XIX.

[66] Ich war kaum in Ulm angelangt; so gieng ich zum dasigen Stadtamman Häkhel, der Taufpate meiner Kinder, und seit zehn Jahren mein unveränderlicher Freund war. Er ermunterte mich schon in Augsburg, als er von Wien zurükkam, wohin er nebst dem Baron Welser in wichtigen Angelegenheiten der Stadt abgesandt war, meinen Aufenthalt in Ulm zu nehmen, und versprach mir seinen vollen Schuz. Meine ersten Tage in Ulm waren eine beständige Todenfeier. Mein Vater war gestorben, noch da ich in Augsburg war. Das Schiksal seines erstgebornen Sohnes quetschte sein Herz, sonderlich da er geraume Zeit nicht wußte, wo mich mein Damon herumtrieb. Er faßte neue Hofnung, als er einige Blatter meiner Chronik erhielt, und gab sich alle[66] Mühe, ihr Leser in seiner Gegend zu verschaffen. Ein offner Schade am Fuße, der plözlich vertroknete, erinnerte ihn an seinen Tod, den er mit Gewisheit vorempfand. Er nahm auf der Kanzel den rührendsten Abschied von seiner Gemeinde, der er dreissig Jahre vorgestanden hatte, gieng heim, und legte sich aufs Sterbebett. Er hielt die schmerzhaftesten Schnitte der Wundärzte in sein krankes Bein mit ächtem Heldenmut aus, und machte sich auf seinen Tod, wie auf eine Hochzeit gefaßt. Sein Vertrauen auf Gott gränzte dicht an den Wunderglauben. »Ich hinterlasse dir nichts,« sagte er zu meiner schluchzenden Mutter; »aber dir wird nichts gebrechen. Gott wird dich versorgen, und du wirst an meiner Seite einst ruhen!« – Der Gedanke an mich versenkte ihn oft in tiefes schwermütiges Nachdenken. Aber kurz vor seinem Tode richtete er sich auf, strekte die Hände betend gen Himmel, und sprach weinend: »Ach Herr Jesu, verlaß meinen Christian nicht,[67] kannst du ihn nicht im Guten gewinnen; so gewinn ihn durch Elend!« Mit diesen Worten sank er zurük und segnete mich, indem er mit der Hand drei Kreuze in die Luft machte. – Man mußte drauf die Vorhänge vorziehen, weil er ungesehen sterben wollte. Man fand ihn todt – mit entblößtem Haupt, die Hände über seiner Schlafmüze gefalten. – »Geist meines Vaters, wo du auch schwebst – kannst du, so blik nieder auf deinen armen Sohn, der die heisse Thräne der Buße weint, die du ihm von deinem Erlöser erfleht hast! – Dort vor dem Angesicht des niederschauenden Himmels will ich dir den tausendfältigen Kummer abbitten, den dir mein Unsinn, mein wildes Leben zuzog!« –

Noch floßen meine Thränen, und ich besang den Tod des Kassier Hakhels, der ein Vater meines Gönners und Freundes des Stadtammans war. In dem Hause des leztern bedekte ich die Wunden meiner Seele,[68] wiewohl ganz leise. Aber sie wurden aufgerissen, weit aufgerissen, als dieser mein Freund vier Wochen nach dem Tode seines Vaters, in der Blüte seines Alters nach wenigen kranken Tagen wegstarb, und seinen ganzen Stamm, und heitere Aussichten in dieß Leben mit sich verscharren ließ. – Kein Wetter Gottes stürzt betäubender nieder, als dieser plözliche Schlag auf mich niederstürzte. Todesfälle meiner Freunde machten von jeher gewaltige Einschnitte in mein Herz. Ich konnte nie einen Leichenzug, noch weniger ein offnes Grab und den hinabsinkenden Sarg sehen, ohne zu stuzzen, ohne mir mit geheimer Angst selbst zu sagen: »So gehts dir auch! und wie hernach?« – Ich sang das Todenlied meines Freundes, verfertigte seine Grabschrift, und schrieb sie mit eigner Hand auf den Marmor – und nun schlaf wohl Häkhel!

»Wohl dir, daß du gestorben bist!«

Mit diesen schwermütigen Empfindungen,[69] die mich wie in Leichengeruch einhüllten, fuhr ich nach Geißlingen, um nach zwei Jahren meine Gattin wieder zu sehen. Ich trat ins melancholische Zimmer, wo sie kränkelnd beim Nähpulte saß, und Wünsche für meine Wohlfart träumte. Sie fuhr auf, als sie mich sah, strekte die verlangenden Arme nach mir aus, und verstummte, bleich wie eine Leiche. »Da hast du deinen Herumschwärmer!« sagt' ich und warf mich in Sessel: »O 's ist gut, daß du nur da bist!« erwiederte Sie im zärtlichsten Ton der Liebe. Sie weinte, und ich saß wie ein Stok, gegen Donner und Regen abgehärtet. – »Willst du mit mir? sag's, ich bin nun in Ulm. Der Sturm hat mich auch aus Augsburg geiagt. Was ich hab' ist dein!« – »O ia ich will mit dir, und nur der Tod soll uns zum zweitenmal scheiden.« Sie führte meine Kinder hexen. »Nun dürft ihr nimmer mit eures Vaters Porträt reden, da ist er selber!« – »O Papa, Papa!« – zitterten[70] mir die Stimmen der Unschuld entgegen. – Gerechter Gott, wie kannst du einem Unwürdigen, einem Empörer ein so, zärtliches Weib, und so unschuldige Kinder anvertrauen? – war's etwa zu meinem Gerichte? – Ha, zu meinem Gerichte?! –

Ich gieng nun zu meinem redlichen Schwiegervater, der zwar etwas kalt that, aber im Herzen so heiß für mich fühlte, als wär ich nie ein Verbrecher gewesen. »Nun willst du Frieden suchen mit Gott, und aller Welt!« Das wars, was ich tief in der Seele dachte, schwur, – und nicht hielt; denn ich war viel zu weit von Gott entfernt, als daß die Annäherung zu ihm so geschwind hätte vor sich gehen können. Weib und Kinder zogen mir nach, und vom Augenblik der Wiedervereinigung mit meiner Familie begann eine gewisse Ruhe und Stille meines Herzens, die ich seit vielen Jahren nicht empfunden hatte. Mein Weib[71] war Anfangs kränklich, erholte sich aber gar bald zu meinem innigsten Vergnügen. Ihre Zufriedenheit wuchs um ein merkliches, als wir eigne Wohnung mietheten, und bei der genauen Wirtschaft meiner Gattin ziemlich wohl fortkamen. Ich hatte monatlich dreisig Gulden für meine Chronik, und einige, wiewol nicht grosse Nebenverdienste durch Gelegenheitsgedichte, und andere Arbeiten. Denn Ulm ist für einen privatisirenden Gelehrten keine so reiche Fundgrube wie Augsburg.

Mein Sohn, der schon einige Zeit bei mir in Augsburg zubrachte, gieng nun in das Ulmische Gymnasium, das unter der Aufsicht des berühmten Rektor Millers noch immer viel Gutes hatte. Ausserdem hielt ich ihm auch Privatlehrer, und sah mit Vaterfreude der Entwiklung seiner Anlagen zu. Meine Tochter, ein naives Mädchen, von vieler Empfindung, zeigte eine schöne Anlage zum Singen, und machte mir[72] und andern beim Klavier tausend Freuden. Und nun drängten sich neue Bekanntschaften zu mir, worunter ich einige auslas, die Simpsichie und Simpathie mit mir verrieten, und die ich auch bis ans Ende beibehielt.

Der Karakter der Ulmischen Reichsstädter ist viel derber und freier, als der Augsburgische. Da sie den Zaum der Parität nicht fühlen; so tummeln sie sich weit freier und mutiger auf ihrem Gemeinplaze herum. Auch ist hier – vielleicht aus eben der Ursache – Lektür und guter Geschmak viel ausgebreiteter, als in Augsburg. Wenn mich Fremdlinge besuchten, und ich sie unter meinen Freunden aufführte; so sah ich oft mit Vergnügen das Erstaunen ihren Blik weitern, wenn sie unter einer diken Tabakswolke beim Bierkruge Leute in einfältiger Kleidung fanden, die über die wichtigsten Gegenstände der Litteratur mit Scharfsinn und Geschmak zu sprechen wußten. Nur muß man sich[73] über eine gewiße Roheit der Sitten hinwegsezen, die in Ulm auch den Studierten anhängt, weil es ihnen meist an guter Erziehung fehlte. Die dasigen Studenten sind gröstentheils schon reif, eh' sie die Universität beziehen, und was das wundersamste ist, sie bilden sich meistens selber durch Lektür und Umgang. Ihr Zustand ist zu beklagen, denn unter dem beständigen nothgedrungenen Informiren, bleiben ihnen kaum Fragmente von Minuten zum Privatstudium übrig. Sie sind mehrentheils schon bejahrt, wenn sie ins Amt und in Ehstand treten. Inzwischen bezeugen es doch die Beispiele eines Doktor Millers, Abbts, Häberlins, Friks, Mr. Millers und andrer, daß Ulm schon manchen Sprößling in den deutschen Eichenhain verpflanzt habe, der zum Theil noch da steht, und in Stamm, Ast und Wipfel schwillt. – Für die Künste scheint zwar Ulm ein Grab zu seyn, doch sind noch Augen und Ohren für selbige da. Der Musikdirektor Martin besaß Eifer und Geschik für[74] die Tonkunst; er führte die besten und neusten Stüke auf, so gut er's in seiner eingeschränkten Lage vermochte. Man liebt hier mehr schwerfällige Harmonie, als leichte geflügelte Melodie; daher würde die Kirchenmusik ihr Glük hier vor andern machen. Der Choralgesang in den Hallen des majestätischen Münsters hat eine Feierlichkeit, eine Würde, die das kälteste Herz erschüttert. Die Orgel im Münster ist eine der besten in Deutschland, von ungemein dikem und wie Glokenhall durchschlagendem Tone. Die Pedalregister sind ein Grund, der die Fluthen des festlichsten Gesangs mächtig trägt und hebt. Donz und Benda versehen hier die Figuralmusik meist ohne Würkung, denn die Gemeinde geht, so bald diese beginnt. Schlechte Kraft einer Tonkunst, die den Hörer nicht bei der Brust fassen, und zum Hören und Fühlen zwingen kann ... Um die Zeit der Kreisversammlung lassen sich gemeiniglich reisende Virtuosen hier hören, worunter der große Violonzellist Jäger zu meiner Zeit die Palme erhielt. –[75] Die dasigen Buchhändler sind für einen Journalisten, wie ich war, ein reicher, nie versiegender Quell zu seiner und seiner Leser Unterhaltung. Rauchend, wie sie die Presse verlassen, sind hier die Schriften zu finden; auch wird manches gute Buch, von Ausländern und Einheimischen verfertigt, hier verlegt, und in der stattlichen Wagnerischen Drukerei gedrukt. Die Zensur ist hier so frei, als an einem Ort in Deutschland. Daher können auch im Stillen manche Schriften vom kühnsten Tone in den dortigen Drukereien gedrukt werden. –

