludwigsburg eine schöne Anzahl eifriger Christen, die man als Bengelianer, Kopfhanger, Muker – oder Pietisten verschrie. So himmelweit ich von diesen Leuten entfernt war, so konnt' ich sie doch ihres Wiederstandes gegen den Weltstrom und der Einfalt ihrer Sitten wegen, ungemein wohl leiden. Keiner unter ihnen allen schien durch Lehre und Leben den Sinn der Religion Jesus besser auszudrüken, als der damalige[163] Waisenpfarrer Bekh. Auch er ist nun eingegangen in seine Ruhe. – Welche Seeligkeit wird dein seyn, Jesusjünger!! Er war gelehrt und fromm, voll Einfalt und Liebe und nicht nur ein Freund der Brüder, sondern aller Menschen.

Ich habe hernach nur noch Einen Mann angetroffen, der mein Herz so mächtig ergrief, wie dieser. Sein Lächeln war das Lächeln eines Engels, aus seinem Auge leuchtete Friede mit Gott und Gewißheit seiner nahen Herrlichkeit. Viele hat er gerettet und zu Christus geführt. Der Mörder und Räuber, den wir unter dem Namen Sonnenwirthle von Ebersbach kennen, erinnerte sich noch im Kerker und auf der Blutbühne an dieses heiligen Mannes Lehren.


O Gott, wie kann das Glük erfreu'n,

Der Retter einer Seele seyn!! –


Er starb fast halb verklärt. Wenn ein Seraf sterben müßte; so läg' er so auf einer Sommerabendwolke – und entschlief'.

Mich dünkt, die Frommen gewöhnen sich einen so düstern Ernst an, der mit der Heiterkeit[164] der Lehre Jesu nicht übereinzustimmen scheint. Christenthum, oder welches eins ist, Licht von Gott, sollte nicht wölken, sondern aufhellen. Der Fromme sollt' also gegen die Unwiedergebornen nicht eine saure, verachtungäusernde, das zweiflende Weltkind verscheuchende – sondern wie Bekh, eine helle, lichte zutrauenerwekende Miene annehmen. So würde er weit mehr gewinnen, als er unter so trübseliger Gestalt gewinnen kan. Man soll, wie Jesus, auch dem ruchlosesten Menschen – zum Beispiel dem Judas, keine Verachtung merken, sondern ihn vielmehr sehen lassen, wie tief der Christ die Würde des Menschen – auch des gefallenen Menschen fühle. »Laßt uns zur Freundlichkeit gehen,« sprachen die Zeitgenossen Jesu, nach dem Zeugnisse des Papias, wenn sie zu Christo gehen und ihn hören wollten. Durch dieses Bezeugen gewann der Herr Zöllner und Huren, Starrköpfe und Windspiele, Farisäer und Saduzäer. – Und Dank sei es ihm! noch manche seiner Jünger athmen diesen Geist der Lieb' und Verträglichkeit. Erstgedachter Bekh ist ein solcher, noch mehr aber war es Prälat Oetinger[165] den ich einmal in einem Garten fand und mich in die Länge, stuzend über des Mannes Kenntniß und Geistesgröße, mit ihm unterhielt. Dieser so verschrieene, von wenigen gelesene, und den wenigsten verstandene große Mann, den man unter dem Kleide, das seine Herrlichkeit verdekt beinahe gänzlich verkennt, – ihn kennen nur, mit Klopstok zu reden:


– – – – »die wenigen Edlen,

Theuren, herzlichen Freunde des liebenswürdigen Mittlers,

Die mit dem kommenden Weltgerichte vertrauliche Seelen.«


Er wird erst von der bessern Nachwelt gehörig geschäzt und benuzt werden. Unter uns ist er jezo ein Vogel aus der fernsten Himmelszone, der sich nach Norden verschossen hat, und weder Luft, Nahrung noch Gesellschaft vor sich findet. Wir sind viel zu verdorben, solche Kraftmenschen ganz verstehen zu können. So tief ich im Schutt der Weltmeinungen stak, so verstekt mein angebohrnes Wahrheitsgefühl war: so empfand' ich doch die unwiderstehliche Einfalt und Hoheit[166] dieses Mannes, die sich durch Herablassung, Duldung und Bruderfreundlichkeit, im lieblichsten Lichte vor mir entfaltete, und meine Seele hatte gleichsam ein dunkles Vorgefühl von den Freuden, die dieser Mann künftig in ihr weken sollte.20 Ich zweifle, ob ein Land in der Welt ist, in dem es der Wahrheit suchenden Seele leichter wird, einen Führer zu finden, als das Würtembergische.[167]

