Der Kellergeist

[269] »Was tritt da vor mein Bett zu Nacht

Duftneblige Gestalt?

Ich bin doch wahrlich ganz erwacht,

Ist das noch Traums Gewalt?


Was drängst du dich so wüst hervor

Aus meiner öden Stirn,

Du ungefüges Träumechor,

Bleib drinne mir im Hirn!«


Doch nimmer weicht das dunkle Bild

Scheint's gleich nur Duft und Schaum,

Es winkt so hastig, blickt so wild:

O nein, das ist kein Traum!


Der Hausherr springt vom Lager auf,

Zerstoben ist's, wie Spreu?

Er wirft sich murrend wieder drauf,

Da gleich erscheint es neu.


Und wie es kommt zum drittenmal,

Wirft er sich in sein Kleid,

Er stellt sich mitten in den Saal

Zu Schutz und Trutz bereit.


Auf Kettenklirren, Geisterschritt

Spitzt er sein horchend Ohr,

Doch aus der tiefen Stille tritt

Nur sachtes Pochen vor.


Mit wunderlicher Gegenwart

Treibt's ihn durch Saal und Flur,

Es tönt so leis, es tönt so zart,

Wer kommt ihm auf die Spur?


Im Hause wird nun Alles wach,

Und Alles hört den Laut;

Sie gehn dem stillen Geiste nach,

So arg es ihnen graut.
[270]

Zur Treppe führet sie der Lauf,

Und drunten sind sie schon,

Da steiget von dem Keller auf

Vernehmlich ganz der Ton.


»Die Weine sind mir gar zu lieb,

Es soll mir keiner dran,

Geist oder Teufel sei der Dieb,

Ich will ihn dennoch fahn!«


Und mit der Leuchte durch das Thor

Tritt keck der Hausherr ein,

Da stellt sich laut bei seinem Ohr

Das Musiciren ein.


Das war das allergrößte Faß –

Da stand der Geist? o nein!

Nur war der Boden kühl und naß,

Nur plätschernd rann der Wein.


Ein schlimmer Wächter war der Hahn,

Ganz offen stand er gar,

Und wie's zu Boden tropfend rann,

Da tönt' es warnend klar.


»Dem guten Kellergeist sei Dank,

Den ich am Bett gewahrt,

Er hat den allerbesten Trank

Mir gnädiglich bewahrt!«


Wohl manchem sitzt er in dem Kopf,

Den warnt er nimmermehr,

Er quält mit Durst den armen Tropf

Bis seine Fässer leer.


Doch wen er lieb hat, tränkt er gern,

Und hält doch sichre Wacht,

So that er noch an unserm Herrn

Dies Wunder jüngst zu Nacht.


Und der besungen diesen Spaß,

Der kennt den Geist gar wohl,

Hätt' er nur erst ein eigen Faß,

So füllte der's ihm voll. –

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 269-271.
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