Die Lebensart in Ulm ist meist ganz einfältig, und ohne allen Zwang. Die Komplimentir- und Rangsucht, die dem Ausländer so lächerlich auffallt, ist doch nichts mehr, als Schleife an einem sehr einfältigen Roke. Wer die gewöhnlichen Titulaturen einmal inne und sie beim Willkomm und dem ersten Kelchglase angebracht hat, der ist hernach von allem übrigen Zeremoniel los,[76] und darf thun und schwazen was er will. Die Wirthshäuser in- und außer der Stadt, sind allgemeine Versammlungspläze, wo man Patrizier, Priester, Kaufleute, Soldaten, Bürger und Studenten, Handwerkspursche und Bauern oft im buntesten Kartengemisch durcheinander antrift. Man verargt es den Geistlichen, daß sie in öffentliche Wirthshäuser gehen; und in der That wäre es baß, sie blieben davon weg. Allein die dortige Geistlichkeit hat sich zu einem gewißen Tone der Ehrbarkeit gestimmt, die im Weinhaus eben so wenig ärgerlich ist, als in der Sakristei. Etwas auffallender ist es, daß die dasigen Kandidaten der Theologie am hohen Mittag ihre Mädchens mit herumschleppen, sie auf Spaziergänge und Tanzsale führen und beinahe mit ihnen hausen, als wenn sie schon Mann und Weib waren. Allein oekonomische Ursachen, und die späte Bedienung der Kandidaten entschuldigen einigermaßen diese Dissonanz. –[77] Die politische Verfassung dieser ehrwürdigen alten Reichsstadt war zu meiner Zeit schon sehr zerrüttet. – Ich hörte manche patriotische Klage laut genug aufschallen; aber das Verderben schien so tief zu sizen, daß die vorhabende Kur, nach den Zeugnissen der weisesten Staatsärzte, blos palliativ war. Die Verzweiflung hatte schon die schrekliche Maxime ausgeboren, die der Enkel dereinst verfluchen wird: »wenns nur geht, so lang ich noch lebe!« Hätten unsere Ahnherrn so gedacht; wo wären wir? O verdorbene, unermeßlich verdorbene Nachwelt! Entweder gibts keine Nachwelt mehr, oder Gott muß den verpesteten Klumpen durcheinander werfen, und aus den Steinen wieder Kinder erweken! – Wer die Ulmer Bürger kennt, wie ich sie kenne, ihr gerades, freisinniges, biderbes Wesen, ihren muthigen Ton, ihr treffendes, wie ein Pfeil aus der Brust fliegendes Urteil, ihre heitere Laune, ihr steifes Halten auf Ehr' und alte Sitte; der muß es mit Tränen[78] beklagen, daß das Wort Bürger unter den Offizianten der Stadt bereits eine verächtliche Bedeutung gewonnen hat. Afsprung, ein Mann von treflichen Talenten, der zur Schande seiner Vaterstadt auswandern mußte, nennt sich in seinen Schriften noch mit Stolz einen Ulmer Bürger, wie Rousseau sich einen Bürger von Genf. nennt. Aber dieß stolze republikanische Gefühl ist nun in den meisten Ulmern verloschen: sie kriechen, schmeicheln, bestechen, bis sie Aemter haben; dann nagen sie an ihrem Knochen und lassen die Grundveste ihrer öffentlichen Freiheit zusammenkrachen, so laut sie will. – Diese Wahrheit brannte mir oft im Innersten, denn ich war dieser Stadt herzlich gut, und hätte ihr gerne ewigen Wohlstand gewünscht. Denn in der That war ich auf meiner Wanderschaft nie zufriedener und ruhiger, als hier, obgleich mein stürmisches Temperament mich auch hier in tausend Unruhen zog.[79]

Ich hatte einige Freunde, die vollkommen nach meinem Sinn waren. Miller, Siegwarts Schöpfer, einer der Lieblinge unsers Volks, war beinahe das tägliche Brod für mein Herz. Wer Millers Schriften mit Vergnügen liest – und wer sollt' es nicht? – der wird noch angenehmer überrascht, wenn er diesen Schriftsteller von Person kennen lernt. Und nichts ist leichter als dieß: Darfst nur einen Tropfen Herzblut in der Miene zeigen; so geht dir die edle Seele schon entgegen, und bietet dir Brüderschaft an. In keinem Menschen hab' ich die heterogenen Eigenschaften: – Zärtlichkeit und Mut, Liebe zum Guten und Schönen, und zürnenden Haß gegen das Böse, und Verzerrte aller Art; Freigebigkeit und weise Häußlichkeit; Höflichkeit und kalte Verachtung; Fleis und klugen Gebrauch der Ergözlichkeiten des Lebens; äußerliche Stille und inneres tiefes Brüten; Barmherzigkeit und Strenge – feiner gemischt, schattirt, verflößt angetroffen, als[80] in diesem Manne. Er ist fähig, für seinen Freund zu bluten, und seinen Nebenbuhler zu ermorden. Er liebt sein Vaterland mit Wärme, fühlt die Ehre des wahren Beifalls, korrespondirt mit mehrern unsrer grösten Männer, trägt große Plane zur Veredlung seiner Nation im Herzen, zürnt aller übertriebenen Verfeinerung, Nachäffung fremder Sitte, kleinjüngferlicher Empfindsamkeit, und der krummen oder steifen, priesterlichen oder profanen, lichtscheuen oder frechen Schurkerei. Mit einem Worte, alles strebt in ihm zur stillen Größ' empor, die nur derienige ganz verstehen kann, der selbst große Anlagen hat. Ein gemeines Auge sieht in der schönen Seele nur einzelne Lichtblike, wo hingegen das gesalbte Auge das ganze innerliche Lichtbild erblikt. Ich weiß einige Herzensthaten von Millern, die viel schöner sind, als sein Siegwart, und die es hinlanglich beweisen, daß ein guter Schriftsteller auch ein eben so guter Mensch seyn könne. Millers Umgang hat[81] mir sehr viel genüzt. Er zog mich von manchen ausschweifenden Gesellschaften mit brüderlicher Hand zurük, lehrte mich die Tugend durch sein Beispiel schäzen, machte mich wieder aufmerksam auf die christliche Religion, die ich beinahe aufgegeben hatte; erleichterte mir die Urteile über die mannichfaltigen Gegenstände meiner Chronik, und schuf mir auf Spaziergangen manchen so seligen Augenblik, daß mich damals schon Vorgefühle meiner jezigen Ueberzeugung wie Himmelsträume durchschauerten. – »Schubart, du hast keine Grundsäze!« sagte oft Miller zu mir, »und kannst deine Existenz kaum fühlen, sie mag froh oder traurig seyn! Werd' ein Christ; so ist dir's wohl. Ich kann auf manche Einwendungen gegen das Christentum nicht antworten, aber ich fühl' es doch tief, daß Jesus mein Herr ist.« – Ich nahm mir auch ernstlich vor, einmal das Christentum ernstlich zu untersuchen, meine Ausschweifungen gänzlich abzustellen, und soviel mir nur möglich ware,[82] das Tirannenjoch böser Gewohnheiten vom Hals zu schütteln. Aber es schien mir noch immer zu früh, und zum Theil hatt' ich noch viel zu viel Anlässe, mich in die Welt zu stürzen, und ihres Gifts noch mehr einzuschluken, ungeachtet ich schon dikvoll war.