Auch ich würde einen solchen Leiter gefunden haben, wenn ich ihn ernstlich hätte suchen wollen, und wenn es nicht Gott gefallen hätte, mich erst nach erlittenem Sturme wieder in diß Land zu werfen, um daselbst mir die Gelegenheit zu meiner Geistesüberzeugung anzubieten. Ein satirisches Lied, das ich um diese Zeit auf Veranlassung eines andern auf einen wichtigen Hofmann machte, noch mehr, eine Parodie der Littanei,21[168] die noch schlimmer gedeutet wurde, als sie gemacht war, bestimmte meine Vorgesezten, mir meinen Abschied zu geben und mir sogar das Land zu verbieten. Ich folgte diesem Befehl auf der Stelle, stürmte im Unsinn der Betäubung aus Ludwigsburg hinaus und hinterließ Weib und Kinder, von denen ich nicht einmal Abschied nahm, in den elendesten Umständen – der schwachen Barmherzigkeit weniger Edlen, noch mehr aber den beschimpfenden Vorwürfen meiner Feinde Preis gegeben. Mein eignes Vermogen womit ich in die Welt gieng, Bestand – aus einem Thaler.

Was mein Weib um diese Zeit ausstand, ist zu rührend, zu fürchterlich tragisch, als daß ich die Umstände davon ohne Peinigung meines Herzens wiederholen könnte. – Sie gieng nach Geißlingen in ihres Vaters Haus, und fand daselbst ein Lazareth, indem ihre Mutter und Brüder tödtlich krank lagen, pflegte sie, wurde selbst von gleicher Krankheit ergriffen, und wußte nicht, wohin mich mein Schiksal verschlagen hatte. Doch sie mag diß im Anhang zu meiner Lebensgeschichte selbst erzählen.

1

Doch man ist hierinnen nicht mehr so ekkel, wie so manche Lebensbeschreibung erweißt, die seit diesem herauskam.

2

Gluks Genius überflügelt den Jomellischen. Tiefe und Höhe, reine Harmonie, kühne Uebergänge, Neuheit in der Töne Gang und Verhalt, Gefühl für's Grose, Ausserordentliche, Shakespearische, karakterisiren unsern Gluk – und doch wird auch dieser kaum mehr genannt. O musikalische Eitelkeit! du bist unter allen die gröste!!

3

Ich hab' einen deutschen Text unterlegt, nach den Grundsäzen unsrer Kirche, um diß herrliche Stük auch für die Protestanten brauchbar zu machen.

4

Jomelli war überhaupt sehr billig. Ein Schmeichler tadelte einst in meiner Gegenwart die deutschen Tonmeister. »Schweigen sie,« sagte Jomelli mit zürnendem Blike, »ich habe sehr viel von Hasse und Graun gelernt.«

5

Noch immer macht nur Sachsen hierinnen eine Ausnahme: inzwischen lassen wir übrige phlegmatische Deutsche die schönsten Stimmen verderben.

6

Er besuchte mich nachher in Ulm – beinah in Bettlergestalt. Er hat den Kopf, die Launen und Kaprizen eines Künstlers in vollem Grade.

7

Sie sind auch noch in Wien, München – sonderlich hier allgemein beliebt.

8

Die Dirne hungert jezt in Warschau.

9

Selbst Vogler gestand mir, daß er vor Seb. Bach's Orgelfantasieen mit starrer Bewundrung verweile, und den Mann verehre, der so was Allgewaltiges spielen konnte.

10

Noch jezt ist der Stuttgarter musikalische Geschmak mehr welsch als deutsch.

11

Sie haben jezt grosse Musiker, Maler, Kupferstecher und Künstler aller Art, sind auch dazu weich genug geworden.

12

Man erlaube mir hier einen mit Thränen beträuften Roßmarinstengel auf das Grab des Obrist von Dedel zu pflanzen. Er war mehr als mein Gönner: er war mein innigster Freund, und erprobte seine Freundschaft gegen mich – in der Freiheit und im Kerker – auch gegen meine Familie durch die reichsten Ergüsse seines wohlwollenden Herzens. Zwei Tage vor seinem blutigen Tode besucht' ich ihn: er umarmte mich brünstig, sah gen Himmel, seufzte »o zum leztenmale!« – und bald darauf drükte er sich ein Terzerol an die Stirne, und erschoß sich – aus Lebenssattheit.

13

Mich wundert sehr, daß ich diesen treflichen Mann auf der Liste der grossen Männer nicht seht, die jezt an der neuen Verfassung ihres Vaterlandes arbeiten.

14

Diese beleidigende Gravität findet man nicht so in Deutschen Reichsstädten: denn da ist alles offen, gerade, gleich, deutsch, gutherzig. Am gravitätischen Wuste glitscht alle Vertraulichkeit ab.

