10. Wie Herodes die Kindlein in Bethlehem ermorden ließ

[399] Zu Bethlehem am selben Tage,

Da Joseph mit dem Kind geflohen,

Erhebet sich Geheul und Klage,

Da jammern Frauen, Würger drohen

Und gehn, wie Tiger in der Wüsten

Auf Raub mit mörderischem Mute;

Da mischet an der Mutter Brüsten

Die Milch sich mit des Säuglings Blute.


Das kleinste Kind wird nicht verschonet,

Muß, eh' es lächeln kann, verderben,

Und, dem schon Lust im Auge wohnet,

Nicht Gnade kann sein Blick erwerben.

Dort ruft mit halbgelöster Zunge

Ein anderes dem Vater lallend;

Da kommt ein Schwert mit raschem Schwunge

Ihm in sein stammelnd Bitten fallend.


Und nieder schaut von dem Gebirge

Auf die mit Blut getränkten Matten,

In das Geschrei, in das Gewürge,

Der Stammfrau jammervoller Schatten.

Eins um das Andre sieht sie fassen,

Sie weint, sie ruft, sie kann's nicht hindern,

Rahel will sich nicht trösten lassen,

Denn es ist aus mit ihren Kindern.


Doch des Herodes Henkersknechte,

So sicher sie auch spähn und schlagen,

Sie treffen nimmermehr das rechte:

Das wandert sänftiglich getragen. –

In seinen Traum am Mutterherzen

Verirrt sich nicht der Mörder Toben;

Es ist ein Kind, zu andern Schmerzen

Und andrem Sterben aufgehoben.
[399]

Ein Mann, wird er das Land durchwandeln,

Und Zeichen thun und göttlich lehren,

Mit seinem Wort, mit seinem Handeln

Zum Himmelreiche viel bekehren,

Zu einem Reich, vor dem kein König

Den Thron mit Morde braucht zu wahren,

Zu einem Reich, dem unterthänig

Nur Seelen sind und Engelscharen.


Er aber, dieses Reiches Gründer,

Er wandelt nicht den Weg zum Throne,

Er geht den Weg verdammter Sünder,

Von Dornen trägt er eine Krone.

Er wird am Kreuz den Fluch der Erde,

Die Welt erlösend, göttlich büßen;

Den Geist durchbohrt von einem Schwerte

Steht seine Mutter ihm zu Füßen.

Quelle:
Gustav Schwab: Gedichte. Leipzig [um 1880], S. 399-400.
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