Meine Chronik und mein musikalisches Talent hatten mich allenthalben bekannt gemacht. Wer nach Ulm kam, Edler und Unedler, Gelehrter und Laie, Künstler und Kaufmann besuchte mich, oder nahm mich mit sich in sein Gasthaus, um mir zu Ehren ein Bachanal anzustellen. Durch solche Ausschweifungen zerstört' ich nicht nur meine ohnehin wankende Gesundheit, sondern machte mich auch unfähig, mit immer gleicher Laune und Geistesgegenwart meine Chronik zu schreiben, wie es doch die Ehrfurcht für ein so ansehnlich gewordnes Publikum erfordert hätte. Ich habe seither oft im Kerker über die großen Verpflichtungen nachgedacht, die einem Schriftsteller obliegen, und es[83] herzlich bereut, daß ich sie manchmal so schlecht beobachtet habe. Ein Autorkatechismus von einem guten Kopfe, wäre in der That für unser Publikum zu wünschen, wo so manche Schriftstellerbuben auftreten, die mit unbegreiflichem Leichtsinn alle gesunde Moral unter die Füsse rollen. Du sollst das verstehen, tief und lang gewälzt und durchgedacht haben, was du schreibst! Gottes Ehre und deiner Brüder Heil soll dein erster Zwek seyn! Beifall soll dich weder stolz noch nachläßig machen! Du sollst deinen Bruder nicht mit liebloser Kritik beleidigen! – Gott, der unnüze Worte, nur in die Luft hinein gesprochen, wagt, und richtet, wird unnüze geschriebene Worte, die in tausend Abdrüken von zehntausenden gelesen werden, noch weit schwerer richten!! – O wer bedenkt dieß, wenn er die Feder ansezt; wer hat Mut und Verläugnung genug, den schönsten wizigsten Einfall als einen Feuerpfeil des Teufels anzusehen, sobald er Religion, Tugend, fromme Sitte, oder einen frommen Menschen[84] lächerlich macht! Die Schriftstellersünden scheinen mir unter allen am lautesten gen Himmel zu schreien, denn sie verstummen auch nach dem Tode des Autors nicht. – –

Indessen wuchs doch der Beifall meiner Chronik von Woche zu Woche, und zog mir viele Freunde, aber auch eben so viele und oft sehr wichtige Feinde zu. Man fieng nun an, öffentliche Pasquille gegen mich herauszugeben, schändliche Kupferstiche auf mich zu machen, falsche beschimpfende Gerüchte in den Zeitungen von mir zu verbreiten, mir Briefe ohne Namen zuzuschreiben – mit dem blosen Epiphonema, das Göz von Verlichingen dem Trompeter zum Fenster hinaus warf; und mir unter der Hand, sonderlich in den benachbarten Katholischen Gegenden, aufzupassen, und den Tod zu schwören. Es ereignete sich unter diesem Woogengetümmel ein Zufall, der Schriften veranlaßt hätte, wenn er nicht in einer so phlegmatischen Gegend geschehen wäre. Ein[85] katholischer Jurist, Namens Nikel, hatte aus Begierde zu den Wissenschaften, wider die Gewohnheit seiner Landsleute in Tübingen studiert. Er war von Söflingen eine halbe Stunde von Ulm gebürtig; und da er von Tübingen zurükgekommen war, gieng er öfters nach Ulm, um die Bekanntschaft der dasigen Studenten zu suchen. Bei dieser Gelegenheit besuchte er auch mich. Er sprach sehr fertig Latein, und war überhaupt ein aufgewekter Kopf. Er verlangte ein Buch von mir, und ich gab ihm einen neuen sehr unschuldigen Roman. Von der Religion aber sprach ich nicht eine Silbe mit ihm. Der junge Mensch begieng nun die Unvorsichtigkeit, einige Voltärsche Maximen, die er vielleicht zu Tübingen gehört haben mochte, in einem katholischen Wirthshause heraus zu plaudern. Er ward angegeben, im Kloster Wiblingen ins scheußlichste Gefängnis gelegt, und – wie sein Urteil lautete – aus Gnaden und Barmherzigkeit, als ein Lästerer Gottes und der[86] Heiligen, enthauptet, verbrannt, und seine Asche auf die Iler gestreut! – Eine schrekliche Begebenheit, die nur im finstersten Winkel des katholischen Schwabens geschehen konnte! – Er war kaum todt, als man allenthalben ausstreute, ich wäre die Ursache seines Verderbens, weil man wußte, daß ich mit ihm gesprochen hatte, und weil man den erwähnten Roman, den seine Inquisitoren vielleicht für den Schemhamforasch gehalten haben, bei ihm fand. – Doch Gottlob! von dieser Sünde bin ich rein; – aber, o ihr seine Richter!


/ »Die Asche will nicht lassen ab,

Sie stäubt in allen Landen!«


Dieser Zufall kerkerte mich gleichsam in Ulm ein, weil man mir ein gleiches Schiksal drohte, und tausendmal dank' ich Gott, daß er mich nicht in die Hände dieser Bluthunde fallen ließ. – Doch alle diese bedenklichen Vorfalle, Drohungen, Warnungen von Freund und Feinden zugeschikt, machten dennoch meine Schreibart in der[87] Chronik nicht behutsamer: ich tastete vielmehr einen Gözen des katholischen Pöbels nach dem andern an. Pater Merz in Augsburg war ein solches Idol, dessen Kontroverspredigten voll Ehrfurcht verschlungen wurden, – ungefehr wie der Indianer den Koth des Dalai Lama verschlingt. Mich verdroß die Unverschämtheit dieses Klopffechters, womit er die grösten Männer der protestantischen Kirche, denen er an Genie und Gelehrsamkeit nicht die Schuhriemen lösen konnte, angrif, und im Eifer sogar Säze gegen die Bibel ausgeiferte, die man nur in Tolands Leviathan suchen sollte. Man kann seine Predigten nicht lesen, ohne einen Abscheu vor der Dialektik zu bekommen, die so geist- und herzlose Sophisten macht. Ich ergrif demnach fleißig die Gelegenheit, den Katholiken mündlich und schriftlich zu zeigen, welch ein lächerlicher Popanz ihr vergötterter Gladiator Merz in den Augen kluger Protestanten sei, und wie leicht es wäre, ihm zu antworten, und ihn in seiner[88] lächerlichen Zwerggestalt darzustellen, wenn die Protestantischen Theologen nicht weit wichtigere Kriege zu führen hätten. – Mein Ausfall auf diesen trübseligen Pater, zog mir einen neuen Hagelsturm von Beschimpfungen zu. Der Exjesuit Gugler schrieb ein Pasquill gegen mich, das mehrmals aufgelegt, und wie eine Heiligenlegende ausgesägt wurde. – Ich war so ruhig bei diesen Anfällen, daß ich die gegen mich herausgekommnen Schriften meinen Freunden in Ulm meist selbst vorlas, und mit ihnen herzlich drüber lachte. Doch entschloß ich mich, dem ganzen Streit durch eine Komödie im Geschmak des Aristophanes, oder Lenz ein Ende zu machen; die satirische Geißel so stark zu schwingen, als es mir möglich war; Gaßnern und seine ganze dunkle Genossenschaft wie auf den Pranger zu stellen; alle meine Gegner in Froschchören quaken zu lassen, und so die volle Rache meines Herzens an ihnen zu kühlen. Schon skizzirte ich dieß muthwillige Spiel, unter[89] dem Namen: Anna Oberhuberin, als mich der Gedanke wieder zurükriß, daß ich damit den Fürst Bischof von Ellwang, der erst kürzlich meine Mutter und Schwester versorgt hatte, vor den Kopf stoßen, und dadurch meiner eignen Familie schaden könnte. Ich schwieg also, und ließ über mich hinfahren, was da wollte. Wie gut dieser Entschluß gewesen, hab ich auch daraus schließen können, daß bald darauf meine Gegner öffentlich schwiegen, wiewol sie nie aufhörten, heimliche Plane zu meinem Verderben zu schmieden.

Ich besuchte um diese Zeit meinen Bökh in Nördlingen,1 und traf bei ihm meine liebe Mutter an, die ich schon seit mehr als zehn Jahren nicht gesehen hatte. – Sie bot mir die Hand, weinte und sprach:[90]

»Christian, du hast uns viel Sorgen gemacht –! Das Hauptbrett zu deines Vaters Sarg ist von dir!« – Ein Wort, das mir ins Herz sägte, und noch im Kerker Blut aus den Augen trieb. Meine Schwester, und mein Bökh empfiengen mich traulich, und trugen mehr Mitleid über mein unruhiges Schiksal, als Vorwürfe im Blik. Meinen Schwager fand ich noch immer dem einfältigen Entwurfe treu, den er sich gleich anfangs gemacht hatte: Gott und der Welt mit Redlichkeit zu dienen, und die Lüken seiner Zeit mit den Empfindungen der Freundschaft und des ehlichen Glüks auszufüllen. Er war damals der erste Arbeiter an dem so gemeinnüzigen Schulmagazin, und der nachherigen Bibliothek fürs Erziehungswesen. Man wird den Karakter seines Herzens allen seinen Arbeiten eingedrükt finden. Daher sind seine Kritiken über die neusten Schriften so brüderlichsanft, und schonend. Er rügt Fehler, und liebt den Autor. Ob es ihm gleich an Wiz und Laune nicht fehlt;[91] so scheint er doch beides abzulegen, wenn er eine Schrift beurtheilen soll. »Fehler des Verstandes müssen mit der möglichsten Nachsicht gerügt werden, aber Fehler des Herzens verdienen die Knute. Jenes thu ich; das andere überlasse ich Moskowitischen Schergen.« Diß ist die Maxime, die er oft im Munde führt, und wornach er handelt. Sein Freund, der Superintendent Lang zu Trochtelfingen, Verfasser des Landpredigers und andrer gemeinnüzigen Aufsaze, ist eben so gestimmt; daher haben sie untereinander einen Freundschaftsbund errichtet, der heiß ist, wie der Bund der Liebe am Altar Gottes geschworen. Auch ich lernte diesen edlen Mann damals kennen, und brachte einige sehr schöne Lebensstunden mit ihm hin.

