Zweiter Period.

[19] Und so war ich nun in Nördlingen, siedlend in der niedrigen Hütte eines Chirurgen, Namens Seidel, eines gar bidern, rechtlichen und redseligen Mannes; bei karger Kost zufrieden, jung, gesund, wie ein lustiges Reh, hüpfend im Haine der Musen. Thilo war ein Mann von ungemeinen Gaben, und weitkreisender Gelehrsamkeit.1 Er war Philolog, Theolog, Weltweiser, Aesthetiker; und die Linien, die er zog, leitete er immer aus dem Punkte der Brauchbarkeit und Veredlung des Menschen her, den er niemals aus dem Gesichte verlohr. Einen Schulmann wie er, von dieser Methode, diesem pädagogischen Geiste, dieser Unterrichtslust[19] hab ich nie in meinem Leben angetroffen. Er empfand das Schöne selbst, zu dessen Gefühl er seine Zöglinge weken wollte, und leuchtete mit seinem Beispiele, das Fleiß, Ordnung, männlichen Ernst durch ungezwungnes Wohlwollen erheitert, und sonderlich tiefe Ehrfurcht vor Gott abstralte, all seinen Schülern, wie hernach seiner Gemeinde vor. Dieser deutsche Archytas war nun mein Lehrer; er liebte mich, weil er Gaben an mir bemerkte, und seinem ermunternden Unterrichte, sonderlich seiner feurigen Neigung für die Wissenschaften, die sich auch mir mittheilte, dank ich das meiste, was ich gelernt habe. Der Geist der Nacheiferung, der in seiner Schule, von seinem Odem angefacht, flammte, ergrief auch mich, und bald hatt' ich das Glük, einer seiner besten Schüler zu seyn. Damals war der enziklopädische Geist, der heutiges Tages so viel oberflächliche Vielwisser zeugt, noch nicht in die Schulen eingedrungen. Man trieb wenig, doch diß mit Ernst. Thilo war ein ekstatischer Verehrer von den Alten, sonderlich von den Römern; daher drang er sehr auf diß Studium.[20] In seiner Klasse sprach alles Latein, so gewaltig auch oft Priszian geohrfeigt wurde. Nebst den klassischen Schriftstellern machte mich Thilo auch mit den Dichtern meines Vaterlandes bekannt. Dieses erzeugte in mir eine Neigung zu der deutschen Dichtkunst, die, weil sie zu früh erwachte, mir mehr als in Einem Betrachte schädlich geworden. Ich laß und schrieb zwar schon mein Latein ziemlich fertig, und begann bereits aus dem Goldbache der Griechen zu schöpfen; aber war doch bei weitem noch nicht erstarkt genug, um ohne Gefahr bei den Ableitungen des griechischen Quells weilen zu dürfen.

Hätt' ich Israels Heerposaune; so würd ich bei dieser Stelle die Jünglinge meines Vaterlandes zusammenblasen, und sie, von irgend einem deutschen Hügel herab mahnen, ihre winzige, Geist und Herz verengende Leserei, ihre Romanen, Schauspiele, Romanzen, Gassenhauer, samt allen Kreuzertrompeten und Räthschen, die an Ostern und Michaelis, zu Frankfurt und Leipzig verkauft werden, weit von sich zu schleudern, und sich dafür mit dem[21] Geiste der Griechen und Römer vertraut zu machen. Unsre Originale lassen sich immer damit verbinden, dann deren sind ja nur wenige.2

Thilos Geschmak war derb und nahrhaft. Homer und Plato, Horaz und Cicero waren seine Lieblinge unter den Alten; und Klopstok, Bodmer, Haller, und der damals aufstrebende Wieland unter den Neuern, die er mir und meinen Mitschülern täglich empfahl.[22] Er selbst aber war nichts weniger als ein Muster. Das Schöne empfand er; konnt' es aber selbst nicht schaffen. Seine Schreibart war dumpf; er stellte Gedanken und Bilder ins Dunkle, und webte labirynthische Perioden, die die Lunge des gesundesten Lautlesers ermüdet hätten. Tiefsinn, Wahrheit und reiche Kenntnisse ersezten aber die meisten dieser Fehler.

Meine lateinischen und deutschen, poetischen und prosaischen Ausarbeitungen wurden meist von ihm mit Beifall gekrönt, und ausser einem Jünglinge, Namens Donauer, dessen Genius alles niederblizte, was sich ihm näherte, (auch du bist nun längst in Asche zerfallen, guter Jüngling) fand ich niemand, den ich nicht zu übertreffen, Kraft und Trieb hatte. In der Tonkunst hatt' ich gar keinen Miteiferer; war also ohne Uebung in dieser göttlichen Kunst, ausser mit einigen liederlichen Fidlers, die nur meine Sitten verderbten.3[23]

