Zweite Szene

[963] In Timons Hause.


Flavius tritt auf und mehrere Diener Timons.


ERSTER DIENER.

Sprecht, Hausverwalter, wo ist unser Herr?

Sind wir vernichtet? abgedankt? Bleibt nichts?

FLAVIUS.

Gefährten, ach, was soll ich euch doch sagen?

Es sei'n mir Zeugen die gerechten Götter,

Ich bin so arm wie ihr.

ERSTER DIENER.

Solch Haus gefallen!

Solch edler Herr verarmt! Verloren alles!

Kein Freund, der bei der Hand sein Schicksal faßt

Und mit ihm geht!

ZWEITER DIENER.

Wie wir den Rücken wenden

Von dem Gefährten, den das Grab verschlang:

So schleichen vom begrabnen Glück sich alle

Die Freund', hinwerfend ihm die hohlen Schwüre,

Gleich leeren Beuteln; und sein armes Selbst,

Ein Bettler nur, der Luft anheim gefallen,

Mit seiner Krankheit, allvermiedner Armut,

Geht nun, wie Schmach, allein. – Noch mehr Gefährten!


Es kommen noch andere Diener.[963]


FLAVIUS.

Zerbrochenes Geschirr der Hauszerstörung!

DRITTER DIENER.

Und doch trägt unser Herz noch Timons Kleid,

Das zeigt eu'r Antlitz; wir sind noch Kam'raden,

All' in des Kummers Dienst: leck ist das Fahrzeug;

Wir Schiffer stehn auf sinkendem Verdeck

Und sehn die Wellen dräun: wir müssen scheiden

In diese See der Luft.

FLAVIUS.

Ihr guten Freunde,

Hier teil' ich unter euch mein letztes Gut.

Laßt uns, wo wir uns sehn, um Timons willen,

Kam'raden sein, die Häupter schütteln, sagen,

Als Grabgeläut' dem Glücke unsers Herrn:

»Wir kannten beßre Tage.« Jeder etwas!


Er gibt ihnen Geld.


Nein, alle reicht die Hand! Und nun kein Wort!

So gehn wir arm, doch reich an Kummer, fort.


Die Diener gehn ab.


Oh, furchtbar Elend, das uns Pracht bereitet!

Oh, wer will wohl nach Glanz und Reichtum ringen,

Wenn sie uns hin zu Schmach und Armut zwingen?

Wer nähme so die Pracht als Hohn? Wer lebte

Wohl gern in einem Traum der Freundschaft nur?

Ansehn und Pracht und Wohlstand zu besitzen,

Gemalt nur, so wie die geschminkten Freunde?

Du Redlicher, verarmt durch Herzensgüte,

Durch Mild' erwürgt! Wie ist Natur verdreht,

Wenn Allzugut als schlimmste Sünde steht;

Wer hilft durch Tugenden noch anderer Nöten,

Wenn sie nur Götter schaffen, Menschen töten?

O teurer Herr, – gesegnet, um verflucht,

Reich, elend nur zu sein, – dein groß Vermögen

Ist nun dein tiefstes Leid. Ach, güt'ger Herr!

Er brach in Wut aus dem hartherz'gen Wohnsitz

Der vieh'schen Freunde. Nichts hat er bei sich

Zur Fristung und Erleicht'rung seines Lebens.

Ich will ihm nach und, wo er ist, erforschen;[964]

So gut ich kann, will ich für ihn noch schalten,

Was mir an Geld verblieb, für ihn verwalten.


Er geht ab.


Quelle:
William Shakespeare: Sämtliche Werke in vier Bänden. Band 4, Berlin: Aufbau, 1975, S. 963-965.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Timon von Athen
Timon von Athen (Theatralische Werke in 21 Einzelbänden, Bd.7)
König Lear /Macbeth /Timon von Athen
Timon of Athens / Timon von Athen: Englisch-deutsche Studienausgabe (Engl. / Dt.) Englischer Originaltext und deutsche Prosaübersetzung
Timon von Athen

Buchempfehlung

Kleist, Heinrich von

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Die Hermannsschlacht. Ein Drama

Nach der Niederlage gegen Frankreich rückt Kleist seine 1808 entstandene Bearbeitung des Hermann-Mythos in den Zusammenhang der damals aktuellen politischen Lage. Seine Version der Varusschlacht, die durchaus als Aufforderung zum Widerstand gegen Frankreich verstanden werden konnte, erschien erst 1821, 10 Jahre nach Kleists Tod.

112 Seiten, 5.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantische Geschichten III. Sieben Erzählungen

Romantik! Das ist auch – aber eben nicht nur – eine Epoche. Wenn wir heute etwas romantisch finden oder nennen, schwingt darin die Sehnsucht und die Leidenschaft der jungen Autoren, die seit dem Ausklang des 18. Jahrhundert ihre Gefühlswelt gegen die von der Aufklärung geforderte Vernunft verteidigt haben. So sind vor 200 Jahren wundervolle Erzählungen entstanden. Sie handeln von der Suche nach einer verlorengegangenen Welt des Wunderbaren, sind melancholisch oder mythisch oder märchenhaft, jedenfalls aber romantisch - damals wie heute. Nach den erfolgreichen beiden ersten Bänden hat Michael Holzinger sieben weitere Meistererzählungen der Romantik zu einen dritten Band zusammengefasst.

456 Seiten, 16.80 Euro

Ansehen bei Amazon