Bei dieser Gelegenheit besucht' ich auch den Wallersteinischen Hof, dessen Kapelle damals sehr glänzend war, und von dem berühmten Hauptmann Beke gelenkt wurde. – Beke ist bekanntlich der Anführer[92] einer ganz eignen Manier, den Flügel zu spielen. Er selbst hat alle Eigenschaften des musikalischen Genies – Schöpfergeist, Feuer, Fülle, und Ausdruk. Sein Auge flammt, wenn er spielt; seine Faust ist klein, und schimmernd, und der Karakter seiner Spielart hat viel Einfalt, Bestimmtheit und Würde. Er ließ von den besten Musikern des Hofes einige seiner neusten Kompositionen vortragen, wovon jede ein einziger gut ausgeführter Herzensgedanke zu seyn schien. Man weiß sogleich was Beke empfand, als er sein Stük niederschrieb; daher sind seine Kompositionen nicht von Kaprisen schekicht, gleich einer Harlekinsjake, sondern das Horazische »Simplex et unum« ist allenthalben seine Leuchte. Große harmonische Tiefen findet man nicht bei ihm; der Pedant könnt' ihm sogar manchen Fehler vorwerfen; aber Geniezüge ersezen diesen Mangel desto reichlicher. Die dasigen Tonkünstler, worunter Janitsch – ein sehr guter Geiger, hervorragte, wußten Licht und Schatten mit[93] ungemeiner Vorsicht zu vertheilen, und dadurch die Gemählde ihres Meisters zu heben. Da man die feinsten Nüancen in der Tonkunst heutzutage zu bemerken scheint, und so zu sagen den Strom vom sanften Rieseln am Quell an, bis dahin begleiten will, wo er laut- donnernd ins Meer stürzt; so mußten sich auch die Kunstwörter so anhäufen, daß man vor musikalischen Zeichen bald die Noten nicht mehr sieht. Sollte sich nicht ein bequemeres Mittel finden lassen, diesen Uebelstand aus unsrer musikalischen Schreibart zu verbannen? Kapellmeister Reichard in Berlin hat mit dem Crescendo und Decrescendo durch die ganz einfachen Zeichen 19. Period und 19. Period einen schönen Anfang gemacht, wiewohl sie den Notenschreiber etwas hindern möchten, wenn die Noten aus dem Ufer des gewöhnlichen Sistems treten.

Außer dem gerühmten Beke hatte der Wallersteinische Hof auch einen welschen Komponisten, der noch fertiger im Saz,[94] und viel feuriger als Beke, war. Sein Requiem auf den Tod der dasigen Fürstin ist der Pendant zu Jomellis Requiem, und eben so schön und rührend, als Werkmeisters Lobrede auf diese fromme Prinzeßinn. Nur mahlt er zuviel für den einfältigen Kirchenstil. Schad, ein gefühlvoller Kenner der Kunst, hat in Wielands Merkur alles gesagt, was ich noch weiter vom damaligen Zustande der Wallersteinischen Hofmusik sagen könnte.

Als ich bald darauf meine Freunde in Aalen besuchte, und einen kleinen Strich durchs Ellwangische reisen mußte; so gab ich mir zwar einen fremden Namen, wurde aber dessen ungeachtet ausgekundschaftet und man hätte mich übel behandelt, wenn nicht der Fürst denjenigen mit seiner Ungnade bedroht hätte, der mir ein Leid zufügen würde. Man kennt auch an diesem Zuge den frommen Bischof Anton Ignaz, der den Verfolgungsgeist an seinem Pöbel jederzeit verabscheute. – Die Straße von Aalen[95] nach Ellwang wimmelte eben damals von elenden Pilgrimen, welche bei Gaßnern Hülfe suchten. Das tausendfältige Elend von 10. 20. 30. Meilwegs in die Länge und Breite, schien in dieser Gegend zusammengedrängt zu seyn. Alle Heerbergen, Ställe, Schaafhäuser, Zäune und Heken lagen voll von Blinden, Tauben, Lahmen, Krüppeln; von Epilepsie, Schlagflüssen, Gicht, und andern Zufällen jämmerlich zugerichteten Menschen. Was Krebs, Eiter, Grind und Kräze, Ekelhaftes, Abscheuliches, – Entsezliches hat, – selbst was die Seele drükt und entmannt, – Schwermut, Wahnsinn, Tollheit, stille Wut, Raserei, teuflische Anfechtungen, – war hier in Aaalen, und auf dem Wege nach Ellwang an Krüken, an Stecken, auf Eseln, Pferden, Karren, in Tragtüchern, auf Reffen und Bahren, in einer schreklichen Gruppe zusammengedrängt zu sehen. O dacht' ich, Gaßner, wenn du all' diesem Jammer abhilfst, all dieß Elend im Namen Jesu[96] wegsprichst; so will ich auf den Knieen zu dir kriechen und dir meinen Unglauben mit gefaltnen Händen abbitten. Aber leider! kamen diese Elenden noch elender zurük; denn da sie auf der Reise nicht selten all ihre Habe verzehrt hatten; so mußten sie nun betteln, und zum Theil auf der Strasse zu Grunde gehn. – Mit einem Wort, ich zweifle, ob Deutschland jemals einen traurigern, Herz und Verstand beschimpfendern und den Namen Christus entehrenderen Aufzug dargestellt habe, als der ist, den Gaßner verursachte. Selbst die Katholiken fiengen frühzeitig an, sich dieses Unfugs zu schamen, und seinen Folgen durch öffentliche – mündliche und schriftliche Ahndungen zu steuren, bis endlich der Befehl des weisen Kaiser Josephs dem ganzen tragi-komischen Schauspiel' ein Ende machte.

So sehr sich inzwischen meine Chronik in und ausserhalb Deutschland ausbreitete – denn es kamen Stüke nach London, Paris,[97] Amsterdam und Petersburg – so manchfaltig war doch der Verdruß, den ich mir damit zuzog. Die Höfe Mainz und Zweibrüken, und selbst der Französische Hof glaubten darin beleidigt zu seyn, und verlangten Widerruf. Eine aus Berlin empfangene Anekdote, die ich aufnahm, hezte mir die ganze dasige Hofmusik auf den Hals. Afsprungs Schrift, worin er seiner Vaterstadt einen neuen pädagogischen Plan vorlegte, und die ich, wie billig, lobte, machte mir sogar Feinde in Ulm. Die reiche Bekanntschaft, in die ich durch dieß fliegende Blatt gerieth, legte mir oft die Verbindlichkeit auf, anders zu schreiben, als ich dachte. Die Warnungen der Ulmischen Obrigkeit, und die eingeschränktere Zensur kühlten die Lava, wenn sie sich feurig ergoß, und wandelten sie mitunter in todtkalte Schlaken. Daher wurd' ich immer mismuthiger, und schrieb meine Chronik meistens aus Zwang und Noth, und selten mehr mit dem feurigen Ausguß des Geistes, der weder[98] Damm noch Schranken kennt. Mit einem Wort, ich hab' es an mir selbst erfahren, daß für ein Temperament, wie das meinige, nichts gefahrlicher, als der Posten eines Zeitungsschreibers ist. Klug und abgekühlt, schlau, beugsam und raffinirt muß ein deutscher Novellist seyn, wenn er sich erhalten will, und nicht ein feuriger, offenet, herausplazender Thor, der die Feder eben so wenig, als die Zunge zu regiren weiß. – Ueberdem war ich fast alles Schuzes beraubt. Ich war nicht Bürger in Ulm, – nicht in Aalen, nicht in Geißlingen; – war nur Weltbürger, dessen Rechte man zwar in allgemeinen, aber nicht in besondern Fällen gelten läßt. Ich liebte mein Vaterland so herzlich, und fand doch so wenig Schatten unter den Flügeln seines Adlers. – Und noch immer ist der Gedanke einer der bittersten, der in meinem Gefängnisse über mich her stürzt: daß ich mit so viel Vaterlandsglut in der Seele, doch von meinem Vaterlande nicht geschüzt werde,[99] sondern wahrscheinlich unverhört, mein ganzes Leben in der oden Gruft dieses Kerkers verächzen soll. Wie kostbar, wie selten ist ein patriotischer Bürger und wie verächtlich wirft man ihn oft weg! Diese Betrachtungen drängten sich mehrmalen in meine Seele und vergällten mir die Freuden meines Privatlebens, die nirgends reichlicher über mich ausgegossen waren, als in Ulm. Ich liebte meine Gattin und meine Kinder aufs zärtlichste, und wurde noch inniger von ihnen geliebt. Mein lieber Schwiegervater, der Redliche, besuchte mich, und ich ihn wiederholt. Ich freute mich, Liebe zu geben, und Liebe zu nehmen.

O wie oft gieng ich an der ernsten Donau mit meinem Kapoll, oder Miller, oder an der Seite meines trauten Weibes hinunter, pflükte vom Schleebusch den ersten Blütenzweig, und ließ ihn auf dem Hute wehen; oder horchte im Steinheil – einer reizenden Waldgegend unweit[100] Ulm, – der Nachtigall, die mir um so viel schöner schlug, iemehr ich mich wieder der Ordnung näherte. Großheit, und Schauerhöhe rührte mich immer stärker, als blose ruhige Schönheit; daher empfand ichs nie mächtiger, daß ich noch eine offene empfängliche Seele hatte, als wenn ich das Münster bestieg, diese heilige Piramide, Gott und dem Genius der Deutschen zu Ehren hingethürmt: Städte, Dörfer, Felder, alles von meinen lieben Menschen wimmelnd; Wälder, Ströme, Berge, Fluren ins Gold der Sonne getaucht; und über mir der freundliche, zum Dach gewölbte Himmel in blauen Wellen hinfließend!2 O wie weit[101] wurde meine Seele! wie durchschauerten sie Ahndungen ihrer künftigen Größe! wie las[102] ich die Unsterblichkeit von meiner Brüder Antliz herunter! wie vergaß ichs, daß tief[103] unter mir Gräber waren! und wie schämt' ich mich meiner kleinlichen Zweifel über die[104] ewige Dauer meines Geistes! – Hier auf den Rüken gestrekt, mit gefaltener Hand,[105] die Augen schimmernd von Thränen, beschaut' ich einmal in der schönsten Frühlingsnacht[106] vom Kranze des Münsters den hohen Himmel mit seinem Sternengürtel, und wünschte mir – ausgesöhnt mit Gott, den Flug des Christen hinauf in die Welten des Lichts zu fliegen, und diesen Staubleib auf dem Thurme zurükzulassen! – – Aber wie bebt' ich, wie sanken die Flügel der Fantasie wie vom schmetternden Blei zerknikt, wenn ichs dachte, – wenn ichs im Mark der Seele fühlte, welch ein Störer der Ordnung ich war! welch ein Empörer gegen Gott, der diesen Sternen zu strahlen gebot!! Fort mit dir, dacht' ich, und zitterte im Finstern die steinernen Treppen des Schauergebäudes hinunter – nicht die Regionen des Lichts, das Urdunkel ist dein Element!! – Solche Gedanken würgten mich oft, und liesen keine süße, große, himmelerhebende Empfindung bei mir reif werden. »Nichts ist dein! dieß schrekliche Wort für den Sünder, hier schon wahr – wie laut wird es dort donnern, wenn Gott sein Erbe austheilt! – –«[107]