15

Der Herzog von Würtemberg hat diesen Unfug abgethan; und man ließt nun keine Leichengedichte mehr, die ohne frischen Zwiebel an der Nase, keinem Menschen Wasser in die Augen bringen.

16

Zun selben Zeiten war der Name Virtuos, Konzertmeister etc. noch unbekannt. Was fidelte, blies und leierte, hies Spielmann. Mancher von den heutigen Kraftmännern verdiente keinen andern Namen, als diesen.

17

Gluk und Emanuel Bach – zwei Sonnen am Himmel der Harmonie – waren gottselige, für Religion begeisterte Männer; so wie der noch lebende grose Sänger Raff sich auch durch religioses Leben auszeichnet. –

18

Das meist unmoralische Leben der Kunstler hat doch auch einen philosophischen Grund. Wer von Jugend auf nur solche Künste treibt, die der Sinnlichkeit, dem Wize, der Fantasie das Uebergewicht über vernünftige Ueberlegung geben, wird zulezt ganz versinnlicht, eitel, wollüstig.

19

Die Deutschen zeichneten sich sonst, wie man schon im Tacitus bemerkt, vor allen Völkern durch strenge Keuschheit aus. Diß machte sie so stark, so ehern; lehrte sie Winfelds Schlacht schlagen und die sieben Hügel erschüttern. Aber jezt – o wie wenig wird mehr die goldne Keuschheit unter uns geschäzt! – Unsre wiedernatürliche französische Nachäfferei hat alle Leichtfertigkeiten unter uns eingeführt, unsre Lebensleuchte geschwächt, und uns so tief erniedrigt, daß wir über Hurerei und Ehebruch – nur lächeln. Ja, wir legen es recht darauf an, unsre Kinder schon frühe zu verderben; lehren sie schon früh Liederchen von Liebeln und Kußen beim Klavier singen, thun uns in ihrer Gesellschaft keinen Zwang an, und führen sie in die heillosesten Schauspiele, wo die sittenlosesten Ausschweifungen der Wollust, wo Meineid und Ehbruch, Entführung und Verderbung der Unschuld, blos Galanterie, Lebensart – ja sogar Aufklärung genennt wird. – Schrekliche Aussicht in die Zukunft! – »Auf den weichen Polstern der Wollust,« sagt Young, »sind schon manche Königreiche eingeschlafen;« wird es dir bas gehen, mein Vaterland??

20

Kein Mensch beweißt mehr, wie wenig es auf Weltschäzung ankomme, als dieser Oetinger. Die Kunstrichter behandelten ihn fast wie einen Verrükten, dem man, wie einer dieser kalten Männer sehr menschenfreundlich rieth, Schreiben und Predigen verbieten sollte. Und o wie werden es diese Leutlein bald mit Schreken erfahren, welch eine Gottesleuchte Oetinger war; und wie klein sie gegen ihn gewesen nach Geist, Wissen, Liebe und Glauben. In neuern Zeiten wird es schwerlich einen Mann geben, dessen Geist so vieles überblikte, der ein so ungeheures Ganzes in seiner Seele hatte, wie Oetinger. Er war in keiner Wissenschaft ein Fremdling und in vielen, wie zum Beispiel in der tiefen Theologie, oder Gottesweisheit, in der Naturlehre und Scheidungskunst, ein Meister. Mit dem grosen Engländer Flud, dessen Schriften wie ein Bergwerk voll Goldstufen unbenuzt da liegen, hatte er gar viel ähnliches. Er war ein Geistessonderling, der Mystik, Magie, und allem Ausserordentlichen ergeben. In den orientalischen Sprachen hatte er eine ganz ungewöhnliche Kenntniß; einige schrieb und sprach er. Kurz, er stand auf einer Sonnenhöhe, und Buben auf Erdschollen, standen auf den Zehen, strekten sich lächerlich und riefen ihm zu: »Du bist ein kleiner Mann! Ein verrükter Schwärmer bist du!« Ich wollte schon lange sein Leben schreiben; aber wenn ich an des Mannes Grösse hinaufsah; so entsank mir die Feder. Tief und scharf müßte sein Biograph bliken ins Ganze, über das sich nur Eine – aber ungeheure Riesenidee hinstrekt. – Der grose Oetinger starb den 12ten Februar 1782, zwei Jahre lang in Todesschweigen versunken.

21

Mir ist es noch jezt ein unbegreifliches Räthsel, wie man wegen dieser Littanei so gegen mich rumoren konnte. Man sprach vom Zungenausschneiden – Verbrennen – und doch war es nur – ein leichtes Wizspiel, ganz nicht so böse gemeint, wie man es dollmetschte.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Schubartߣs Leben und Gesinnungen. Erster Theil, Stuttgart 1791, S. 120-170.
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