Lob der Sinne

[73] Mögen andere nach Zeno's Hallen,

Mit Diogenes verkehrtem Sinn

Im Gefühle ihrer Grösse wallen,

Meine Göttheit winkt mir nicht dahin!

Ihre Stirne ist bekränzt mit Rosen,

Ihre Stimme tönt wie Silberschlag,

Sie umflattern leichte frohe Scherze,

Und die Freude folgt ihr jubelnd nach!


Eure Lust, ihr Sinne! eure Freuden

Mögen immer finst're Seelen scheun;

Ihren höhern Flug will ich nicht neiden,

Will mich eurer reinen Wonnen freu'n!

Schöner dünken mir dann Lunens Stralen,

Wenn sie freundlich durch die Wolken bricht,

Klarer rieselt mir die Silberquelle

Zwischen Veilchen und Vergissmeinnicht;


Rührender für mich singt Philomele

Vom belaubten Zweig ihr Abendlied,

Höh're Wonne hebet meine Seele,

Wenn die Sonne früh in Osten glüht;

Schöner lacht für mich die ganze Erde,

Fröhlicher fühl' ich des Lenzes Wehn,

Süssern Nektar reifet mir die Traube

An des Rheines goldnen Rebenhöh'n;
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Hoch empor hebt mich zu reinen Freuden

Meiner Harfe goldnes Saitenspiel,

Süsse Thränen sanfter Rührung gleiten

Von den Wangen – malen mein Gefühl;

Singt mir Lina vor mit Zaubertönen,

Und mit einem Blick, der Wahrheit spricht,

Von der Liebe namenlosen Wonnen, –

Diesen Himmel fasst die Erde nicht!

Quelle:
Elise Sommer: Gedichte, Frankfurt a.M. 1813, S. 73-75.
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