Auch hatt' ich sonst der unschuldigen Lebensfreuden viele, mehr, als sie tausendmal bessere Weltbürger haben konnten. Welche edle Menschen lernte ich nicht unter den vielen Fremden kennen, die mich in Ulm besuchten; oder die ich selbst aufsuchte, mit der enthusiastischen Zudringlichkeit, die doch, so viel ich weiß, niemals beleidigte. Sulzer der deutsche Plato; Bahrdt,3 dessen sanftes Auge gewiß denjenigen Feind des Christentums nicht ankündigt, den unverständige Eiferer aus ihm machen wollen; und die beiden herrlichen Grafen Stollberg, wovon der jüngere sonderlich – ein heiliges, an die Verklärung gränzendes Feuer im Angesicht trägt; – du harmonischer Kaiser! der es so ganz verdiente, von den edelmüthigen Eidgenossen beschüzt zu werden; – und so mancher vortrefliche[108] Mensch, dessen stille Würde mich zu bestrafen schien, daß ich nicht auch war, wie er – trat in den Kreis meiner Bekanntschaft und öffnete mein Herz zur Bewunderung, zur Simpathie, und einer Zartheit von Menschenliebe, die ich selten in diesem Grad empfunden hatte. Besonders waren die Schweizer die Leute meines Herzens. Ich korrespondirte mit vielen ihrer würdigsten Männer, und suchte sie auf, wo ich sie finden konnte; sie mochten Gelehrte, oder Kaufleute seyn: denn meine Seele entdekte in ihnen gar bald jene Festigkeit und Würde, Hoheit und Einfalt, welche die Weisheit ihrer Regierungsform ausreift. Der Schweizer ist der Riese der Deutschen, der Reichsstädter sein Schatten; und der Fürstenknecht kaum noch Porzellanpuppe für jenen zum Spiel seiner Kinder. Geh in die Schweiz, Jüngling, und dann nach Hamburg, um zu wissen, was Freiheit für Leute macht; und dann an die Höfe, um zu sehen, wie Sklaverei den Menschen verschnizelt, bis er so klein wird, daß er kriechen kann!![109]

Die jährliche Kreisversammlung in Ulm macht die Stadt lauter, als sie sonst ist. Man hat da Komödien und Konzerte, so gut man sie in der Geschwindigkeit zusammentreiben kan. Die komische Operette findet alsdann sonderlich ihren Tummelplaz; – diese dramatische Misgeburt, die keinen Wert hat, als daß sie manche gute Melodie dem Pöbel in den Mund streicht. Aber welches Unheil richtet sie auf der andern Seite an! wie entehrt sie den Ernst des deutschen Karakters! welche schlüpfrige – vergiftende Empfindungen flößt sie ins Herz des iungen unverwahrten Hörers! – Man sollte gegen diese Froschlaichgeburt schon darum mistrauisch seyn, weil sie in Frankreich ausreifte, und zwar zu einer Zeit, wo der Geist der Nation schon so klein, so weichlich, so verdorben war, daß sich der Deutsche schämen sollte, so was zu naturalisiren. Sonderlich ist die komische Operette für den ernsthaften Schwaben eben das, was der mutwillige enge Schleifer für einen Theologen[110] wäre. – O!! ich mag nicht daran denken, wie unsre Schriftsteller und Künstler mit dem Menschengefühl umgehen. Da lassen sie die grösten, edelsten, wahrsten Empfindungen, gleichsam die Grundlinien unsers Daseyns – in der Seele schlummern, ohne sie durch einen mächtigen Schrei aufzuweken, in sie zu dringen, und wie heiliges Feuer zu unterhalten; – und weken dagegen mit der Ratsche, oder Kinderklapper Gefühle, die wir schon mit dem sechsten Jahre unserer Kindheit abgelegt haben sollten. – Warum wachen doch die Obrigkeiten nicht sorgsamer über den öffentlichen Ergözlichkeiten, und geben sonderlich den sentimentalen Dramen der Franzosen und Welschen, und den deutschen Nachpfuschungen – die nicht selten geschmakloser und sittenverderblicher sind, als ihre Originale, den Staupbesen!?4[111]

Da ich von Jugend auf ein ekstatischer Freund der Wissenschaften und Künste war; so sollte man glauben, daß keine erwünschtere Situation für mich hätte ausgedacht werden können, als die damalige. Ich erhielt alle Zeitungen und Journale mit der Post; die neusten Bücher, Musikalien, Kupferstiche, Abdrüke von Medaillen, s.w. wurden mir meist umsonst zugeschikt; und mit geheimen literarischen Anekdoten, oft[112] Beiträgen zu einer skandalösen Chronik, versahen mich genannte und ungenannte Korrespondenten in Menge. Aber Gott wollte mich mit soviel nichtigen Dingen dik anfüllen, damit sie mich desto früher anekeln, oder damit ich erkennen sollte, daß solche Speisen, die kaum etwas mehr, als die imaginären Speisen der Egyptischen Zauberer sind, keinen zur Wahrheit geschaffenen Geist lange sättigen können. Und da ich mein Vaterland so herzlich liebte; so marterte es oft meine Seele, wenn ich sah, wie unser Volk in allen Stüken so merklich zu sinken anfängt: denn niemand hat Gelegenheit, dieß leichter einzusehen, als ein Novellist, und Kunstrichter. Da sieht er Despoten, statt der alten Freiheitsvertheidiger; Auswandrungen nach Rußland und Amerika statt der häußlichen Ruhe beim Vaterlandischen Heerde; Schwerdter statt der Gras und Halmen mähenden Sichel; verfallene Handlungshauser; entnervte darbende Künstlergenies, die nicht leuchten, sondern[113] mordbrennerisch unsre Häuser ansteken; ausgeartete schwelgende Bürger, und selbst Bauern, die das Gefühl der Unschuld und Einfalt verloren haben. Ich weiß wohl, daß man Ausnahmen machen kann; aber wie wenige! – O welch ein langbeiniges Gerippe ist nicht unsre Gelehrsamkeit worden! – Wie zerfallen das Studium der Bibel, die wahre Theosophie! wie viel Rechtsgelehrte unter uns ohne den Geist der Gesezgebung, und des Verständnisses der Geseze! Wie viel Aerzte ohne Menschenkenntnis! wie viel todtkalte Weltweise, die mit gewissen Modetheologen gegen das Reich des Erlösers konspiriren, und die arme, nakte, schaudernde Menschheit in das Spinnengewebe ihres Sistems kleiden! Welche pedantische, furchtsame, kriechende, unstatthafte Geschichtschreiber!5 Wie herabgesunken[114] unsre Dichter von der Würde der biblischen Seher, von der Sonnenhöhe Homers, Oßians, Shakespears, Miltons, Youngs, Bodmers, Klopstoks!! – Welch ein flüchtiger arbeitscheuer Geist in den meisten neuern Schriften! Welch ein kindisches Publikum, das hinter jedem unzeitigen Schreier daherfluthet, daherjolt, und sich in wenigen Monaten seines verschwendeten Beifalls schämt! Komponisten, die zu Sebastian Bachs, Händels, Lulli's, Caldara's, Telemanns Zeiten ausgezischt worden wären, sind iezt im Ansehen, – als Lieblinge der Höfe und Tongeber für Alle. Mahler, Bildhauer, Baumeister, – – doch welcher Patriot kennt und beklagt den Geist der Kleinheit nicht, der unser Vaterland schwerer ängstigt, als ehmals Hornissen das verstokte Egypten! – O Leibniz, Leibniz, noch immer ists wahr, was du ehmals in die Welt schriebst: »Es scheint, wir bleiben immer auf den ersten Fußsteigen der[115] Wissenschaften und Künste kleben, und werden durch ein gewisses trauriges Schiksal verhindert, die Wohlthaten des Schöpfers, und die Schäze der Natur und Gnade ämfiger zu durchforschen. Die Menschen würden unglaubliche Dinge leisten, wenn sie nicht so träge wären. Aber ihre Augen sind, wie mit einer Zauberbinde gebunden, und man muß schon die Zeit erwarten, bis alles reif wird.«6 Man könnte meine Klage das hypochondrische Gewinsel eines Gefangenen nennen, der aus verdorbenen Augen sieht, wenn sie nicht schon Herder, Hamann, Lavater, Füeßli, Mengs, Marpurg, Forkel – selbst der tolerante Wieland lange vor mir angestimmt hatten.[116]

Im Jahr 1776 – dem lezten meiner Freiheit, war ich ein paarmal dem Tode ganz nahe. Ich gab Konzert in Memmingen, lernte daselbst wieder manche gute Menschen kennen, fuhr nach Babenhausen um dem dasigen Grafen aufzuwarten, und wurde von dem zweiten Vorboten des Schlags im Wagen gerührt. Ich ließ eilends wieder umlenken, und erholte mich allmählig unter der Pflege meines Weibes, und dem heitern Zuspruche meines Freundes, des verdienstvollen Prediger Schellhorns. Memmingen gehört, in Absicht auf den guten Ton, der daselbst herrscht, unstreitig unter die ersten Städte Schwabens. Sie lesen, beaugen, fühlen alles was schön und groß ist, und wissen sich eine gewisse fromme, ernste, ehrbare Miene zu geben, die auch das Weltkind in Ehrfurcht erhält. Auf meiner zwoten Reise in diese angenehme Stadt sah ich die so hochgerühmte Kirche in Ottenbeuren. Sie steht queer auf einem Hügel, und ist[117] von außen und innen – Opernhaus. Leichtsinnige Gefühle ergreifen einen d'rinnen, nicht Schauer der Gegenwart Gottes, wie im Münster zu Ulm. Wieder ein Beweis von dem so sehr kontrastirenden alten und neuen Style! –

