Dem blinden Flötenspieler Dülon auf die Reise

[391] Du guter Dülon klage nicht,

Daß Nacht umflort dein Angesicht;

Hast du nicht tiefes Herzgefühl?

Nicht zauberisches Flötenspiel?


Homer zog arm und blind herum;

Und dennoch sang er Ilium

Und des Odysseus Wanderschaft

Mit voller Schöpfer-Geisteskraft.[391]


Blind saß der Zeltenbarde da,

Und sah, was kaum ein Dichter sah.

Den Stürmen gleich des Ozeans,

Erscholl die Harfe Ossians.


Milton sah blind die Engelschlacht,

Das Chaos und die Höllennacht,

Und malte, ohne Augenstrahl,

Der Weiber schönes Ideal.


Und Pfeffel, ohne Sonnenschein,

Dringt in das Reich der Fabel ein;

Und seine Geißel, kühn und stark,

Trifft böse Fürsten bis aufs Mark.


Die lichtberaubte Paradieß

Schwingt ihre Saiten so gewiß,

Daß vor der Macht des Genius

Der Hörer wonneschauern muß.


Gar gut ist Gott, der uns gemacht:

Deckt er den äußern Blick mit Nacht,

So schärft er, zu der Seele Glück,

Mit hellerm Strahl den innern Blick.


Drum, guter Dülon, klage nicht,

Daß Nacht umflort dein Angesicht.

Gott gab dir tiefres Herzgefühl,

Und Zauber in dein Flötenspiel.


O Dülon, Dülon, freue dich,

Einst öffnen deine Augen sich,

Dann siehst du Gottes Herrlichkeit,

Und flötest ihm aus Dankbarkeit.

Quelle:
Christian Friedrich Daniel Schubart: Gedichte. Leipzig [o.J.], S. 391-392.
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