Die Thurbrücke bei Bischofszell

[367] Wer hat diesen steinernen Bogen

Ueber die wilde Thur gezogen?

Daß der Wandrer die Straße lobet,

Daß das Wasser vergeblich tobet?


War's ein mächtiger Fürst im Lande,

Der den Strom gelegt in Bande?

War's ein Führer in Kriegestagen,

Der die Brücke dem Heer geschlagen?


Oder richtet' für Mann und Rosse

Sie der Ritter vom hohen Schlosse,

Und indeß sein Haus zerfallen,

Ist sein Pfad noch immer zu wallen?


Nein, die Brücke, die ihr schauet,

Manneswort hat sie nicht erbauet;

Auf ein Wort aus des Weibes Munde

Stieg sie über dem Felsengrunde.


Die dort auf der Burg gehauset

Hörte wie die Woge brauset,

Sah den Fluß von Waldesquellen

Und vom Gusse des Regens schwellen.


Und den Nachen am steinigen Lande,

Der vom Strande führt zum Strande,

Sah sie drüben sich drehn und wiegen:

Wehe, wenn Einer hineingestiegen.
[367]

Ehe gedacht sie den Gedanken,

Sieht sie ihn mit zwei Wandrern schwanken,

Die sie schauet, es sind in Schöne

Ihre jungen, einzigen Söhne.


Von dem Waidwerk heimgekehret,

Finden sie den Strom empöret,

Haben doch, die rüstigen Jungen,

Kecklich in den Kahn sich geschwungen.


Doch es lassen sich die Wellen

Nicht wie Thiere des Waldes fällen,

Und nicht half der Mutter Klagen,

Als sie den Kahn sah umgeschlagen.


Wie sie nun in langem Harme

Breitet' ihre beiden Arme

Bei den Wellen, den schaumesbleichen,

Ueber ihrer Kinder Leichen,


Mußte sie der Mütter gedenken,

Die noch können schau'n versenken

In den schnell empörten Wogen

Söhne, die sie sich erzogen.


Und es werden im Mutterherzen

Leichter ihr die bittern Schmerzen,

Wenn sie Andern kann ersparen

Solches Leid, wie sie's erfahren.


Und noch ehe sie ausgetrauert,

Ward gemeißelt und gemauert,

Ward der Strom in's Bett gezwänget

Und die hohe Brücke gesprenget.


Sah sie dann oft fröhliche Knaben

Ueber den Pfad von Steine traben,

Und die schäumenden Wasser höhnen,

Die in felsiger Tiefe tönen;


Und mit leichtem Tritte wallen

Mütter hinter den Kindern allen,

Sieh, da flossen ihre Thränen

Mild von Freude, mild von Sehnen.
[368]

Und ihr Werk, das fromme, dauert

Aber sie hat ausgetrauert,

Höret die Wasser nicht mehr toben,

Ist bei den jungen Söhnen droben.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 367-369.
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