Die zweite Lebensgefahr, aus der mich nur Gottes Arm, wie durch ein Wunder rettete, betraf mich den 20sten August dieses Jahres in Ulm. Mein Sohn kam mit seiner Mutter und Schwester zu mir, als ich mich eben in der Donau mit einigen Freunden gebadet hatte, und wollte nun unter meinen Augen auch baden. Er war kaum im Wasser; so riß ihn die Donau in ihren Wirbeln fort. Ich stürzte mich, ob ich gleich nicht schwimmen kann, schon angekleidet in die Donau, schrie meinem Knaben, von dem ich bald Kopf, bald Fuß sah, unaufhörlich zu: »Rechts, Ludwig, rechts!« hatte bald selbst keinen Grund mehr, und wurde doch von der Flut wie[118] unter den Armen getragen. Ich sah endlich mein Kind ans Ufer ausgeworfen, und arbeitete mich gleichfals glüklich ans Gestade. Der Knabe hatte einen Weidenschoß unter dem Wasser erwischt, an dem er sich mitten durch Rohr und Gezweig emporklammerte. Ein Zweiglein zitterte noch in seiner Hand, als man ihn aus dem Gebüsche zog. Da standen nun Vater und Sohn, träuflend von Wasser, wie Monumente der besondern Vateraufsicht Gottes über seine Geschöpfe; – weit oben am Gestade mein Weib und meine Tochter, bleich wie Todte, und nach dieser wundervollen Rettung, wie Auferstandne, die ihr erstes Leben athmen. Der Baron Schaflizky war bei mir, und seiner Freundschaft dank' ichs noch, daß er bereits ins Wasser sprang, und mein Leben mit Gefahr des seinigen erkaufen wollte. – Gott, ich habe dir schon öfters für diese Rettung gedankt, und auch jezt schreib' ich meinen heißen Tränendank auf dieß Blatt nieder. – Nicht wahr, Vater, du wolltest meine Seele[119] nicht ewig verderben? das wolltest du nicht, ehe du zuvor einen ernsten Versuch gemacht hättest: ob diese leichtsinnige, schwärmende, unbefestigte Seele noch zu retten wäre!? Ach nur das wolltest du, göttlicher Vater, und dafür preist dich diese Seele immer und ewiglich!

Nebst meiner Chronik hab' ich in Ulm Vorreden zu verschiednen Büchern, Einleitungen, Nachschriften, Aufsäze ins Ulmer Intelligenzblatt, und in auswärtige Journale, verschiedene Gedichte, Klavierstüke – und noch andere mir selbst entfallene Kleinigkeiten verfertigt. Im Leben des großen Pabsts Ganganelli, das Gaum herausgab, ist die Einleitung, und der ganze vierte Theil von mir. Ikstadts Leben schrieb ich auf Ersuchen seiner Freunde. Ein unschuldiger Ausdruk in der Zuschrift an den verstorbnen Kurfürsten hat diesem Buche keine günstige Aufnahme in München verschaft. Desto günstiger aber ist es sonst in Deutschland[120] aufgenommen worden, obgleich ein Held mich wenig interessiren konnte, der das schrekliche Sprichwort so oft im Munde zu führen pflegte: »Da mihi decem thaleros, pulvis et umbra sumus. –« Doch er ist hingegangen und sein Richter – ist Gott.7

Mein fester Vorsaz war, einen Roman aus mir heraus zu schreiben, den ich schon Jahre lang mit mir herumtrug. Miller und meine auswärtigen Freunde trieben mich beständig; aber eben als ich Hand anlegen, und das Werk beginnen wollte, da sollt ich selbst vor den Augen meines Vaterlandes der Held eines sehr tragischen Romans werden.[121] Ich brütete schon lange ein Unglük in meinem Herzen; mein nahes trauriges Schiksal schien mir oft mitten unter meinen Freuden vorzuschweben. Denn die Ahndungskraft meiner Seele war immer sehr laut. Ich begegnete daher meinem Weibe und Kindern so zärtlich, als wenn ichs wüßte, daß ich mich nächstens von ihnen trennen sollte. – In einer solchen bangen Vorempfindung fuhr ich nach Aalen in Gesellschaft des mir so theuren Stadtamman Schleichs, und nahm von meiner alten Mutter, und meinen Geschwistern einen so tief heraufgeholten Abschied, als führ' ich vom Thor zum Grabe.

Als das 1777ste Jahr eintrat, so drükte ich meiner Gattin mit dem Schlag Zwölfe mit unaussprechlicher Wehmut die Hand, sah ihr ins bleicher werdende Antliz – denn wir waren beide noch auf – »daß ich dich liebe, das weißt du! – was kann ich dir wünschen?« – das war alles, was wir stammelten, weinend lächelten, zitterten,[122] und – ach unsre so nahe Trennung hieng in schweren Wolken über uns, und bildete nur einzelne, aber dike Tropfen der Wehmut im Auge. –

Gleich mit dem ersten Tage des Jahrs erhielt' ich von meinem Freunde Grießbach in Karlsruhe die Nachricht, daß der dasige Kapellmeister Skiotti gestorben, und daß man mich nachdrüklich unterstüzen wollte, wenn ich diese Stelle zu ambiren gedächte. Schon lange wars der geheime Wunsch meiner Seele, einem Fürsten zu dienen, für den ich, wie für seine weise Gemahlin, die tiefste Ehrfurcht im Busen trug. Dieser heisse, glühende Eifer würde vielleicht den Abgang derienigen Eigenschaften gar bald bei mir ersezt haben, die ein Kapellmeister nach meinem Ideale haben sollte. Schon wälzt' ich Entwürfe, wie ich an diesem Hofe, wo alles Ohr und Herz für das Große und Schöne hat, die Kirchenmusik gründen, und sie dem lichten[123] Punkte näher bringen wollte, den Klopstok in seiner herrlichen Ode Siona so richtig gefaßt, und getroffen hat. Zu gleicher Zeit wurd' ich nach Mannheim berufen, um daselbst den Triumph der deutschen Sprache über die Welsche in einer neuen Oper aufführen zu sehen. Nur der Mangel an Reisegeld hinderte mich, sogleich aufzubrechen, um an einem von beiden Höfen einmal mein Glük fester zu gründen, als es auf fliegenden Zeitungsblättern gegründet seyn konnte. Ich verschob also meine Reise von einem Tag zum andern, und rannte dadurch am hellen Mittag' in die mir schon lange gelegte Schlinge. Auch in Nürnberg arbeitete ein Mann von Ansehen und Gelehrsamkeit an meiner daurhaften Versorgung in dieser Stadt meiner Väter. Aber es sollte nicht seyn!

Meine lezte Exkursion war in Gesellschaft des Herrn von Hailbronners, von Sürmanns aus Danzig, und des Konsistorialrath [124] Miegs, der eben von Wien kam, nach Eibach zum Grafen von Degenfeld. Die freie, heitre, sachreiche Redseeligkeit meines lieben Miegs, und die ernstere Laune meiner andern Gesellschafter, machten mir diese kleine Reise zu einem Spaziergang unter Blüten und Lerchengesang. Ich bewunderte in Eibach die Anlagen des liebenswürdigen Grafen, der Geschmak mit landwirthschaftlichem Nuzen so sinnreich zu verbinden weiß, staunte den schreklichen Felsen an, der über seinem Garten hängt, auf den ein zweiter Falkonet die Statue unsers großen Friderichs stellen könnte. – Noch mehr, als das lebendige Weben der schönen, aber seelenlosen Natur, erfreute mich der Umgang mit der Gemahlin des Grafen, die ich schon lange in der Gallerie meines Herzens unter den großen Seelen aufgestellt hatte. Ihre weise Kinderzucht, der Geist der Ordnung, der von ihr ausgeht, ihr ins Große gehender Geschmak, ihr ausgereiftes männliches Urteil,[125] und selbst ihre, nicht selten etwas bisarre Laune haben mir diese Gräfin so schäzbar gemacht, daß ich sie auch im Kerker, in den trübsten Stunden meines Lebens nicht vergessen konnte.

Auf dem Rükwege sah ich meinen lieben Schwiegervater zum leztenmal – noch steht er vor mir mit dem redlichen Antliz von grauen Lokken umflogen; noch drük' ich ihm die Hand, und ruf ihm zu: »Leben Sie wohl, theurer Vater!« – der Wagen donnerte über die Steine weg, und ich sah' ihn nicht wieder! – – O du meine Mutter, die mich unterm Herzen trug; du mein zweiter Vater, der mir seine Tochter gab, verzeiht einem armen Unglüklichen, wenn sein Ungestüm euch so manche trübe Stunde machte! Jezt betet er für euch im Staube seines Gefangnisses, und hoft es immer heller, euch bald in den friedlichen Thälern einer bessern Welt umarmen zu können!!