Religion – ich beklag' es, daß ich's sagen muß, wurde damals so kalt auf der Schule behandelt, daß mich und meine Mitschüler Ekel anwandelte, so oft wir eine todte Antwort auf eine lebendige Frage aus Hutters Kompendium geben mußten. War von klassischen Autoren, Philosophie, Geschichte, schönen Wissenschaften die Rede; so lebt' und webte alles in der Schule; giengs aber ans Christenthum; so fröstelte, gähnte, langweilte man. Und leider! fand ichs hernach in mehreren Schulen auch so. Die Seele des Christenthums, feine Herzbesserende Kraft blieb mir unbekannt. So lebt ich also, zaumlos als ein luftiger, sinnlicher, gedankenloser Jüngling mein Leben hin; dachte wenig an Gott, weniger an Jesus, selten ans Leben jenseits des Grabes, wenn nicht der Anblik meiner jungen[24] Freunde im Sarge zuweilen meine Empfindungen aufgeschrökt hatte. Da erwachten immer fromme Entschlüsse in mir; aber sie starben, wenn das Grab aufgeschaufelt und die Todtengloke verhallt war. Tief in meine Seele würkte das gottselige Beispiel des ehrwürdigen Superintendenten Maiers,4 dessen Herzensgebete ich oft in seinem Hauße mit anhörte, und dabei das erstemal, zwar nur dunkel, den Unterschied empfand, der zwischen Salbung und Naturkraft, zwischen dem einfältigen Gebethe des Christen und den Figuren und Tropen des Redners und Dichters statt findet. Doch die Eitelkeit hatte mich einmal in ihrem bunten Zirkel, und ich sollte den Thoren so lange mitmachen, biß ich, von Gott ergriffen, im Kerker die höhere Weisheit lernen würde.

Die geflügelte Fertigkeit, womit ich das[25] Clavier spielte, das Gefühl, mit dem ich sang und deklamirte, meine schöne Handschrift, und die immer heitere, in die äusserste Offenherzigkeit getauchte Laune, erwarben mir in Nördlingen manchen Freund, unter denen mir drei Jahre, wie eben so viel Rosenmonde wegschwanden.

O, daß man haschen und vest halten könnte, die Jahre der Jugend, wo sich alles kleidet ins Gewand der Freude, und wo wir im Spiele auf duftenden Grashügeln nicht hören die Klage, die unten im Grabthale verhallt!

Ich sezte in Nördlingen einige Sonaten aufs Klavier, und etliche fugirte Choräle; dichtete auch eine prosaisch poetische Nänie auf das fürchterliche Erdbeben vom ersten November 1755, das Lisboa hinunterschlang. Man hat es nachher in Schwabach gedrukt, und unerachtet der gräulichen Stelzenpoesie, doch Funken eines ächten Dichtertalents drinn bemerken wollen. Besser gelangen mir Volkslieder, wovon ich schon damals einige verfertigte, die noch heutiges Tages das Glük haben, auf[26] mancher Schneiderherberge gesungen zu werden.5

Z.B. In Schwaben war ein Baurenmädgen etc. – Als einst ein Schneider wandern sollt etc. – Gar früh erkannt ich des Dichters Pflicht – von oben herab, von unten herauf zu arbeiten.

1

Was ich von ihm sage, bestättigen die ersten Litteratoren der Welt – die allgemeine deutsche Bibliothek, und die Göttinger Aristarchen. Er schrieb immer verdekt, und wurde doch nie im Schleier verkannt. Es ist also zu wunschen, daß seine Schriften von einem sachkundigen Manne gesammelt werden.

2

Doch kan ich es nie mit den Pädagogen halten, die behaupten, man musse sich erst in alten Sprachen vest sezen, eh man das Deutsche kultivire; denn diß, wähnen sie, gebe sich selbst. Das Studium der Griechen und Römer, wenn es nicht dem Studium der vaterländischen Sprache untergeordnet ist, expatriirt gleichsam die Junglinge und ertödet die Vaterlandsliebe in ihnen, die doch nächst der Religion der erste Hebel aller großen Handlungen ist. Ich empfehle also den Jünglingen, die diß lesen, das Studium altdeutscher Schriften, und unsrer neuen Kernschriftsteller, eines Klopstoks, Herders, Lavaters, Göthe, Schillers, und anderer weniger, die den Donnerkeil der Sprache Tuiskons zu schwingen wissen; nicht aber die vielen Zeitmordenden Schreiberlein, die uns wie Müken umsummen. Dieses macht schwach, jenes stark.

3

Sonst sind die Nördlinger große Verehrer von der Tonkunst, sonderlich von der Kirchenmusik. Simon war ehmals daselbst ein durch ganz Deutschland berühmter Orgelspieler und Tonsezer, und jezt haben sie an Nopitsch wieder einen der gründlichsten und nachdruksvollsten Organisten, der mit reichen theoretischen Kenntnissen viel ausübende Kraft vereinigt.

4

Er war im Waisenhause zu Halle erzogen und noch ein Schüler Speners, dessen apostolischer Geist in den heutigen unapostolischen Zeiten ganz und gar verkannt wird.

5

Eh ich Nördlingen verlasse, muß ich meinen Lesern noch sagen, daß mein Schwager, der verdienstvolle Archidiakonus Bökh daselbst, nächstens eine Geschichte, dieser in manchem Betracht merkwürdigen Stadt herausgeben wird. Der Karakter der Nördlinger ist, bei unvermeidlicher reichsstädtischer Steifheit, doch seelengut, geräuschlos, mit wenigem zufrieden, stille, arbeitsam und zur Ordnung und Tugend, beinahe durch eine Naturanlage gestimt. Weder ihre Sprache noch ihre Sitten, haben das Starke und Rauhe der Aalemer. Vielleicht hat die Nähe einiger fürstlicher Höfe etwas zur Milde dieses Karakters beigetragen.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Schubartߣs Leben und Gesinnungen. Erster Theil, Stuttgart 1791, S. 19-28.
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