[126]

Nie hat mich Ernst und anhaltendes Nachdenken öfter angewandelt, als in den lezten Tagen meiner Freiheit. Mein Herz war wie schwüle Luft, schweigend, bangsam, ein Gewitter verkündend. Ich genoß die gewöhnlichen Carnewalslustbarkeiten – eine unanständige, Gesundheit zerstörende Ergözlichkeit für den ernsten genügsamen Deutschen, – mit so wenigem Herzensanteil, daß ich um zehn Uhr Abends gemeiniglich schon wieder zu Hause war. Mein Vorsaz, die Religion einmal im Ernst zu untersuchen, und Partei zu nehmen, wurde immer fester; ich schaffte mir auch bereits die zu dieser Untersuchung nöthigen Schriften. In allen Zusammenkünften mit meinen Freunden wurde das Gespräch auf die Religion gelenkt, und nirgends hab ich so einsehen gelernt, daß die Zweifelsucht eine wirkliche und dazu äußerst schmerzhafte und qualvolle Krankheit der Seele sei, als ich es in Ulm aus manchem traurigen Beispiel verstehen lernte.[127]

Ich hatte Denker bittre Tränen vergießen sehen, weil sie nicht wußten, wie sie sich aus diesem Labirint heraushelfen sollten. Ein denkendes Geschöpf, das weint, weil es die Wahrheit nicht finden kann; – welch ein Anblik für Gott! Sollt' er sich sein nicht erbarmen? – Der äuserst unzulängliche Religionsunterricht ist auch hier das Ei, aus welchem Zweifelsucht und Unglaube ausgebrütet werden. Die symbolischen Bücher sind in Ulm, wie an mehrern Orten, die Gränzlinie, über die es Frevel ist, nur einen Fuß hinauszusetzen. Man berührt nur Theile der Religion, und stellt nie ihr Ganzes dar, wodurch allein alle Zweifel gehoben werden können. Daher hilft sich die untersuchende Partei so gut sie kann. Spalding, Semler, Teller, Bahrdt, Eberhard, Junkheim, fanden großen Eingang bei den iungen Leuten. Miller, der es mit Herdern, Lavatern – mehr aber mit seinem Onkel, dem sanften Theologen Miller in Göttingen hielt, sezte sich[128] oft sehr eifrig einem Sistem entgegen, das Glauben, Liebe, Hofnung, – diese Grundpfeiler der Religion niederzustürzen, so viele große Anlagen der Seele zu verschwemmen, und uns allen Trost im Leben, Leiden und Sterben zu rauben droht. Die Sekte der kalten Vernünftler konnte niemals die seinige seyn, und sie war auch die meinige nicht. – Wie oft dacht' ich: »O wenn die christliche Religion wahr wäre! – Aber sie ist nicht wahr! Wer kann Mährlein glauben, von denen die ganze Natur nichts ähnliches mehr aufweist? – – Sie ist nicht wahr! – Aber was ist denn wahr?« So ängstigte ich mich mit bangen schreklichen Zweifeln, und niemand nahm sie mir. Die Schwermut hatte mein Herz so angefüllt, daß der Wein, der mich sonst ausgelassen fröhlich machte, nur ein Weker der Melancholie war; und ich stürzte oft, gesehen und nicht gesehen, ganze Fluten von Tränen herunter. Die Welt, die mich so fest gepakt hatte, wurde mir immer mehr[129] zur Last; aber ich hatte nicht Mut genug, mich von ihr loszureissen. Ich ward als Ball von einer Hand der andern zugeworfen, ein Sklave des Augenbliks. Kein Tag verging, daß mich nicht Fremde besuchten, und mit einem Sturme von Veränderungen das geheime Wimmern des frommen Entschlusses übertäubten.

Auch erhielt' ich um diese Zeit schriftliche und mündliche Warnungen, mich vorzusehen, weil ein schweres Wetter gegen mich aufzöge. Der Kaiserliche Minister in Ulm General Ried, ein stolzer, hochtrozender Mann, war äuserst aufgebracht, weil ich einmal vor ihm den Flügel spielen sollte, und es aus Mangel eines tauglichen Flügels nicht that. Seine Religionsverwandte bliesen in dieß Feuer; und er laurte nur hoch auf Gelegenheit, mich unter einem bessern Vorwande paken zu können. Als ich aus einem Wiener Briefe die Nachricht in die Chronik sezte: »Die Kaiserin sey plözlich[130] vom Schlage gerührt worden« so glaubte er Anlas genug zu haben, mich aufheben, und nach Ungarn in ewige Gefangenschaft führen lassen zu können. Aber Gott, der schon seinen Plan mit mir gemacht hatte, misbilligte diesen. Der Minister offenbarte seinen Entschluß dem Herzog von Wirtemberg, der sogleich dem Gesandten versprach, mich in Verwahrung zu nehmen, weil er selbst nicht wenig an mir auszusezen fände. Geheimere Umstände brauch' ich und der Leser nicht zu wissen. Der Tag der Entscheidung wird alles offenbaren! Nur dieß muß ich zu meiner Rechtfertigung noch sagen, daß das hernach ausgestreute Gerücht: als hätt' ich ein verfängliches Gedicht auf eine dem Herzog sehr schäzbare Person verfertigt, gänzlich falsch und ungegründet sei. – Priesterhaß, der nicht eher verlischt, als bis er den Gegenstand seiner Wut zerstört hat ist die alleinige Ursache meiner Gefangenschaft. Wär' es den Pfaffen, – diesen Schandfleken der besten Religion –[131] nachgegangen; so wär ich längst an langsamen Martern gestorben. –

Und nun waren die Befehle zu meiner Verhaftung gegeben; ich aber, und meine Gattin trugen unsre nahe Trennung immer lastender auf der Seele. Ich wußt' es beinahe gewiß, daß mir ein Unglük begegnen würde. Eben die schwarzen Kutten, die ich vor acht Jahren im Traume sah, erschienen mir wieder, marterten mich mit ihren Nägeln, und löhrten, wenn ich sie um meinen Tod bat, mit satanischem Lächeln: »Wir tödten nicht plözlich, wir martern unsre Feinde langsam zu todt!« – Ich erzählte meinem Freunde Kapoll diesen Traum, der ihn aber weglachte. Und nun bemerkt' ich die feierliche schrekliche Stille immer mehr, die vor einem Unglük, wie vor einem Wettersturme herzugehen pflegt. Der Arm war hoch aufgehoben, der schmetternd auf mein Haus niederstürzen sollte.

Den 22sten Jenner 1777 kam der Klosteramtmann Scholl von Blaubeuren, den[132] ich schon ehmals kennen lernte, zu mir, und lud mich zum Mittagessen im Baumstark. Ich hatte eben Musik, und wollte Abends Konzert geben. Ich nahm indeß seine Einladung an. Als ich mit ihm hinging, sagte er ganz furchtsam: »Sie könnten mir einen sehr großen Gefallen erweisen?« und worinn besteht der? – »Mein Schwager der Professor B****r von E****g ist bei mir, und wünscht Sie kennen zu lernen.« – Der kennt mich in schon von Stuttgart her; und dazu muß ich morgen meine Chronik schreiben. – Doch ich geh' mit ihnen; mein Chronikblatt soll dennoch fertig werden! – Mein leztes Blatt war das siebente Stük des 1777sten Jahres, und meine lezte öffentliche Arbeit das angehängte Memento mori für Kunstrichter. –

So willig, und so ohne alle Vorsicht eilte ich in die mir gelegte Schlinge. In Ulm hätte mich gewiß niemand gegriffen, den ich hatte da viele und sehr wichtige[133] Freunde, die mich herzlich liebten. Die dasigen Preussischen Werboffizirs waren mir äuserst zugethan, und hätten dem den Hals gebrochen, der mich angetastet hätte .. Ader eine höhere Hand lenkte das ganze Gewirre, und ich mußte folgen. Ich speiste mit meinem Todesengel, und brachte den Tag ziemlich vergnügt zu. Nach dem Konzert hohlte mich mein Weib ab, und gieng so stumm, so schwertragend neben mir nach Hause, daß ich sie über ihre Schwermut zu Rede sezte. »Ich weiß nicht, wie mir ist« sagte sie, und ließ eine Träne fallen. – Ich schlief das leztemal in ihren Armen – so sanft und ruhig, als ich lange Zeit nicht geschlafen hatte. Denn immer hab' ich bemerkt, daß ich vor einem mir begegnenden Unglüke sehr sanft ruhte. So stärkt der treue Vater im Himmel seine Geschöpfe, damit sie auch ihr Leiden tragen können.

Der Tag brach an; ich stund auf, kleidete mich an. Meine Kinder schwiegen um[134] mich herum, meine Gattin bangte. Der Schlitten klimperte vor dem Hause, der mich in Baumstark führen sollte. – »Leb wohl, Weib!« Sie bot mir die Hand, ward bleicher, alle Muskeln ihres Angesichts zitterten. »Kann denn dieser Fremde nicht zu dir kommen?« – Und das war das lezte Wort aus dem Munde meiner Lieben. Ich eilte die Stiege hinunter, bestieg den Schlitten. Mein Sohn, dem das Lictorgesicht des Klosteramtmanns wie Wurmsaamen zuwider war, schrie aus dem Fenster mir nach: »Papa kommen Sie bald!« – Hoch klopfte mein Herz auf, und Tränen riselten wider meinen Willen die Baken herab. Ich hielt mich nur Augenblike im Baumstark auf, – und der fliegende Schlitten riß mich aus Ulm, – weg von allen meinen Lieben, meinem trauten Weibe, meinen Kindern, meinen Freunden, – ohne sie noch einmal fest ans Herz drüken, ihnen für alle ihre Liebe danken, und dann die bange, heiße, blutige Abschiedsträne, schreklich[135] wie die Träne Zoars am Halse Sebas, an ihrem Herzen weinen zu können. – Ach ich habe sie seitdem desto öfter im Kerker geweint. Gott hat sie gesehen und gezählt, und den heissen dankvollen Wunsch gehört, den ich für deine, und deiner Kinder Wohlfart, du liebes, deutsches Ulm, zum Himmel schikte. – Er wirds euch gewiß lohnen, was ihr mir armen herumirrenden Fremdling, – und – noch nach meinem Abschiede meiner Wittwe und meinen Waisen Gutes gethan habt! – Eine Wittwe und Waisen haben – und eine so geliebte Wittwe – so unschuldige liebe Waisen – noch bei seinen Lebzeiten haben; und nicht mehr auf wiegenden Knien hören, das süße Papagestammel:

Ουδε τι μεν παιδες ποτε γουνασι παππαζουσιν. Weltrichter, hast du im Kelche der Leiden noch einen bitterern Tropfen als diesen? – ach diesen, den du mir armen, unsteten Pilger, zu schlürfen gabst? –

1

Dieser, durch mehrere, an inn'rer Kraft mit den Werken eines Weissens und Kampens wetteifernden Erziehungsschriften sehr geschäzte Gelehrte, starb als Archidiakonus daselbst, im 59 Jahre seines rastlosen Lebens; mir vier Monate nach meinem Vater.

D.H.

2

Man erlaube mir hier die Stelle, womit sich der 1776te Jahrgang der Chronik eröffnet:

»Münster! ehrwürdiges Denkmal deutscher Große, sei mir gegrüßt in deiner Majestät! du trägst heilige Spuren deutscher Kraft, und deutschen Geistes. Nie geh ich an dir vorüber, ohne vor Ehrfurcht aufzuschauern; dann fließen den kühnen Bauleuten, die dich himmelan thürmten, Thränen des Danks und der entzükten Bewundrung. Wie fürchterlich ehrwürdig strekst du dein schwarzgraues Haupt in die Wolken; – und wie leuchtet deine Zinne in der Winternacht, wenn dich der Mond vergüldet, und der Polarstern über dir flammt! – Muß hinauf, hinauf auf deine Höhen, und mein Herz lüften auf deinem erhabenen Kranze. – Das sind ia die steinernen Hüften, die seit Jahrhunderten den Sturmwinden trozten; und dieß die Brust, von der selbst Gottes Gewitter nur Schiefer absplittern konnten. Wohl mir! diese Schnekentreppe bringt mich immer näher zur Heitre des Himmels empor. – Da steh ich – Gott, wie ist mir? wie so ganz anders, als wenn ich im Staube kröche. Hoch über mir dein Himmel, und unter mir deine Welt. Darf ich hinaufschau'n zum höhern Ozeane, der über mir blauwoogig dahinfließt? O der Wonne! – Muß ausruhen, und auf meinen Brüdern, den Menschen, verweilen, die dort unter mir wandeln, und durchs Leben kriechen, hinken, gehen, taumeln, fliegen. – Dort unten liegen ia ihre Hütten, mit Schnee wie mit Wolle bedekt; meist umstürmt von des Lebens Sorgen, und selten besucht vom leisen Tritt der Ruhe.

Seid mir gegrüßt', meine Brüder, mit dem ersten Strahl des erwachenden Jahres! Edle und Unedle, Weise und Thoren, Reiche und Arme, Tugendhafte und Sünder, Nahe und Ferne, Freunde und Feinde – seid mir alle gegrüßt! Mit euren Wünschen, Sorgen, Kämpfen; mit euren Arbeiten, euren Tugenden – selbst mit euren Fehlern seid mir gegrüßt! Noch wölbt sich diese blaue Deke über euch hin; noch träuft aus sanften Gewölken wie aus Schläuchen, Seegen auf euch, noch kreist das Jahr mit fröhlichen Monden und tanzenden Stunden harmonisch um euch: Sollt' ich euch nicht auch lieben, ihr Lieblinge Gottes? nicht für euch zum benachbarten Himmel hinauf betem.«

»Schau hinab, o Gott, auf deine Erde,

Sieh der Menschen ängstliches Gewühl.

Ach, da gibts, du weist's ia viel Beschwerde

Und des Stofs zu Thränen gibt es viel.«

»Christen gibt es – die sich's scheu'n zu sagen,

Daß sie Christus, daß sie Gottes sind;

Weise gibt es, die die Thoren tragen,

Und mit ihren Seufzern spielt der Wind;«

»Tugendhafte – die den Strom der Laster

Fürchterlich vorüberziehen seh'n –

Auf dem Strome seegelt ein verhaßter

Wüterich, taub zu der Menschheit Flehn:«

»Greise – die mit dünnen weißen Haaren,

Mit des Fluches schreklichem Gewicht

Ach hinunter in die Grube fahren,

Denn ihr Enkel ist ein Bösewicht!«

»Unschuld – die am Todeshügel iammert,

Wo der Vater, wo die Mutter ruht;

Wie sie da das Todtenkreuz umklammert!

Wie sie ächzt: ach rettet euer Blut!«

»Denn sie scheucht der Böswicht, der zum Raube

Im Gebeinhaus tükisch sich verbirgt;

Wie der Geier, der die fromme Taube,

Selbst auf Tempelzinnen niederwürgt;«

»Patrioten – die am Eichenstamme

Mit gesenktem trübem Blike stehn;

Ach sie seh'n mit unterdrükter Flamme

Deutsche Sitt' und Freiheit untergehn;«

»Jünglinge – beim dumpfen Trau'rgeläute

Langsamschreitend zu der schwarzen Gruft, –

Um die schönste, edelste der Bräute

Jammert ihre Klage in die Luft.«

»Vater, alle diese Menschen unten

Müssen sterben – deine Engel nicht!

Sterben – ach mit heissen offnen Wunden

Zittern vor Verwesung und Gericht!«

»Schöpfer, Vater, ach erbarm' dich ihrer,

Sieh dieß Wimmeln deiner Kinder an;

Alle brauchen Hülfe; sei ihr Führer

Auf des Lebens dornenvoller Bahn!«

»Sieh, auf dieses Thurmes luftgen Höhen

Bitt' ich dich mit hochgehob'ner Hand:

Wie die Eiche tiefgewurzelt stehen

Laß mein Vaterland, mein Vaterland.«

»Unsern Kaiser, laß die Fürsten leben

Dir nachahmend – ohne blutgen Zwist.

Aber laß sie vor dem Donner beben:

Daß du Richter aller Fürsten bist.«

»Reiß dem Heuchler, in der Wahrheit Lichte

Seine schwarze Larve vom Gesicht.

Aber ist die Larve vom Gesichte,

So beschäme – nur verdamm' ihn nicht!«

»Wenn der Wald, wenn Felsen wiederschallen

Frevler, deinen Greu'l und deinen Spott;

O so tönen dieses Tempels Hallen:«

»Eine veste Burg ist unser Gott.«

»Gib uns Dichter, die von Tugend glühen:

Die, wie Klopstok, von der Ewigkeit.

Kühn den Lichtgewebten Vorhang ziehen

– Und von deutscher Biederherzigkeit.«

»Dient das rasche Feuer kühner Jugend,

Dient die Himmelsflamme – das Genie

Nicht der Wahrheit, nicht der Schönheit, Tugend:

So verlösch' es! so vertilge sie!«

»Stärk' den Müden, der des Lebens Plagen,

Seine Lasten duldet – friedsam still,

Donner sollen den Tirannen schlagen,

Der des Schweisses Frucht ihm rauben will!«

»Gib dem Mangel Speise, Trank und Hülle,

Gib dem Armen – ach mir bricht das Herz –

Gib dem Armen von des Reichen Fülle,

Lind're du des müden Pilgers Schmerz!«

»O dann wölbt sich ruhig einst der Hügel

Meines Grabes über mir: O Glük!

Laß ich doch, beweht von Gottes Flügel

Dich, du liebes Vaterland, zurük!«

D.H.

3

Auch dieser vielseitige, mit so manchen Geistesgaben ausgerüstete, durch mehrere seiner Schriften – die eben diesen Stempel tragen, vorzüglich durch seine eig'ne Biographie – bekannte Mann, starb im Apr. d.J.

D.H.

4

Der Geschmak der Deutschen an der Operette ist seitdem noch weit allgemeiner geworden. Noch immer aber nimmt man es mit dem Text so wenig genau, daß man dem Dichter die unverzeihlichsten Schnizer, die anstösigsten Zoten vergibt, wenn nur der Tonsezer den undankbaren Stof zu beleben – oder auch nur das Ohr der Hörer zu kizeln wußte. Mann werden wir Deutsche einen Metastasio erhalten? So sehr sich unsre Sprache gegen diese zarte weiche gelenkvolle Dichtungsart zu sträuben scheint; so laut fordert der Geschmak des Zeitalters einen solchen Mann; und so auffallend hat es Meister Bürger durch seine Sonnette bewiesen, daß die Sprache Luthers

– die wiederhallt im Felsengebirge –

doch auch der zartesten Biegsamkeit, der lieblichsten Melodie fähig sei. Schmieder in Mainz hat einige ausländische Operetten mit Gink auf unsern Boden verpflanzt. Wir haben iezt mehrere iunge Dichter, die gute Operetten schreiben könnten, wenn sie in der Nähe eines guten stehenden Theaters wären.

d.H.

5

Damals hatten die Möser, Plank, Spittler, Schiller, ihre Meisterwerke noch nicht aufgestellt.

6

»Videmur,« lauten die eigenen Worte dieses Sehers »in primis adhuc scientiarum viis hærere, et fato quodam impediri, ne beneficia Creatoris et naturæ et gratiæ thesauros solertius rimemur. Puto homines incredibilia fere præstituros, si maiorem diligentiam adhiberent. Sed oculi ipsorum fascia quasi obducti; et tempus expectandum est, donec omnia maturescant.«

7

Wer diesen Ikstadt, und den vierten Theil von Clemens XIV lieset, der wird es gewiß mit mir bedauren, daß Schubart nicht mehr in diesem Fache schrieb; – daß er überhaupt so wenig ins Große und Ganze arbeitete, und seine Thätigkeit an Zeitungen, Gelegenheitsgedichte, und hundert andere vorübergehende Dinge verschwendete.

D.H.

Quelle:
Schubart, Christian Friedrich Daniel: Schubart’s Leben und Gesinnungen. Zweiter Theil, Stuttgart 1793, S. 66-137.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Lessing, Gotthold Ephraim

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Miß Sara Sampson. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen

Die tugendhafte Sara Sampson macht die Bekanntschaft des Lebemannes Mellefont, der sie entführt und sie heiraten will. Sara gerät in schwere Gewissenskonflikte und schließlich wird sie Opfer der intriganten Marwood, der Ex-Geliebten Mellefonts. Das erste deutsche bürgerliche Trauerspiel ist bereits bei seiner Uraufführung 1755 in Frankfurt an der Oder ein großer Publikumserfolg.

78 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon